Schweitzer Fachinformationen
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Die See war ruhig und schwarz. Mein Vater mochte es nicht, wenn ich an Deck ging, aber die erste Morgenstunde gehörte mir. Ich sollte meditieren, stattdessen setzte ich mich auf das Dach meines Schlafquartiers in eine Mulde, schaute über die Seestatt hinaus aufs Meer und dachte über die Zukunft oder, besser gesagt, über die Wahrscheinlichkeit ihres Ausbleibens nach. Ich betrachtete die Algen, die in der Mulde wuchsen und sich an den Fugen entlang ausbreiteten. Winziges, sternförmiges Grün auf der gräulichen Oberfläche, ein unmerkliches, aber mächtiges Streben nach außen, nach oben. In der Ferne arbeitete der immer gleiche Rhythmus der Windräder, die wie starre Palmen am Horizont standen. In jeder Himmelsrichtung erhoben sie sich über dem Meer. Dazwischen unsere Siedlung, hermetische Waben, wellenförmiges Fiberglas, das einmal weiß geglänzt hatte und durch dessen schmutziges Grau sich jetzt feine Risse zogen. An manchen Stellen hatte die Reparatur größerer Sprünge helle, gummiartige Flecken hinterlassen. Die Außenbereiche, die anfangs noch begrünt worden waren, lagen verwaist, braun und grau gescheckt. Die Leinen und Netze der Algenfarmen auf der Westseite waren kaum noch zu sehen, Blaualgen wucherten direkt unter der Wasseroberfläche und formten ein monströses, ausuferndes Gebilde, einen giftigen Schatten, von dem ich nicht wusste, ob er nun mahnte, drohte oder einfach nur wartete.
Mein Vater sagte immer, die Algenfarm könne uns als Erinnerung dienen; jedes Projekt könne scheitern, das sei noch lange kein Grund zum Aufhören, im Gegenteil, ein Scheitern sei immer auch ein Neuanfang. Seit ich denken konnte, sprach mein Vater so, in großen Deklarationen, die er wie Mantras wiederholte. Als wir vor zehn Jahren hierhergezogen waren, hatte ich mein Bestes getan, mich anzupassen. Ich hatte mich bemüht, die Insel als meine Heimat zu verstehen, aber Projekte eignen sich nicht besonders gut als Zuhause. Am Anfang war wenigstens noch etwas los gewesen, die Seestatt war damals ein parametrischer Bienenstock, voll von Leuten mit Ideen, die ständig irgendetwas verbesserten, reparierten und anpassten. Die Insel kam mir vor wie ein großer Abenteuerspielplatz, die weißen Flächen unserer Behausungen glänzten in der Sonne, und wenn die Leute Fragen hatten, wusste mein Vater, was zu tun war. Ich war gerade mal sieben Jahre alt, deswegen verstand ich nicht genau, was hier eigentlich passierte. Ich wusste nur, dass mein Vater, dieser aufrechte und anständige Mann, uns noch rechtzeitig gerettet hatte, ehe das deutsche Festland im Chaos versunken war.
Sicher waren wir hier, mit unserem Intranet, unserem Wellenbrecher, der uns vor Eindringlingen schützte, und den Windfarmen, die verlässlich Strom für uns produzierten. Trotzdem waren nach und nach fast alle verschwunden. Die meisten Wissenschaftler und Programmierer waren im Laufe der Jahre weggezogen, und sogar mein Vater war inzwischen ständig auf Reisen, nach Südamerika, in die Karibik, nach Asien. Seit ein paar Jahren litt er an einer mysteriösen Krankheit und fand immer neue Heiler und Kliniken am anderen Ende der Welt, die ihm Genesung versprachen. Wenn er zurückkam, war er ein paar Wochen lang fröhlich und voller Pläne, dann verfiel er wieder in seine übliche Verdrossenheit, und schließlich schmiedete er neue Reisepläne. Bat ich ihn, mich mitzunehmen, erinnerte er mich daran, wie gefährlich das Reisen war.
