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Über den Sternen ist Gott
Braunschweig, 2. Dezember 1582
Wohlgefällig ruhte der Blick von Heinrich Lampe auf seinem Schüler. Der Ordinarius für Mathematik und Astronomie an der Lateinschule zur Braunschweig war von den Fähigkeiten dieses ostfriesischen Studenten überzeugt. Zwar war der von niedriger Geburt, der Sohn eines Schmieds, und das unterschied ihn von seinen Mitschülern, deren meiste adelig waren, item seine schmächtige Gestalt und seine zarten Glieder. Aber eben auch sein wacher Geist, die hellen Augen und seine geniale Neigung zur Astronomie.
David Jansen hatte den Durchmesser des Vollmondes in kurzer Zeit als Bruch eines Grades ermittelt und erfasste mit dem Astrolabium1 Winkelhöhen von Sternen schon, wenn die anderen Studiosi noch schoben und peilten. Er hatte die Funktion dieses Instruments, eine in die Ebene übertragene Armillarsphäre2, vollständig begriffen und hantierte mit der Alhydate3 schon jetzt wie ein erfahrener Astronom, drehte die Peilvorrichtung und nahm die Werte von der Skala, als hätte er nie etwas anderes getan. Man hatte gar das Gefühl, als ertaste er sie, ohne das Dorsum4 auch nur anzusehen, und manchmal war er seinem Ordinarius so fast schon etwas unheimlich.
Die Gruppe der Studenten verweilte mit ihrem Ordinarius auf der Plattform des Dachturms, unten schlummerten die Gemäuer ihres Instituts, die Nacht war kalt und von klarer Schärfe. Heinrich Lampe, der sich, der Mode folgend, Lampadius nannte, hob den Kopf und fixierte den jungen Mann. »Woher wissen wir, dass die Erde eine Kugel ist, Jansen?«, fragte er.
Im Schein einer Öllampe studierte der Junge eine Schrift von Regiomontanus, dem Baiern, der eigentlich Johannes Müller hieß und Werke des Ptolemäus ins Lateinische übersetzt hatte. Er antwortete, ohne von seinem Dokument abzulassen. »Durch den Schatten, den die Erde bei einer Mondfinsternis wirft. Er ist rund. Die Griechen haben es gefunden. Pythagoras wusste es schon, und auch Aristoteles hat es vielfach beschrieben«, sagte David, und es klang so, als wollte er sagen, was fragt Ihr mich da?
»Recht so!«, sagt der Ordinarius zufrieden, »und nun sage mir, wie es kommt, dass man den Kreis so unterteilt, dass er dreihundertsechzig Grad umfasst?«
Jetzt runzelte David die Brauen. Er schien gelangweilt. »Dies hat seine Wurzel bei den Babyloniern, die mit einem Zahlensystem rechneten, das auf der Sechs und der Sechzig fußt. Sie unterteilten den Kreis in sechs Segmente zu je sechzig Einheiten«, antwortete der junge Studiosus. »Sie verehrten auch das Sternbild des Orion. Es stellte für sie den großen Krieger Gilgamesch dar.« Hob nun den Blick und sah den Magister an, ohne zu lächeln. Auch die anderen blickten auf, zwei oder drei in wachem Interesse, einige der anderen mit dem Unbehagen derer, die fürchten, einem Gespräch nicht folgen zu können.
»Das hatte ich dich aber nicht gefragt«, gab Lampe mit Tadel in der Stimme zurück, doch seine Augen blieben mild. Er wandte sich an einen anderen Studenten. »Sage mir du, Wartenberg, wo steht Jupiter heute, am zweiten Tag des Christmonats?«
Mit flatternden Händen griff sich der Gefragte das Astrolabium und richtete sich suchend auf. Es war klar, er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte, und dann sagte David Jansen recht nüchtern: »Er steht genau in Süd, der Winkel misst einundzwanzig Grad, das ist auch seine obere Kulmination.« Stand auf, nahm dem Wartenberg das Astrolabium aus den kalten, feuchten Fingern, visierte nach Süden an, drehte die Alhydate und zeigte dem Ordinarius den gefundenen Wert.
Der lächelte noch immer, aber sein Ton wurde kühler. »Ich habe nicht dich gefragt, sondern den Wartenberg. Du musst lernen, dich zu bescheiden, Jansen; mag sein, du hast eine Neigung zur Hoffart. Denn du weißt, dass du mit Geistesgaben gesegnet bist. Aber das verpflichtet dich zur Demut!«
Die anderen hörten stumm zu, der Wartenberg schon längst wieder hinter einem Folianten versteckt, in dem er eifrig studierte. Auch David hielt die Stirn gesenkt, schwieg, in seinem Kopf arbeitete es, sein Hirn war wie ein Schwamm, und niemand sah tiefer hinein als Heinrich Lampe. Als der Junge sprach, war es, als rede er zu dem Papier in seinen Händen. »Ich will wissen, Magister!«
Und Lampe nickte. »Ja, aber du sollst auch fühlen. Die Liebe des Herrn und alles, was in ihr ist!«
Da hob David die Augen. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ ihn einen Halbkreis abstreichen. »Die Gestirne sind doch das Schönste, das Edelste in der Schöpfung!«, sagte er mit Inbrunst.
