Schweitzer Fachinformationen
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Aus den Tagebüchern der Jahre 1950-51
Heute führte uns Bedri aus. Er nahm Meral und mich zu Lambos kleiner Kneipe am alten Fischmarkt mit, wo sich Dichter, Maler und Journalisten treffen. Ganz nett hier. Bedri wollte mit uns darauf anstoßen, dass eines seiner Gedichte in der Literaturzeitschrift Varlık erschienen ist. Wir tranken Wein. Natürlich erzählen wir zu Hause nichts davon. Wenn das rauskommt, gibts einen Riesenkrach.
Die Nerven meiner Mutter liegen wieder mal blank: Sie haben meinen Vater entlassen. Jetzt zieht sie über ihn her: »Mit den mächtigen Schiffseignern legt er sich an, als ob wir's nicht mehr nötig hätten und es uns leisten könnten, in irgendeine Villa auf den Prinzeninseln zu ziehen. Was verstehst du denn von Recht und Gerechtigkeit, soll er doch mal seinen Mund halten und Ruhe geben.« Ich gab zurück: »Aber Mama, was soll er denn machen, soll er sich etwa alles von diesen Kapitalisten gefallen lassen, bloß weil sie reich sind?« Sie fuhr mich an: »Misch dich da nicht ein, ihr habt doch beide Fürze im Hirn, dein Vater und du.« Wenn mein Vater das hörte, würde er ihr aber gehörig den Kopf waschen, na wenn schon!
Meral und ich schwänzten die letzte Vorlesung und gingen zu Lambo. Wir lernten einen Dichter und einen Schriftsteller kennen. Sympathische Typen. Einem von ihnen wollte ich meine Gedichte vorlesen, aber ich genierte mich. Meral fragte, warum ich sie denn nicht Bedri zeige. Sie weiß nicht, dass mir ihr Bruder schon seit längerem nachsteigt. Ich mag den Kerl nicht.
Heute sagte ich zu Monsieur Lambo, dass ich meine Gedichte gerne jemandem zum Lesen geben würde; er stellte mich sofort einem Mann vor, der an der Theke etwas trank. Ich wusste nicht, dass es O. war. Mir schlug das Herz bis zum Hals, ich log, ich hätte die Gedichte nicht dabei. Für morgen haben wir uns im Çardas am Tünel verabredet, dann will er sie lesen - wenn ich bis dahin nicht vor Aufregung gestorben bin.
Das Çardas ist ein langer, stockdunkler Schlauch, unheimlich ist diese Dunkelheit. Daher sah ich O. nicht gleich. Aber irgendwo weiter hinten erhob sich eine helle Gestalt und winkte mir zu. Wir setzten uns einander gegenüber und unterhielten uns steif und verlegen. Er wirkte gelangweilt, oder war er schüchtern? Jedenfalls steckte er mich an.
Tausendmal bereute ich, dass ich überhaupt gekommen war. Plötzlich forderte er mich auf: »Schieß los, Puppe, zeig her, was du zu bieten hast!« Der fiel ja gleich mit der Tür ins Haus. Ich wurde noch verlegener. Zaghaft las ich eines meiner schönsten Gedichte vor, das so endete: »Wer zwingt uns im Untergrund zu leben, der Himmel strahlend blau / unsere Gesichter leichenblass, Genossen.« »Bist du Arbeiterin?«, fragte er ernst. Oder verspottete er mich etwa nur? Ich wusste es nicht. »Nein, ich nicht, aber meine Verwandten.« Er schwieg. Dann las ich das Sonett der gefallenen Mädchen. »Werden unsere Mädchen immer nur weinen und nie in den Krieg ziehen dürfen?« Er kratzte sich an der Nase und fragte: »Willst du denn in den Krieg ziehen?« Ich erklärte ihm, der Begriff »Krieg« sei hier nicht so eng auszulegen: »Dieses Gedicht beschreibt, wie aus Frauen, die man nicht kämpfen lässt, ein Heer von >gefallenen Frauen< wird.« Schon merkwürdig, dass er das nicht verstanden hat. Zum Schluss las ich das Gedicht Blut. Ich hatte es verfasst, als ich zum ersten Mal meine Tage bekam und in Panik ausbrach.
Ach, ist das die Ferse des erhabenen Achill,
verwundet in meinem Bett?
Oder die Verletzung, die sich dort auftut,
wo die Adler himmelwärts steigen?
Unaufhörlich fließt das Blut
vom Schmerz, der in die Eingeweide dringt,
er erstickt die Augen, die Gelenke, das Meer,
erstickt das Meer, das in Ketten liegt,
erstickt es unaufhörlich.
»Welches Blut denn? Das kapier ich nicht«, fragte er stirnrunzelnd. Ich hatte das Gedicht absichtlich so abstrakt gehalten, damit nicht gleich alles so offensichtlich ist. Natürlich konnte ich ihm nicht sagen, was wirklich dahinter steckte. »Damit meine ich die Angst vor dem Krieg«, erklärte ich. »Das hast du ja schon ganz gut hinbekommen, gar nicht mal so schlecht, aber du bist noch zu jung für eine gute Dichterin. Lass sie nochmal ein paar Monate liegen, dann nimm sie dir wieder vor. Morgen bring ich dir Bücher zu Lambo, schau da mal rein.«
Er machte einen auf höflich, aber es war klar, dass ihm die Gedichte nicht gefielen. Wer weiß, womöglich machte er sich insgeheim darüber lustig? Trotzdem ermunterte er mich: »Schreib, schreib, schreib immer weiter, wirf die Gedichte erst mal in eine Ecke, aber gib nicht auf.« Die Gedichte, mein einziger Zufluchtsort und Trost, machte er einfach so zunichte, mein Leben ist sinnlos geworden, wozu dann noch weiterleben?