Vor ein paar Tagen, an meinem siebzehnten Geburtstag, hatte ich mir aus Trotz und Langeweile Zugang zu seinem Computer verschafft. Ich hatte nicht damit gerechnet, etwas Interessantes zu finden, schon gar nicht etwas, das mit der Seestatt zu tun hatte - er hatte mir ja immer in den Ohren gelegen mit den Feinheiten des Projekts, mit seinen Möglichkeiten und Herausforderungen. Außerdem waren Transparenz und Ordnung Maximen, die sich nicht gut mit Geheimnissen vertrugen. Letztendlich war es auch gar kein Geheimnis, das ich im Dateiordner mit dem unscheinbaren Titel »Misc« gefunden hatte, lediglich tausende Seiten voll von Zeichnungen, Plänen und Konzepten. Es waren Zukunftspläne aus der Vergangenheit, die weit über das hinausgingen, was ich über die Ambitionen der Gründer wusste. Einen geschlossenen Kreislauf hatten sie schaffen wollen, von der Versorgung mit selbstgewonnenen Nahrungsmitteln bis hin zur produktiven Verwertung von Abfällen. Ihr Zeitplan hatte vorgesehen, schon nach fünf Jahren die notwendigen technologischen Fortschritte gemacht zu haben, um autark auf hoher See leben zu können, unabhängig von der jeweiligen Festlandregierung. Je mehr ich las, desto weniger wusste ich, was ich darüber denken sollte. Es machte mich wütend. Statt diesen großen Visionen zu folgen, dümpelten wir immer noch vor der Küste herum, ernährten uns durch teure Lieferungen vom Festland und warteten auf Tag X.
Den Ordner hatte ich an diesem Tag schnell geschlossen und mir die Dokumente auf eine altmodische Festplatte geladen. Seitdem lagen sie sicher versteckt in meiner Tamponschachtel, dem einzigen Ort, an dem weder mein Vater noch mein Therapeut jemals nachschauen würden. Das Putzpersonal war eigentlich dazu verpflichtet, alle ungewöhnlichen Funde zu melden, aber ich hatte schon in der Vergangenheit bemerkt, dass sich die Menschen vom Mitarbeiterschiff nicht besonders intensiv für unsere Belange interessierten. Wahrscheinlich war das nicht unklug. Als ich ungefähr elf Jahre alt war, hatte ich mich mit einem Mädchen in meinem Alter angefreundet. Anca war die Tochter einer Reinigungskraft vom Mitarbeiterschiff, ihre Mutter nahm sie öfters zur Arbeit mit und ließ sie mit mir auf Deck spielen. Obwohl wir keine Sprache gemein hatten, wurden mir die Momente zwischen Unterricht und Revision, in denen wir bäuchlings auf den Floßenden lagen und ins Wasser starrten oder Algen von den Seiten pflückten, die wichtigsten des Tages. Als mein Vater von unserer Freundschaft erfuhr, reagierte er mit kühler, wortkarger Wut. Es dauerte unerträglich lange, bis er wieder mit mir sprach. Anca und ihre Mutter sah ich nie wieder.
Nach dieser kurzen Freundschaft empfand ich meine Isolation, bis dahin eine unumstößliche, völlig selbstverständliche Tatsache meines Lebens, auf einmal als schmerzhafte Strafe. Ich fing an, meinen Vater zu fragen, warum es auf der Seestatt keine Kinder in meinem Alter, ja, außer mir überhaupt keine Kinder gab. Er antwortete ausweichend, sprach davon, wie besonders ich sei, und schenkte mir schließlich eine Europäische Sumpfschildkröte. Weil ich ihm zeigen wollte, dass ich eine echte Naturwissenschaftlerin war, nannte ich sie Emy, nach ihrem lateinischen Gattungsnamen, und redete nur heimlich mit ihr. Emy hätte mein neu erlangtes Wissen über die Pläne meines Vaters bestimmt für sich behalten, allerdings war sie vor ein paar Jahren ihrem Terrarium entkrochen und in unseren Schwebenetzen verendet. Jemand anderem von meiner Entdeckung zu erzählen, konnte ich nicht riskieren.
Die Ideen, die sich durch das Sichten der Dokumente in mir ausbreiteten, der Tatendrang, mit dem ich unsere Seestatt von Grund auf ändern wollte, die Kritik, die ich zwangsläufig an allem hätte äußern müssen, hätten meinem Vater nur als endgültige Beweise meiner überbordenden Fantasie gegolten. Seit ich denken konnte, hatte er mich vor meinen irrationalen Tendenzen gewarnt, dem Erbe meiner Mutter, die vor langer Zeit gestorben war. Meine Erinnerungen an sie waren spärlich. Ohnehin wurden sie überlagert von den wenigen Informationen, die ich mir in den letzten neun Jahren zusammengesucht hatte. Meine Mutter war eine berühmte Künstlerin gewesen; so viel wusste ich. Manche hatten sie sogar für ein Orakel gehalten. Ihr Tod, etwa ein Jahr nach unserer Ankunft hier, war mir immer noch ein Rätsel. Verschiedene Geschichten hatten zu mir gefunden, meist im Flüsterton oder in knappen, formelhaften Sätzen: Sie sei an einer rätselhaften Krankheit gestorben, sie habe sich selbst das Leben genommen, sie sei in eine politisch riskante Situation geraten. Keine dieser Versionen war besonders überraschend, das Festland war für normale Menschen schon lange nicht mehr sicher, aber ich hätte mir doch etwas mehr Eindeutigkeit gewünscht. Die einzig wiederkehrende Konstante war...
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