Schweitzer Fachinformationen
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Casino Countryside Inn
Bear Creek Township, Pennsylvania, USA
Mi., 17. Okt. 2012
[07:05 EST]
Sogar die Selbstmorde tanzten im Wyoming Valley aus der Reihe.
Der Junge im Motelzimmer trug nur Boxershorts und lag mit angezogenen Knien auf einer beigen Tagesdecke mit Indianermuster. Er war höchstens achtzehn Jahre alt und breitschultrig, hatte halblanges, aschblondes Haar und schmale Hüften. Der linke Oberarm war mit einem stramm sitzenden Schlips abgebunden, und neben den geschlossenen Augen des Jungen lag eine leere Einwegspritze - vermutlich das Letzte, was er in seinem irdischen Dasein erblickt hatte.
George Decker, der Polizeichef von Bear Creek, sah sich nicht zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Leiche konfrontiert. Als Marineinfanterist hatte er an der Invasion Grenadas teilgenommen, und in den letzten fünfzehn Jahren hatte er bei seiner Tätigkeit in der ärmsten Region Pennsylvanias mittlerweile den Überblick verloren: Jagdunfälle, Autounfälle mit und ohne Wildbeteiligung, tödliche Messerstechereien und der eine oder andere kaltblütige Mord. Aber dieser Fall war anders gelagert. Der junge Mann hatte sich erbrochen und sah ansonsten so aus, als schliefe er. Seine Jugend und der Umstand, dass er nicht durch einen Unfall entstellt war, ließen diesen Tod so viel tragischer erscheinen als die entsetzlichen Bilder, die sich Decker nach Autounfällen und Granatenangriffen geboten hatten. Vor allem die Freiwilligkeit setzte ihm zu.
Denn es konnte sich nur um einen Selbstmord handeln und nicht wie sonst um eine Überdosis. Ein Blatt Papier und ein Kugelschreiber auf dem Nachttisch, die Kleider ordentlich über eine Stuhllehne gehängt.
In einem Umkreis von mehreren Meilen gab es kein billigeres Zimmer. Die Wände hatten eine unbestimmbare Farbe. Der bauchige, tragbare Fernseher, der Jahre in Gefangenschaft auf dem Buckel hatte, stand festgekettet auf einem holzverschalten Kühlschrank. In der engen, lila gefliesten Dusche war es feucht wie in einem Dampfbad, wobei die Lüftung beinahe die Autobahn vor dem Haus übertönte. Obwohl alle Lichter brannten, wirkte die Dunkelheit im Zimmer undurchdringlich. Zwischen dem Teppichboden und den schimmeligen Dielenbrettern lag Zeitungspapier, das bei jeder Bewegung raschelte.
Deckers Assistentin, eine Frau, die jede dritte Woche nach Haarfärbemittel roch und sich immer räusperte, wenn die Gesprächspausen allzu lang wurden, trat beiseite, als ihr Chef an ihr vorbeiging, um die karierten Gardinen zu öffnen. Sein Blick fiel auf den Frühnebel, der sich von den Bergen herab langsam durchs Tal wälzte.
Decker strich sich mit der Hand über die Bartstoppeln.
»Und wer ist das?«
»Christopher Warsinsky«, sagte seine Assistentin und las vom Führerschein des Jungen ab: »237 Lakeron Drive. Er wäre in zwei Monaten siebzehn geworden.«
»Autoschlüssel?«
»Nein.«
»Wie ist er dann hierhergekommen?« Decker sah sich im Zimmer um.
»Zweihundert Meter von hier liegt eine Bushaltestelle. Oder jemand hat ihn hergebracht.«
Auf dem Nachttisch stand ein geöffnetes leeres Medizinfläschchen. Decker beugte sich vor und roch daran, ohne es anzufassen. Geruchlos. Natürlich Heroin.
»Schau mal«, sagte die Assistentin, die vor dem anderen Nachttisch stand, und hob mit einer Pinzette ein Stück Papier hoch.
»Hast du schon alles fotografiert?«, vergewisserte er sich.
»Ja. Komm her.«
Decker ging um das Bett herum und setzte seine Lesebrille auf. »Scher Dich zum Teufel, Ron«, las er.
Ron?
»Gibst du mir mal bitte sein Handy?«, meinte Decker.
Das weiße iPhone des Jungen ließ sich nicht mit Plastikhandschuhen bedienen. Die Assistentin schaute Decker über die Schulter und erklärte: »Die Fingerabdrücke sind bereits abgenommen.«
Decker nickte und zog seine Handschuhe aus.
Halbherzig schlug seine Assistentin vor: »Sollten wir nicht lieber abwarten, bis .?«
»Nicht nötig. Was man sich ohne Passwort anschauen kann, hinterlässt keine Spuren.«
Er sah sich die Mails des Jungen durch. In den letzten Tagen nichts von Interesse. Abgesehen von den für Teenager typischen Mitteilungen über unausstehliche Lehrer und ungerechtfertigten Hausarrest gab es auch keine bemerkenswerten SMS. Aber dafür einen Chat mit Emma Harriman.
Harriman . vielleicht die Tochter von Ron Harriman? Von Scher-Dich-zum-Teufel-Ron-Harriman? Sie tauschten sich über ein Theaterstück aus. Die Zoogeschichte. Emma führte Regie, Chris war einer der Schauspieler.
Decker tippte aufs Facebook-Icon.
Und in diesem Moment wurde ihm klar, dass bald die Hölle losbrechen würde.
