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»Kein Schriftsteller hätte sich entschlossen, die Geschichte seines Lebens zu schreiben; sie glich allzusehr einem Abenteuerroman.« Zu diesem Schluß ist Il'ja Erenburg schon im Jahre 1931 gekommen, als er Buenaventura Durruti kennenlernte; und sogleich machte er sich an die Arbeit. In ein paar Sätzen schrieb er auf, was er von Durruti zu wissen glaubte: »Dieser Metallarbeiter hatte von früher Jugend an für die Revolution gekämpft. Er war auf Barrikaden gestiegen, hatte Banken überfallen, Bomben geworfen, Richter entführt. Er war dreimal zum Tod verurteilt worden: in Spanien, in Chile und in Argentinien. Er war durch unzählige Gefängnisse gewandert und aus acht Ländern ausgewiesen worden.« Und so fort. Die Absage an den »Abenteuerroman« verrät die alte Furcht des Erzählers, man möchte ihn für einen Lügner halten, und zwar gerade dann, wenn er aufhört, etwas zu erfinden, und stattdessen von der »Wirklichkeit« spricht. Wenigstens diesmal möchte er, daß man ihm glaubt. Dabei kommt ihm der Verdacht in die Quere, den er durch seine eigene Arbeit auf sich gezogen hat: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.« Damit er Durrutis Geschichte erzählen kann, muß er sich als Erzähler verleugnen. Schließlich verbirgt seine Absage an die Fiktion auch noch das Bedauern darüber, daß er nicht mehr über Durruti zu erzählen wußte, daß von dem verbotenen Roman nichts weiter übrigblieb als ein vages Echo von Unterhaltungen in einem spanischen Café.
Doch bringt er es nicht fertig, ganz zu schweigen, unter den Tisch fallen zu lassen, was ihm zugetragen worden ist. Die Geschichten, die er gehört hat, ergreifen Besitz von ihm und machen ihn zum Nacherzähler. Aber wer hat sie ihm vorerzählt? Erenburg gibt keine Quelle an. Seine wenigen Zeilen fangen ein Stimmengewirr auf, ein gesellschaftliches Produkt. Unbekannte, Namenlose sprechen hier: ein kollektiver Mund. Das Ensemble dieser anonymen, widersprüchlichen Äußerungen aber schießt zusammen und gewinnt eine neue Qualität: aus den Geschichten wird Geschichte. So ist seit den ältesten Zeiten Historie überliefert worden: als Sage, als Epos, als kollektiver Roman.
Geschichte als Wissenschaft gibt es erst, seitdem wir auf die mündliche Tradition nicht mehr angewiesen sind, seitdem es »Dokumente« gibt: Notenwechsel, Vertragstexte, Protokolle, Aktenpublikationen. Aber niemand hat die Historie der Historiker im Kopf. Der Widerwille gegen sie ist elementar; er scheint unüberwindlich. Jeder kennt ihn aus der Schulstunde. Für die Völker ist und bleibt die Geschichte ein Bündel von Geschichten. Sie ist das, was man sich merken kann und was dazu taugt, weiter und immer weiter erzählt zu werden: eine Nacherzählung. Dabei schreckt die Überlieferung vor keiner Legende, keiner Trivialität und keinem Irrtum zurück, vorausgesetzt, es heftet sich daran eine Vorstellung von den Kämpfen der Vergangenheit. Daher die notorische Ohnmacht der Wissenschaft vor dem Bilderbogen, der Kolportage. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« - »Und sie bewegt sich doch.« Keine Forschung, die solche Sätze löschen könnte; der Beweis dafür, daß sie nie gefallen sind, käme nicht gegen sie auf. Die Pariser Kommune und der Sturm auf das Winterpalais, Danton auf der Guillotine und Trockij in Mexico: an diesen Bildern hat die kollektive Imagination mehr Anteil als jede Wissenschaft. Der Lange Marsch ist letzten Endes für uns das, was vom Langen Marsch erzählt werden wird. Die Geschichte ist eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit ihre Materialien liefert. Aber sie ist keine beliebige Erfindung. Das Interesse, das sie erweckt, gründet auf den Interessen derer, die sie erzählen; und sie erlaubt es denen, die ihr zuhören, ihre eigenen Interessen, ebenso wie die ihrer Feinde, wiederzuerkennen und genauer zu bestimmen. Der wissenschaftlichen Recherche, die sich interesselos dünkt, verdanken wir vieles; doch sie bleibt Schlemihl, eine Kunstfigur. Einen Schatten wirft erst das wahre Subjekt der Geschichte. Es wirft ihn voraus als kollektive Fiktion.
