Schweitzer Fachinformationen
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Es war kurz vor ein Uhr mittags, als ein drahtiger Amerikaner im Nieselregen aus der U-Bahnstation in das trostlose Januarwetter hinaustrat, dem London seinen Ruf zu verdanken hat, während der Wintermonate besonders deprimierend zu sein. Der Mann sah sich auf dem Sloane Square um. Normalerweise war der Häuserblock selbst in dieser dunklen Jahreszeit hübsch anzusehen und voller shoppender Menschen. Doch an diesem Sonntag Anfang 2014 war er verlassen.
Val Broeksmit fühlte sich nicht gut. Er war übernächtigt nach einer drogenbefeuerten nächtlichen Jamsession mit seiner Band. Dann war ihm in der U-Bahn auf dem Weg nach Chelsea eine Art dunkler Energie durch Mark und Bein gefahren, als hätte ihn ein böser Geist gestreift. Er zündete sich eine Zigarette an und trottete auf den Eingang der Saatchi Gallery zu, den Kopf nach vorne gebeugt beim sinnlosen Versuch, trocken zu bleiben. Er sollte sich in der Gallery mit seinen Eltern zum Brunch treffen. Das letzte Mal hatte er sie im Dezember gesehen, bevor sie zu einem Urlaub in der Karibik und anschließend in Oman aufgebrochen waren. Val war gerade 38 geworden. Und obwohl er ein talentierter Musiker war, der 34 Alben herausgebracht hatte (auch wenn leider keines davon die Charts gestürmt hatte), lebte er von der Großzügigkeit seines Vaters Bill, der viele Jahre als leitender Angestellter bei der Deutschen Bank gearbeitet hatte, einem der größten Finanzinstitute der Welt. Val war groß, dünn und hager - seine Freunde sagten ihm, er sehe aus wie ein Obdachloser - und fest entschlossen, sich diesen Sonntag nicht wieder von seiner Mutter das Ohr abkauen zu lassen, wie schludrig er aussah. Er trug anständige Hosen, einen blauen Blazer und eine schwarze Wollkappe.
Um genau ein Uhr kam Val an der Ziegelmauer an, die sich um die Saatchi Gallery wand. Er war bei seiner Familie berüchtigt dafür, nie pünktlich zu sein, aber hier war er und seine stets überpünktlichen Eltern waren nirgends zu sehen. »Wo seid ihr, Leute?«, textete er seiner Mutter Alla. Sie antwortete nicht.
Val schlendert in der Fußgängerzone herum, betrachtete die Schaufenster der Boutiquen und überteuerten Edelgeschäfte. Er kam an einem Buchladen von Taschen vorbei, einem Verlag, der sich auf große Bildbände über Kunst und Kultur spezialisiert hatte, die sich gut auf dem Couchtisch machten. Die letzten paar Jahre hatte Val seltene Erstausgaben gesammelt - je älter und berühmter der Autor, desto besser. Er hatte sich so begeistert seinem Hobby gewidmet, dass er sogar Freiwilligenarbeit bei einer Organisation geleistet hatte, die Bücher, die niemand haben wollte, von Haushaltsauflösungen sammelte und an arme Kinder verteilte. Val stöberte durch die Stapel und suchte nach versteckten Schätzen, die er für seine eigene kleine Bibliothek zurücklegte.
Der Buchladen war größtenteils leer. Val sah sich die Regale an, bis ihm etwas ins Auge stach: ein dicker Wälzer mit einem schimmernd silbernen Cover, der 650 Britische Pfund (ungefähr 1000 Dollar) kosten sollte. Es war die limitierte Ausgabe einer Sammlung von Harry Bensons ikonischen Fotos der Beatles, inklusive des Bildes von einer Kissenschlacht in einem Pariser Hotelzimmer. Das Buch war vom Fotografen signiert und seine Seiten glänzten so luxuriös metallisch, dass Val sein eigenes Spiegelbild darin sehen konnte. Er überlegte gerade, wie er seine Eltern überzeugen konnte, es ihm als verspätetes Geburtstagsgeschenk zu kaufen, als sein Handy vibrierte. Der Anruf kam von einer unterdrückten Nummer. Val hob ab. Eine Frau mit einem starken Akzent - Val war ziemlich sicher, dass es sich um Belle, die Haushälterin seiner Eltern handelte - war am anderen Ende.
»Notfall! Notfall!«, schrie sie. »Ihr Vater! Ihr Vater!«
Val wollte wissen, wovon sie redete, doch er brachte keine zusammenhängende Antwort aus ihr heraus. Ein Gedanke beherrschte ihn, er musste so schnell wie möglich zur Wohnung seiner Eltern etwa eine Meile entfernt im noblen Stadtteil Kensington. Er legte das Beatles-Buch hin, rannte nach draußen und winkte ein schwarzes Taxi heran. »Evelyn Gardens 21«, wies er den Fahrer an.
Die zehnminütige Fahrt kam ihm endlos vor. Das Taxi schien durch die verstopften Straßen Londons zu schleichen, an imposanten Stadthäusern und Apartmentblocks aus Ziegelbauten vorbei sowie an Nobelrestaurants und Bioläden. Die Einheimischen eilten geduckt über die regennassen Gehwege, fast genauso schnell wie das Taxi. Val ging die möglichen Szenarien durch, die ihn zu Hause erwarten könnten. Vielleicht hatte sich sein Vater verletzt? Möglicherweise gab es einen großen Familienstreit? Oder hatte Bill sich nur mal wieder aus dem eigenen Computer ausgesperrt und brauchte die Hilfe seines technisch begabten Sohnes?