»Seine letzte Statusmeldung stammt von heute Nacht um vier Uhr«, sagte Decker zu seiner Assistentin. »Ron Harriman bricht seine Versprechen«, las er vor. »Er hat mich ausgenutzt und mir das Herz gebrochen. Ich will nicht mehr leben.«
Mit hochgezogener Augenbraue musterte die Assistentin den Jungen eingehend. »Sieh mal einer an! Dann gibt es also doch noch einen richtigen Wahlkampf.«
Decker sah sie vielsagend an und meinte: »Ich fahre zum See runter und versuche Harriman zu finden. Ruf mich an, sobald feststeht, wer die Obduktion übernimmt. Setz dich zuerst mit der Wache in Scranton in Verbindung. Und versuch beim Empfang herauszufinden, ob die Überwachungskameras etwas hergeben. Schau nach, ob er alleine gekommen ist. Und kontrolliere alle Autos in der Nähe.«
»Wer informiert die Angehörigen?«
»Die Adresse hast du ja.«
Auf dem Parkplatz war es feuchtkalt und trübe. Jetzt am Morgen waren es nur sieben Grad, aber bis Mittag sollte das Thermometer bis auf zwanzig Grad steigen. Das Motel war ein alter, türmchenverzierter Kasten aus morschem, grauem Holz mit drei weißen Baracken und einem Parkplatz vor jeder Zimmertür und lag oberhalb des Highway 115. Der ganze Komplex hatte die Aura eines Umspannwerks oder eines umgebauten Schlachthofs. Etwas weiter den Hügel hinauf lag eine graue Kirche in einem Wäldchen. In der anderen Richtung lärmten Lastzüge und Pendler auf der Autobahn vorbei, die ins Tal zu den Einkaufszentren und in die Universitätsstadt Wilkes-Barre führte. Und natürlich auch nach Kanada, wenn man die entsprechende Zeit, das Geld für einen vollen Tank und gutes Urteilsvermögen mitbrachte. Zwei Stunden weiter weg begann eine andere Welt. Aber auch die Flucht nach Osten war möglich. Auch Manhattan ließ sich in zwei Stunden erreichen. Fluchtwege gab es also genug. Trotzdem blieb eine halbe Million Menschen in diesem Tal wohnen. Chris Warsinsky hatte eine andere Lösung gewählt.
Selbstmorde unter jungen Menschen waren im Wyoming Valley nicht ungewöhnlich. Sie waren sogar so häufig, dass die Presse von einer Epidemie sprach. Aber hier handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen Selbstmord. Im Casino Countryside Inn war die Bombe eines politischen Selbstmordattentäters explodiert.
Decker kannte Ron Harriman kaum. Er wusste, dass dieser für kurze Zeit amerikanischer Botschafter in Berlin gewesen war und jetzt bei den bevorstehenden Kongresswahlen für die Demokraten im elften Wahlkreis kandidierte. Seine Frau besaß drei Hunde, die die anderen betuchten Einwohner am Bear Creek Lake terrorisierten.
Decker bedauerte es, Harriman nicht besser zu kennen, denn dann hätte sich die Sache vielleicht rein intuitiv lösen lassen. So sah sich Decker gezwungen, Harriman bei ihrer ersten Begegnung mit einer Anklage zu konfrontieren. Kein guter Beginn in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Mann in Zukunft vermutlich sehr viel Einfluss haben würde.
Es galt also, die Sache ohne viel Aufhebens über die Bühne zu bringen.
Zehn Minuten lang fuhr er durch Oktoberlaub und Nebelschwaden. Der Bear Creek Lake mit seiner kleinen Staumauer und den kurvigen Sträßchen hätte in jede Neuengland-Touristenbroschüre gepasst. Hier wohnte die wahre Aristokratie der Gegend: die Nachfahren der Industriebarone vergangener Zeiten. Kurz vor dem Ortskern bog Decker links auf die Beaupland Road ab, die an einigen Sommerhäusern vorbeiführte, ehe er den Lake Drive East erreichte, der sich um den See schlängelte.
Ein Selbstmord war natürlich ein Akt der Aggression. Aber hätte sich die Statusmeldung auf Facebook nicht direkt an Ron wenden müssen? Auf dich ist kein Verlass, Ron. Du hast mich ausgenutzt und mir geschadet. Decker fand die Formulierung des Jungen etwas zu allgemein gehalten.
Aber andererseits: Waren nicht alle jungen Leute heutzutage die reinsten PR-Spezialisten - ständig auf der Jagd nach Zuspruch und ständig bereit, öffentliche Statements abzugeben?
Harrimans Haus war ein imposantes Anwesen aus der Zeit um 1910. Die gelb gestrichene dreistöckige Holzvilla war mindestens vierhundert Quadratmeter groß, lag auf einer Anhöhe oberhalb des Sees und überragte sämtliche anderen Häuser in der Gegend. Drei uralte Scharlach-Eichen standen in einem Abstand von fünfundzwanzig Metern vor dem Haus aufgereiht. Auf dem Parkplatz, der ebenso groß war wie Deckers Garten und von einer niedrigen Lavendelhecke gesäumt wurde, standen die drei Familienautos - ein schwarzes Lincoln Town Car, ein weißer Mercedes E 350 mit rotem Verdeck und ein giftgrüner Jeep Wrangler. Decker parkte auf der unbefestigten Straße, stieg aus und folgte einem gepflasterten Weg zum Haus.
Es gab einige offene Fragen. Warsinsky war keinesfalls ein Junkie, dachte Decker auf dem Weg zur knallrot lackierten Haustür. Der Junge war weiß, auch wenn Decker diesen Umstand in seinem Bericht nicht eigens hervorheben würde, er war athletisch, und nichts deutete auf längeren Drogenmissbrauch hin. Gleichzeitig war...
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