So versteht sich Durrutis Roman: nicht als faktensammelnde Biographie, geschweige denn als wissenschaftlicher Diskurs. Sein Erzählfeld reicht über das Gesicht einer Person hinaus. Es bezieht die Umgebung ein, den Austausch mit konkreten Situationen, ohne den diese Person unvorstellbar ist. Sie definiert sich durch ihren Kampf. Das macht ihre gesellschaftliche Aura aus, die sich umgekehrt all ihren Handlungen, Äußerungen und Eingriffen mitteilt. Alles, was von Durruti berichtet wird, ist in ihr eigentümliches Licht getaucht; was an seiner Aura ihm selber zuzuschreiben ist, was den Erinnerungen derer, die von ihm sprechen, seine Feinde nicht ausgeschlossen, - das läßt sich nicht mehr entscheiden. Angeben läßt sich dagegen die Methode der Nacherzählung. Sie geht von der Person aus, und ihre Schwierigkeit läßt sich folgendermaßen darstellen. Zu rekonstruieren ist die Existenz eines Mannes, der seit fünfunddreißig Jahren tot ist und dessen Hinterlassenschaft sich beschränkt auf »Unterwäsche für einen Wechsel, zwei Pistolen, ein Fernglas und eine Sonnenbrille. Das war das ganze Inventar.« Gesammelte Werke liegen nicht vor, die schriftlichen Äußerungen des Toten sind äußerst spärlich. Sein Leben ist in seinen Handlungen aufgegangen. Diese Aktion war politisch und zu großen Teilen illegal. Es handelt sich also darum, ihre Spuren aufzufinden, die eine Generation später nicht mehr ohne weiteres zutage liegen; sie sind verwischt, vergilbt, nahe daran, vergessen zu werden. Dennoch sind sie zahlreich, wenn auch verworren. Der schriftliche Strang der Überlieferung liegt in Archiven und Bibliotheken vergraben. Es gibt aber auch eine mündliche Tradition. Viele, die den Toten gekannt haben, sind noch am Leben; sie gilt es ausfindig zu machen und sie zu befragen. Das Material, das sich auf diese Weise zusammentragen läßt, ist von verwirrender Vielfalt: Form und Tonfall, Gestus und Gewicht wechseln von einem Fragment zum andern. Der Roman als Collage nimmt in sich Reportagen und Reden, Interviews und Proklamationen auf; er speist sich aus Briefen, Reisebeschreibungen, Anekdoten, Flugblättern, Polemiken, Zeitungsnotizen, Autobiographien, Plakaten und Propagandabroschüren. Die Widersprüchlichkeit der Formen kündigt aber nur die Risse an, die sich durch das Material selber ziehen. Die Rekonstruktion gleicht einem Puzzle, dessen Stücke nicht nahtlos ineinander sich fügen lassen. Gerade auf den Fugen des Bildes ist zu beharren. Vielleicht steckt in ihnen die Wahrheit, um derentwillen, ohne daß die Erzähler es wüßten, erzählt wird.
Das einfachste wäre es, sich dumm zu stellen und zu behaupten, jede Zeile dieses Buches sei ein Dokument. Aber das ist ein leeres Wort. Kaum sehen wir genauer hin, so zerrinnt uns die Autorität unter den Fingern, die das »Dokument« zu leihen scheint. Wer spricht? Zu welchem Zweck? In wessen Interesse? Was will er verbergen? Wovon will er uns überzeugen? Und wieviel weiß er überhaupt? Wieviel Jahre sind vergangen zwischen dem erzählten Augenblick und dem des Erzählens? Was hat der Erzähler vergessen? Und woher weiß er, was er sagt? Erzählt er, was er gesehen hat, oder was er glaubt gesehen zu haben? Erzählt er, was ein anderer ihm erzählt hat? Das sind Fragen, die weit führen, zu weit: denn ihre Beantwortung würde uns dazu zwingen, für jeden Zeugen hundert andere zu befragen; jeder Schritt dieser Überprüfung würde uns von der Rekonstruktion weiter entfernen und der Destruktion der Geschichte näher bringen. Am Ende hätten wir, was zu finden wir aufgebrochen sind, liquidiert. Nein, die Fragwürdigkeit der Quellen ist prinzipieller Art, und ihre Differenzen lassen sich durch Quellenkritik nicht auflösen. Noch die »Lüge« enthält ein Moment von Wahrheit, und die Wahrheit der unbezweifelbaren Tatsachen, gesetzt, sie ließe sich finden, sagt nichts mehr aus. Das Opalisieren der Überlieferung, das kollektive Flimmern rührt von der dialektischen Bewegung der Geschichte selber her. Es ist der ästhetische Ausdruck ihrer Antagonismen.
Wer sich das merkt, kann als Rekonstrukteur nicht viel verderben. Er ist weiter nichts als der letzte (oder vielmehr, wie wir sehen werden, der vorletzte) in einer langen Kette von Nacherzählern dessen, was da vielleicht so oder vielleicht anders vorgefallen und im Verlauf des Erzählens zur Geschichte geworden ist. Wie alle, die ihm vorangegangen sind, will auch er ein Interesse zum Vorschein und zur Geltung bringen. Er ist nicht unparteiisch, er greift in das Erzählte ein. Sein erster Eingriff besteht bereits darin, daß er diese und keine andere Geschichte wählt. Das Interesse, das sich in seiner Suche verrät, zielt nicht auf Vollständigkeit. Der Nacherzähler hat weggelassen, übersetzt, geschnitten und montiert und in das Ensemble der Fiktionen, die er fand, seine eigene Fiktion eingebracht, mit voller Absicht und vielleicht auch wider Willen; nur daß diese eben darin ihr Recht hat, daß sie den andern das ihre läßt. Der Rekonstrukteur verdankt seine Autorität der Unwissenheit. Er hat Durruti nie gekannt, er war nicht dabei, er weiß es nicht besser. Auch behält er nicht das letzte Wort. Denn der nächste, der diese Geschichte verwandeln wird, indem er verwirft oder zustimmt, vergißt oder behält, unter den Tisch fallen läßt oder weitererzählt, dieser nächste und vorläufig letzte ist der Leser. Auch seine Freiheit ist begrenzt; denn was er vorfindet, ist kein bloßes »Material«, absichtslos vor ihn hingekippt, in reiner Objektivität, untouched by human hands. Im Gegenteil. Alles, was hier steht, ist...
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