Lampe beugte sich so heftig vor, als wollte er auf die Füße springen. »Mag sein! Das mag so sein. Aber wisse: Über den Sternen ist Gott!«
Überrascht sah der junge Ostfriese ihn an. Das Haupt seines Magisters war von Atem umwölkt, es war, als wollte er sein Minenspiel verschleiern. Als sei ihm daran gelegen, seinen Worten zusätzliche Mystik zu verleihen, als sollten sie allein durch ihr Diktum wirken. »Meint Ihr das räumlich oder sinnbildlich, Ordinarius?«, fragt David, offen und ohne Arg.
Der Magister lehnte sich zurück, er schien ruhiger und auch das Lächeln war wieder da. »Ich meine es auf beide Weise, David, und das solltest du wissen.« Lampe setzte sich gemütlich zurecht. Die Eiswolke um seinen Kopf war verschwunden, er sah sehr zufrieden aus. »Aber nun sage mir, David, wo steht Jupiter jetzt?«
Der Junge blickte sich flüchtig nach Süden um, ganz so, als wisse er schon, was hierüber zu berichten war. »Jupiter steht unter dem Horizont. Er ist längst untergegangen, Magister.«
Der Ordinarius Heinrich Lampe nickte, streckte sich genüsslich und lächelte. »Bedeutet was?«
»Es ist weit nach Mitternacht!«, antwortete David Jansen und Lampe nickte erneut.
»Eben. Zeit für den Bettkasten!«
Am nächsten Morgen stand David Jansen in Heinrich Lampes Studierzimmer. Der Ordinarius hatte kleine Augen, er wird wohl die restliche Nacht wieder hinter Folianten verbracht haben, dachte sich der junge Mann. Oder er war noch böse, weil er, David, gestern etwas ungebührlich gewesen war, und das verkniff ihm die Lider. Jansen wusste natürlich, dass sein Professor auch Prediger war, aber das führte zu keinem Widerspruch zwischen ihnen, denn Lampes Widmung zu Gott teilte der junge Ostfriese ohne jeden Vorbehalt. Er konnte sich sogar vorstellen, ebenfalls das Wort des Herrn zu verbreiten, wenn das nur bedeutete, dass er nicht von den Sternen lassen musste. Denn das sollte ihn hart ankommen.
Aber er hatte auf Lampe wohl den Eindruck gemacht, als stelle er das Irdische über das Göttliche und das besorgte ihn jetzt, weil der Ordinarius mit finsterem Gesicht aufblickte.
»Deine Tage hier in Braunschweig sind gezählt, David!«, sagte Lampe spröde. Er stand auf und trat an seine Armillarsphäre, drehte gedankenverloren an Reifen und Kugeln, während der junge Ostfriese wie vor den Kopf geschlagen stumm blieb. »Ich träume davon, die Sterne durch ein Instrument zu sehen, das sie vergrößert, näher heranholt, klarer und deutlicher zeigt, verstehst du?«, wechselte Lampe plötzlich den Gegenstand, wandte sich um, seufzte. »Ach, wir wissen so wenig, so wenig!«, sagte der Ordinarius und wischte sich über die schweren Lider. Ließ sich ächzend in seinen Armstuhl fallen und wies dem jungen Studenten den Schemel an, der vor dem wuchtigen Studiertisch stand.
Es war dämmrig und kalt, der Kamin noch dunkel, auch für einen Magister stand am Tag nicht mehr als eine Schütte Brennholz zur Verfügung, und da hieß es haushalten. Davids Herz klopfte, als der Ordinarius den Mund öffnete. »Deine Tage hier sind vorbei«, wiederholte Lampe und plötzlich legte sich eine sanfte Milde über sein Gesicht. »Du kennst die Sterne und ihre Bahnen. Du verstehst dich auf Meridiandurchgänge ebenso wie auf Deklinationswinkel .« Er hielt inne, lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Nenne die Formel zur Errechnung des Höhenwinkels in der oberen Kulmination auf der Nordhalbkugel!«
Auch David schloss die Augen, er schien ruhig, aber sein Herz pulste dafür umso heftiger in den Ohren. Dann nannte er die Formel, locker und flüssig: »
, sagte der junge Student und fügte ungefragt hinzu: »Für die untere Kulmination lautet sie .« Der Ordinarius hob die Lider wie nach langem Schlaf, und auch David sah ihn an. »Die beiden Formeln sind nur dann exakt, wenn der Kulminationspunkt auf dem Meridian liegt«, schloss der junge Ostfriese und wagte es, seine Lippen zu kräuseln.
Heinrich Lampe lächelte nun ebenfalls. »Das war leicht. Vielleicht zu leicht!« Er beugte sich vor, seine Züge hatten plötzlich etwas Schelmenhaftes. »Nun sage mir, wie lautet die trigonometrische Formel für die 2. Identität?«
David Jansen reckte den Hals, als müsste er von der Decke ablesen. Doch die war schwarz von Ruß, dunkel und kalt. Auf der stand nichts, rein gar nichts. »Die Formel drückt die Summe der complementi sinus zweier Zahlen als Produkt aus«, sagte David zögernd und für einen Augenblick schien es so, als wisse er nicht recht, wie fortfahren. Aber noch bevor der Magister die Lippen öffnen konnte, sprach der Studiosus weiter.
Da breitete Heinrich Lampe die Arme aus. »Was soll ich dich noch lehren? Hier kann niemand mehr etwas für dich tun!« Stand auf und umrundete den Studiertisch, schob einen baculus jacobi, einen uralten Jakobsstab5, achtlos zur Seite, setzte sich ächzend auf die Tischkante. »Du gehst nach Helmstedt, an die Academia Julia...
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