Schweitzer Fachinformationen
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Es soll niemand an dem Ort, an dem Handel getrieben wird, weder innen noch außerhalb des Hofes, Waffen tragen.
Aus der Nowgoroder Schra3
Emden, Ende März 1199
Wibolt Flaskoper war schon für den Magistrat gekleidet, als die Hausmagd den Fremden meldete. Er war ungehalten über die Störung, aber die Frau sagte, der Reiter lasse sich nicht abweisen, und die Sache sei wohl dringend. Wibolt verließ seine Schlafkammer und ging durch den Wohntrakt nach unten. Es war noch früh, eine milde Frühlingssonne stand über der Baustelle an der Kirche. Er sah die Helfer der Zimmerleute an den Gerüsten turnen und hörte das Klingeln der Steinmetze. In der Stube kicherten die Wäschefrauen. Es war ein schöner Morgen und Flaskoper freute sich auf den Magistrat. Heute würde man die neuen Mitglieder für die beiden nächsten Jahre wählen und er hatte gute Aussichten, das beeindruckende Votum seiner letzten Wahl diesmal noch zu übertreffen. Insgeheim hoffte er sogar darauf, die meisten der Stimmen auf sich zu vereinen. Ein Paukenschlag würde das werden, ein Ereignis mit Wirkung weit über Emden hinaus. Es wäre der letzte, der entscheidende Schritt an die Spitze. Dann könnten sie nicht mehr an ihm vorbei, die Hayens und die Moermans - Freunde, gewiss, aber auch Konkurrenten, Mitbewerber um die wichtigsten Posten zur Führung der Stadt. Und jetzt hier dieser fremde Kerl, unwillkommen an diesem Tag, mindestens aber zu dieser Stunde.
»Kann sich denn nicht Habbo um ihn kümmern?«, rief er noch auf der Stiege.
Die Magd schien auf diese Frage gewartet zu haben. »Er will nur mit Euch reden«, gab sie zurück, »und Euer Sekretär ist bereits im Kontor des Hafenmeisters.«
So war es. Wibolt erwartete eine Ladung Färbemittel und hatte dem Sekretär aufgetragen, sich nach der Ankunft zu erkundigen. Mürrisch trat er vor das Haus, dann sah er den Kerl und hatte sofort ein schlechtes Gefühl. Der Mann war verdreckt und verschwitzt, er musste die Nacht hindurch geritten sein. Seine Augen waren rot vor Müdigkeit, das Pferd hielt den Kopf gesenkt und schlug träge mit dem Schweif. Wibolt sah in das Gesicht des Boten, es kam ihm bekannt vor, und dann, mit einem Mal, begann sein Herz wie rasend zu schlagen. Es war der Großknecht seines Partners im Emsland, des Schafzüchters Everhard Svenke, des Mannes, bei dem Wibolt Flaskoper einen Großteil seines Vermögens angelegt hatte.
»Was ist gefällig? Ich muss in die Bürgerschaft!«, knurrte Wibolt.
Der Reiter zog seine Kappe und grüßte, ohne zu lächeln. »Schlechte Nachrichten«, sagte er spröde und trat zögernd einen Schritt vor. Seine andere Hand umschloss eine Briefrolle, aber er reichte sie nicht, sondern hielt sie gepackt, als wollte er sie nie im Leben hergeben.
»Dann spuck es aus, Kerl. Was soll's denn sein?«, fragte Wibolt ungehalten. Er schwankte noch zwischen Angst und Ärger.
Der Mann trat heran und fixierte ihn aus blutroten Augen. »Es ist die Blauzungenkrankheit«, sagte der Knecht mit flacher Stimme. »Die ganze Herde ist erfasst!«
Wibolt handelte, ohne zu denken. Er scheuchte die neugierige Hausmagd von der Schwelle, packte sich den Kerl und zog ihn ins Haus, trieb ihn die Stiege hinauf in den Wohntrakt und befahl den Wäschefrauen barsch, sich zu entfernen. Dann zwang er den Knecht auf einen Stuhl, riss ihm die Briefrolle aus der Hand. »Für mich?!« Als der Bote nickte, öffnete Wibolt die Siegelschnur, und dann las er das ganze Drama. Everhard schilderte präzise. Die Symptome waren eindeutig. Anhaltendes und hohes Fieber über eine gute Woche, begleitet von blutigroten Kopfschleimhäuten. An den Lippen, Augenlidern und Ohren wassersuchtartige Schwellungen. Blaurote Färbung im Maul und an der Zunge.
»Alle Lämmer werden tot geboren«, hörte Wibolt den Knecht mit dumpfer Stimme sagen, »die meisten verkrüppelt oder entstellt. Wir haben Tiere mit fünf Beinen darunter, auch welche ohne Kopf.«
Flaskoper ließ das Pergament sinken und fuhr den Boten scharf an: »Schone mich mit deinem Geschwafel! Ich kenne die Merkmale. Was tut ihr dagegen? Was tut ihr, Mann?!«
Der Knecht war aufgestanden, er breitete die Arme aus. »Wie mein Herr schreibt. Wir trennen die kranken Tiere von den gesunden. Was sollten wir wohl sonst noch tun?«
»Die Wolle, Kerl! Rettet die Wolle!«, schrie Wibolt aus vollem Hals, und der andere versteifte sich.
»Ja doch! Wir schlachten früh, was sich noch lohnt, für den Rest .« Er breitete die Arme aus.
Flaskoper wusste, was der Knecht meinte. Mit dem Fleisch von Schlachtvieh konnte man noch Geld verdienen. Verendete Kadaver kosteten den Abdecker. Der Emder atmete tief durch, er fühlte sein Herz in der Brust unregelmäßig schlagen. »Wie viele können gerettet werden?«, fragte er tonlos.
