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Wie umgehen mit einer Geschichte, die von Phasen exzessiven Terrors geprägt war? Kann es eine Aufarbeitung der Vergangenheit geben, wenn als einzige Institution der Geheimdienst den Zusammenbruch der Sowjetunion überdauert hat?
Nikolai Epplée umreißt in seinem fesselnden Buch die Unterdrückungsmethoden der Sowjetherrschaft von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod und die anschließenden Versuche, ihre Opfer zu rehabilitieren. Eine »Versöhnung« von oben spricht die Bürger von Schuld und Verantwortung frei, während Initiativen von unten, wie die im Dezember 2021 verbotene Menschenrechtsgesellschaft Memorial, Millionen von Toten ihre Namen zurückgeben. Vergleichend blickt er auf Länder wie Argentinien, Deutschland, Japan, Polen, Spanien und Südafrika. Ob Schlussstrich, juristische Aufarbeitung oder Wahrheitskommissionen - was lässt sich daraus lernen?
Es ehrt mich sehr, dass dieses Buch in der Sprache erscheint, in der die maßgeblichen Kategorien für den weltweiten Diskurs über die Vergangenheitsbearbeitung formuliert worden sind. Dass Deutschland es vermocht hat, aus der eigenen kriminellen Vergangenheit Konsequenzen zu ziehen und sich dadurch neu zu konstituieren, ist für mich als Bürger Russlands und Angehörigen der russischen Kultur die Quelle einer fast schon überirdischen Hoffnung.
Die erste russische Auflage des Buchs ist im August 2020 erschienen; die deutsche Übersetzung kommt im Frühjahr 2023 heraus. Für ein Buch, das sich mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen befasst, sind zweieinhalb Jahre ein langer Zeitraum. Es läuft Gefahr, zu veralten und an Relevanz zu verlieren - und das umso mehr, wenn sich in dieser Zeit eine solche gesellschaftliche und politische Katastrophe ereignet wie der großangelegte bewaffnete Überfall Russlands auf einen Nachbarstaat. Trotzdem scheint mir - auch wenn es für den Autor immer schwer ist, das eigene Werk ganz objektiv zu beurteilen -, dass dieses Buch heute nicht obsolet ist, sondern im Gegenteil noch an Aktualität gewonnen hat.
Im Frühjahr 2022, nach der großflächigen Ausweitung des Kriegs gegen die Ukraine, wurde Die unbequeme Vergangenheit in Russland zum Bestseller, neben Büchern von George Orwell und Hannah Arendt. Ein Videointerview dazu wurde auf YouTube innerhalb eines Monats über 1,5 Millionen Mal aufgerufen.[1] Das liegt weniger an dem Buch selbst, das sich mit den Werken der genannten Autoren schwerlich messen kann, als daran, dass es im Jahr 2022 in Russland nicht viele Bücher gab, die dem neu entfachten Bedürfnis, über die Verantwortung von Bürgern und Gesellschaft für die Verbrechen des eigenen Staates zu sprechen, halbwegs gerecht werden konnten. Die Auseinandersetzung mit der Verantwortung für die Staatsverbrechen in den Jahren des sowjetischen Terrors gab den geeigneten Rahmen vor, um zu verstehen, was heute mit unserem Land und mit uns selbst vor sich geht.
Ich habe mich in den vergangenen Monaten immer wieder gefragt, ob ich in Anbetracht des Krieges und der seither eingetretenen Ereignisse etwas an dem Buch ändern würde - es liegt ja recht nahe, anzunehmen, dass dadurch eine ziemlich gründliche Überarbeitung erforderlich wird. Und das umso mehr, als meine durchaus optimistischen Betrachtungen über den Zustand der russischen Zivilgesellschaft und die These, Russland stehe kurz vor einem Erinnerungsdurchbruch, heute auf den ersten Blick zumindest korrekturbedürftig sind. Zudem scheint die Beschäftigung mit den Opfern, die der Stalinismus vor fast einem Jahrhundert forderte, angesichts der Hunderttausende neuer Opfer, die gerade jetzt Schreckliches durchmachen müssen, allenfalls von antiquarischem Interesse zu sein. Doch je eindringlicher ich mir diese Frage stellte, desto deutlicher wurde mir, dass das Buch keiner grundlegenden Veränderung bedarf - und die Nachfrage des russischen Publikums hat mich darin zusätzlich bestärkt. Denn für jemanden, der die Erinnerungskultur und -politik Russlands erforscht, ist die Eskalation, die der Angriff Russlands auf die ganze Ukraine am 24. Februar 2022 bedeutete, nur die Fortsetzung von Tendenzen, die sich bereits in der Spätphase der 2010er Jahre abzeichneten. Und gerade die Analyse der Erinnerungspolitik, die in Russland in Bezug auf den sowjetischen Staatsterror betrieben wird, gibt wesentliche Aufschlüsse, um das Desaster zu verstehen, das sich gegenwärtig vollzieht.