Das Taxi bog in Evelyn Gardens ab, eine breite, ruhige Straße, die statt eines Mittelstreifens in der Mitte Parkplätze hatte, ebenso wie am Straßenrand. Nun stand zusätzlich zu den BMWs und Audis und Motorrädern auch noch ein Krankenwagen am Gehweg. Val bezahlte den Taxifahrer und sprintete über die Straße.
Die Wohnung seiner Eltern befand sich im dritten Stock eines Ziegelhauses mit weiß gestrichenen Mauerkanten. Die schwere, schwarze Tür, die normalerweise nur über einen Buzzer zu öffnen war, stand offen. Val nahm zwei Stufen auf einmal. Die Tür zur Wohnung seiner Eltern war sperrangelweit geöffnet.
In der Mitte des Flurs lag Bill Broeksmit auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Eine Halskrause bog seinen Kopf in einem unnatürlichen Winkel nach hinten. Ein Plastikschlauch, den ein Sanitäter angebracht hatte, ragte aus dem Mund. Vals Mutter war in Fötushaltung auf dem dunklen Holzboden zusammengerollt, ihr Kopf ruhte auf einem Kissen neben dem Kopf ihres Mannes. Sie weinte. Belle kniete sich neben sie und streichelte ihr Haar.
»Was zur Hölle ist hier los?«, schrie Val.
»Er hat sich umgebracht«, keuchte seine Mutter. »Er hat sich mit Daisys Hundeleine erhängt.«
Zwei Jahre später, im Januar 2016, kam Jacques Brand im US-Hauptsitz der Deutschen Bank in der Wall Street in Lower Manhattan an. Der ehemalige Berater und langjährige Investmentbanker bei Lehman Brothers war Nordamerikachef der Deutschen Bank und seine Mission hatte in den letzten Jahren darin bestanden, einem Unternehmen, in dem Risikobereitschaft, Chaos und Gier zu lange die beherrschenden Prinzipien waren, ein Mindestmaß an Disziplin, Moral und Kontrolle einzuhauchen. Wenn es etwas gab, das Brand in seinen Jahren bei Lehman gelernt hatte, dann, dass es nichts brachte, eine Menge Profit zu scheffeln, wenn man nicht gleichzeitig die damit einhergehenden Risiken mitbedachte und möglichst unter Kontrolle behielt. Das war bei der Deutschen Bank nicht der Fall. Daher hatte er, kurz bevor er, der bislang weltweit den Bereich Investmentbanking-Coverage und -Advisory geleitet hatte, 2012 das Ruder übernahm, Bill Broeksmit in den Vorstand, der die Geschäfte in Nordamerika leitete, berufen. Brand (alle nannten ihn Jack) war der Ansicht, die beste Methode, ein wenig aufzuräumen, bestand darin, sich selbst und Leute mit ähnlichen Prioritäten mehr ins Tagesgeschäft zu integrieren. Dieses war bisher ganz der Willkür von Abteilungsleitern überlassen, die enorme finanzielle Anreize hatten - allgemein als Jahresbonus bekannt -, kurzfristige Profite über langfristige Stabilität zu stellen.
Das Entwirren des Filzes und der Fallstricke der Bank war ein anstrengender Job, der manchmal 100 Stunden die Woche Arbeit bedeutete und nicht immer erfolgreich war. Brand stammte aus Ghana, war Triathlet und hatte drei Kinder, ergrauendes Haar und ein strahlendes Lächeln. Anfang 2016 war er im Begriff, seine Kündigung bei der Deutschen Bank zu verhandeln. Er war der Ansicht, in den fast vier Jahren, die er den Job gemacht hatte, ein ganz gutes Verständnis dafür entwickelt zu haben, was in seinem kleinen Königreich an Positivem und Negativem vor sich ging. Er hatte sich daran gewöhnt, entsetzt zu sein über das, was er vorfand, bis langsam jedes zusätzliche Problem, das zunächst schockierend erschien, nur noch überraschend war und schließlich Teil eines ganz normalen Arbeitstages. Wie eine nie endende Lawine war ihm das vorgekommen, aber irgendwann hatte er den Eindruck gewonnen, er habe bei dieser verrückten Bank inzwischen so gut wie alles gesehen und sich damit herumschlagen müssen.
Doch dann ging er eines Tages durch die riesige Marmorlobby in der Wall Street Nummer 60, fuhr den Aufzug zu den Vorstandsbüros hinauf und stellte fest - nein, er hatte tatsächlich noch nicht alles gesehen.
Bei einem Meeting mit ein paar Kollegen an diesem Morgen erwähnte jemand, dass eine Abteilung der Bank in New York plante, Donald Trump einen großen Kredit zu gewähren. Der vorgeschlagene Kredit kam von der Privatkundenabteilung der Deutschen Bank, die sich der Aufgabe widmete, den Reichsten der Reichen zu Diensten zu sein. Der Kredit war vordergründig für...
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