Der Knecht hielt jetzt den Blick gesenkt, seine groben Hände knüllten die Mütze. »Drei von zehn. Wenn es gut läuft.«
Wibolt hatte das Gefühl, als griffe eine eiskalte Faust nach seinem Magen. »Nur drei von zehn?! Und was ist mit den Muttertieren?«
Der Mann hob den Kopf. In seinen Augen stand Zorn. Er fühlte sich gescholten für eine Sache, die er nicht zu verantworten hatte, das sah man deutlich. »Wir wollen möglichst viele durchbringen«, sagte er kurz, »kann sein, dass wir es schaffen.«
Er hob die Schultern, ließ sie weder fallen. Die Botschaft war klar: Wenn die Muttertiere überlebten, dann war es möglich, eine neue Herde aufzubauen. Irgendwann, in zwei oder drei Jahren.
Aber Wibolt Flaskoper wusste, dass er nicht so lange warten konnte. Denn in der Zwischenzeit brach der Umsatz ein. Die Kette war einfach: keine Schafe, keine Wolle. Keine Wolle, kein Tuch. Und ohne Tuch kein Handel. Aber Schulden. Gläubiger, die drängten, ihr Geld mit Zinsen zurückhaben wollten. Schließlich, und nicht zuletzt, die Reputation in Emden. Sein guter Name, sein Ruf als erfolgreicher Kaufmann.
»Wir haben Pech, dass die Seuche jetzt auftritt. Bei kalter Witterung würde sie zurückgehen. Doch nun kommt der Sommer«, sagte der Knecht hilflos.
Das Gesicht des Kaufherrn verschloss sich zu einer steinernen Maske. Die Haltung. Nichts nach außen! Von allem, was ihn in Gefahr brachte, war offene Panik das schädlichste. Nicht auszudenken, wenn man in Emden erführe, in welcher Lage er steckte. Jetzt zuerst die Bürgerschaft. Der erste Schritt. Dann der nächste. Und dann . und dann .?
Er richtete sich auf. »Es ist gut. Sage deinem Herrn, ich habe die Botschaft erhalten. Er soll tun, was möglich und nötig ist. Ich komme demnächst, um selbst mit ihm zu reden.« Dann wandte er sich ab. An der Tür blieb er noch einmal stehen. »Und lass dir zu essen geben!«
*
Fragen. Drängende. Bohrende. Fragen, deren Beantwortung er fürchtete, die ihn beschäftigten, und die man dennoch einem Knecht nicht stellen konnte. Wie groß ist der Verlust in Geld? Was bedeutet er für mein Geschäft? Welche Wollernte ist noch möglich? Was kann ich an Umschlagzahlen erwarten?
Gedankenschwer nahm Wibolt seinen Weg. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit hielt er den Blick gesenkt. Er hatte keine Augen für den just begonnenen stolzen Neubau neben der alten Kirche, die endlich durch ein Steingebäude ersetzt werden sollte, zum Ruhme der Stadt und zur Ehre der Kaufmannschaft. Er richtete nicht wie sonst seine ganze Aufmerksamkeit auf den Fachwerkbau des Magistrats, den er so liebend gerne unter seiner Führung als Bürgermeister eingerissen und in Stein neu errichtet sähe. Nein, er näherte sich der Bürgerschaft mechanisch, fast zögernd, mit tastenden Schritten. Was konnte, was musste er nun tun? In dieser Lage brauchte er vor allem Zeit. Zeit, sich zu erholen, die Dinge zu ordnen, das Geschäft neu aufzustellen und in ruhiges Wasser zu lenken. Aber diese Zeit hatte Wibolt Flaskoper nicht. Seine Mittel waren ausgereizt, bis zum Ende strapaziert. Die Gläubiger saßen ihm im Nacken, allen voran der Bremer Heinrich von Tossen, der auf peinliche Bedienung der Kreditzinsen sah. Wibolt brauchte Gewinn sofort, noch in diesem Jahr, sonst war er am Ende.
Er betrat die Bürgerschaft aufrecht und mit erhobenem Kopf, aber sein Blick war leer, als er durch die unteren Räume ging. Aus der Küche kam geschäftiger Lärm, die Tür zur Vorratskammer stand offen. Die Vorbereitung des Brudermahls war in vollem Gange. Er wurde gegrüßt und nickte zurück, ohne zu lächeln.
Auf der Stiege in den Ratssaal fühlte er sich an der Schulter gepackt. »Aufwachen, Wibolt, das wird er, dein großer Tag!«
Wibolt lächelte schwach. »Warten wir's ab.«
»Na, na, wer wird denn so pessimistisch sein?«, lachte der andere. Hompo Hayen roch schon am frühen Morgen nach dem Bier, mit dem er handelte, er nahm einen Humpen zum Frühstück, dem im Verlaufe des Vormittags weitere folgten. Seine Geschäfte liefen trotzdem prächtig, er hatte gute Verbindungen und genoss ein Handelsprivileg des Fürstbischofs von Münster, das ihm durch günstige Hebesätze eine Menge Kosten ersparte. Auch Hompo war ein Kandidat für höchste Ämter, seine Familie war ratsfähig seit vielen Generationen.
»Vielleicht wird's ja auch deiner«, gab Wibolt scherzhaft zurück.
»Warten wir's ab«, sagte Hayen, und dann lachten beide.
Der Saal war schon gut gefüllt. Die Herren standen in Gruppen und plauderten. Diener deckten die Tafel und schleppten Krüge mit Wasser und Bier. Der amtierende Bürgermeister, Johann Wynsen, saß wie üblich mit hochrotem Kopf an seinem Tisch und redete mit dem Schreiber.
Sie bahnten sich ihren Weg...
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