Hier ist eine Einschränkung nötig. Für einen Autor aus Russland ist es derzeit sehr schwierig, sich über die Gründe für das aktuelle Geschehen zu äußern. Während diese Zeilen geschrieben werden, treffen russische Raketen und Drohnen ukrainische Städte, zerstören die Wärme- und Stromversorgung und fordern das Leben von Zivilisten. Wer das Bild erweitern und die Ereignisse kontextualisieren will, muss sie letztlich auf irgendeine Weise geschichtlich einordnen, und dies könnte als Versuch aufgefasst werden, sich von der Verantwortung loszusprechen und die gegenwärtigen Verbrechen zu relativieren. Deutschen Lesern ist dieses Problem im Zusammenhang mit dem Historikerstreit der 1980er Jahre bekannt. Die Verantwortung lässt sich nicht abstreifen. Die Katastrophe des Ukrainekriegs ändert - von allem anderen abgesehen - auch die Fundamente des historischen Gedächtnisses in Russland. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Erinnerung an den Befreiungskrieg des Sowjetvolkes gegen den Nationalsozialismus ein wichtiger gemeinsamer Nenner der russischen Identität gewesen. Das macht sich auch die staatliche Propaganda zunutze, wenn sie der Bevölkerung erklärt, beim Angriff auf die Ukraine gehe es darum, diese vom »Nazismus« zu befreien. Durch den gegenwärtigen Krieg ist dieser Identität die Basis entzogen worden. Der gemeinsame Nenner wird nun unweigerlich auf lange Zeit - wenn nicht für immer, dann bis zum nächsten paradigmatischen Bruch - mit der Verantwortung für das jetzige Geschehen verbunden sein. Die Russen sind nicht länger eine Nation, die die Welt vom Nazismus befreit hat. Wir sind jetzt die Nation, die die Befreiung der Welt vom Nazismus zum Ausgangspunkt einer Entwicklung gemacht hat, an deren Ende ein Regime steht, das einen neuen Krieg in Europa entfesselt hat. Um zu verstehen, wie dies möglich wurde, müssen wir jedoch, wie es in diesem Buch nahegelegt wird, einen Schritt zurückgehen.
Was heute in der Ukraine passiert, ist eine verzögerte Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Dieser Kontext hilft, die aktuellen Geschehnisse besser zu verstehen. Der Zusammenbruch von Imperien ist immer ein äußerst schmerzhafter Prozess (im gesamten postsowjetischen Raum sind mindestens 200000 Menschen bei Konflikten umgekommen, die in den 1990er und frühen 2000er Jahren infolge des Zerfalls der UdSSR ausbrachen). Und dies gilt umso mehr, je weniger das einstige Imperium bereit ist, sein bisheriges Selbstverständnis aufzugeben.
Die Annexion der Krim und der Beginn des Kriegs in der Donbassregion wurden eben dadurch ausgelöst, dass die Ukraine nach dem Maidan Ende 2013?/??Anfang 2014 aus der imperialen oder quasi-imperialen Einflusssphäre Russlands ausschied. Die Propagandaphrasen der russischen Staatsführung, die Russland und die Ukraine als »Brudervölker« bezeichnet (wobei die Ukraine natürlich der kleinere Bruder ist) und behauptet, die Ukraine sei »kein echtes Land«, bringen das sehr anschaulich zum Ausdruck. Den jetzigen Krieg unterscheidet von früheren Konflikten im postsowjetischen Raum, dass er aus Sicht seiner ideologischen Urheber im Kreml existenziell wichtig ist, damit Russland in der Form weiterbestehen kann, in der sie es gern »einfrieren« möchten.
Mein gewisser Optimismus von 2020 hängt paradoxerweise eng mit der Wahrnehmung der Krise zusammen, die der russische Staat durchlebte. Im Buch ist viel davon die Rede, dass sich in Russland Erinnerungsdurchbrüche vorbereiten. Das beschreibt eine Situation, in der die alte Infrastruktur der Bearbeitung und des Beschweigens der Vergangenheit nicht mehr funktionierte und der Diskurs die errichteten Dämme durchbrach, weil sich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen verändert hatten. Für die russische Regierung, die sich klar für das sowjetische Modell als Fundament ihres Selbstverständnisses entschieden hatte, stellte sich damit die Überlebensfrage. Eine umfassende und schnörkellose Verurteilung des sowjetischen Terrors hätte es zwangsläufig erfordert, das Grundprinzip aufzugeben, das diesen Terror erst ermöglicht hat, nämlich die Annahme, dass die Würde und das Interesse des Staates dem Wert des menschlichen Lebens übergeordnet sind. (Unter den vielen Dingen, die in der Konfrontation zwischen den beiden Ordnungsmodellen und Weltanschauungen beim Krieg in der Ukraine deutlich zutage treten, ist die unterschiedliche Einstellung der Staatsführung gegenüber dem Leben der eigenen Bürger vielleicht am eindrücklichsten.) Ende der 2010er Jahre wurde dieses Dilemma in Russland ganz offensichtlich: Entweder würde sich auf natürlichem Weg - durch den Wechsel der Generation und des Weltbilds - ein neuer Diskurs über die Vergangenheit durchsetzen und die gesellschaftspolitische Realität von Grund auf verändern, oder die Repräsentanten des Althergebrachten würden unter Einsatz modernster Mittel versuchen,...
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