Ich schaute bei Lambo vorbei, holte die Bücher ab. Er selbst war nicht da. Oh nein! Diese Bücher hab ich alle schon gelesen. Nichts und niemand kann mir mehr helfen. Ich bin so unglücklich.
Mein Vater hat wieder Arbeit.
Ich war heut' mit Meral in Lambos Lokal,
da trafen wir diesen Abend zum ersten Mal
einen Baumeister, einen Poeten und 'nen Komödiant',
dann auch 'nen Autor und 'nen Zeitungsmann - ziemlich unbekannt.
Erstere frisch entlassen aus der Haft,
Letztere bisher noch nicht vorbestraft.
Der Dichter Halit und der Architekt Necat brachen mit uns zusammen auf und begleiteten uns bis zur Haltestelle. Die beiden sind recht aufgeschlossen. Morgen werden wir uns mit ihnen im Degustasyon treffen. Meral himmelt Necat an. Mir gefällt Halit nicht schlecht, wenn ich ehrlich bin. In einer Woche geht er in sein Dorf in die Verbannung.
Meral und Necat besuchten heute eine Ausstellung, also waren Halit und ich ganz allein im Degustasyon. Auf einmal überkam mich eine merkwürdige Angst, doch Halit vertrieb sie durch seine Worte bald. Er ist ein anständiger Kerl. Ich kam ein bisschen zu spät nach Hause, aber meine Mutter kriegte es gar nicht mit.
Mutter hat mal wieder geheult. Tante Hamdiye war hier und soll gesagt haben: »Die anderen reden über dich: Diese Angeheiratete hat Hasan völlig an der Kandare, aber einen Sohn und Stammhalter hat sie ihm noch nicht geschenkt.«
Ich hab mich wieder mit Halit getroffen, dieses Mal im Çardas. Er erzählte von den Folterungen während seiner Haft. Die tat er so spöttisch ab, als ob sie ein anderer erlitten hätte; selbst über die schrecklichsten Vorfälle redet er so. Irgendwie schon ein sonderbarer Kerl. Als er davon sprach, wie sie ihn zur Bastonade schleppten, da platzte er fast vor Lachen. Wie sie ihm der Reihe nach Fußtritte verpassten und auch er nach ihnen trat, wie er einem ins Gesicht spuckte und ihm darauf der Polizist, der die Spucke abbekommen hatte, die Hoden zusammenquetschte. Mir standen die Haare zu Berge. Er aber lachte nur. Das alles sei ja nicht die Schuld der Polizei, Polizisten würden eben so abgerichtet, sie erfüllten nur ihre Dienstpflicht. Welch ein Kunststück, Ungerechtigkeiten nicht mit Rachegelüsten zu begegnen!
Heute kam Halit zur Uni, wir gingen zusammen zu Lambo. Die Tür öffnete sich einen Spalt, O. wollte hereinkommen, doch kaum hat er uns gesehen, war er auch schon grußlos verschwunden. Komischer Kauz.
Der letzte Tag. Halit und ich trafen uns im Degustasyon. Ich weiß nicht warum, aber auf einmal habe ich mich ihm völlig anvertraut. Ich erzählte und erzählte, erzählte bis mir schwindlig wurde. Es war, wie wenn Meral und ich uns über unseren geheimsten Kummer ausheulten; ich erzählte ihm von der Gewaltherrschaft meiner Mutter, von unseren Streitereien, meiner Unfreiheit, den religiösen Zwängen, meinem Schmerz und dass ich sogar schon mal daran gedacht habe, mich umzubringen, falls ich nicht endlich so frei leben könnte, wie es mir gefällt. Dass ich vielleicht auch von zu Hause abhauen würde, dass mich niemand versteht, dass Meral meine einzige Freundin ist und dass ich es ohne Gedichte zu schreiben nicht mehr aushalte. Und je mehr ich erzählte, desto unglücklicher fühlte ich mich, viel unglücklicher, als ich eigentlich war. Ich fing an zu weinen. Er wischte meine Tränen mit einem Taschentuch fort, als wäre ich ein Kind. Damit brachte er mich völlig aus der Fassung, und da - widerlich - nahm ich diese Hände, die meine Tränen getrocknet hatten, und küsste sie. Seine Finger stanken nach Tabak. Ich bin über mich selbst entsetzt, wie konnte ich nur? Vermutlich habe ich die Schmerzen, die man ihm zugefügt hat, mit meinen Qualen durcheinander gebracht. Oder ich glaubte, er hätte sie meinetwegen erlitten und ich müsste jetzt wieder etwas gutmachen.
Ungerührt wartete er, bis ich mich wieder beruhigt hatte, dann sagte er, die Politik sei verantwortlich für das Leid auf der Welt und in der Türkei. Ich konnte das zwar irgendwie nachvollziehen, aber ehrlich gesagt, wundere ich mich am meisten darüber, wie er in einem zärtlichen Moment wie diesem so messerscharf denken kann. Außerdem, etwas zu verstehen oder zu...
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