Schweitzer Fachinformationen
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I Die Spiegel verhängt und die Eingangstür einen Spalt offen - mit zerrissenem Kragen und dunklen Bartstoppeln im Gesicht lehnt Larry an der Granitplatte der schmucken Kücheninsel seiner Schwester. Er sagt: »Alle starren mich an. All deine Freunde.«
»So ist es nun mal«, erklärt ihm Dina. »Die Leute kommen, sagen nette Sachen, fühlen sich unwohl und starren in die Gegend.«
Die Beerdigung war erst vor ein paar Stunden, und, ernsthaft, Larry hasst sich dafür, es anzusprechen. Er dachte wirklich, dass die Verzweiflung über den Tod seines Vaters nicht größer sein könnte, aber dieser ruhige, murmelnde Strom Beileidsbezeugender macht es für Larry nur noch schlimmer.
Was ihn stört, ist die Art, wie sie ihn ansehen. Das ist nicht das gewohnte, ganz natürliche schmerzvolle Nicken. Larry ist überzeugt, dass mehr dahintersteckt - dass sie ihn verurteilen.
Er weiß nicht, wie er die Woche überleben soll, eingesperrt im Haus seiner Schwester, ihrer Gemeinde, wo ihn jeder Blick zu taxieren scheint.
Und so führt er immer wieder die Hand zum Kopf und fühlt nach seiner Jarmulke, die da schwer wie eine Radkappe liegt. Ohne sie bei der Schiwa des eigenen Vaters zu sein wäre so, als stünde er nackt da.
Larry hat sich mit seiner Schwester in die Küche gestohlen, es ist ihr erster Moment allein, und er macht sich wütend Luft.
»Sag ihnen«, faucht er, »sie sollen mich nicht ansehen.«
»Bei einem Kondolenzbesuch? Du willst, dass sie uns nicht ansehen?« Dina hält inne. »Uns, die . was sind wir, die Kondolierten? Die Geplagten?«
»Die Plage!«
»Die Trauernden!«, sagt sie. »Du willst, dass sie uns ihr Mitgefühl nicht zeigen?«
»Ich will nicht von ihnen verurteilt werden, nur weil ich ihre bescheuerte Welt verlassen habe.«
Dina lacht, zum ersten Mal, seit sie ihren Vater beerdigt haben.
»Das ist so typisch für dich«, sagt sie. »Es runterzumachen. Zu komplizieren, was einfacher nicht sein könnte. Diese Bitternis angesichts reiner Freundlichkeit, das bist allein du.«
»Ich? Machst du Witze? Denkst du das allen Ernstes? Heute?«
»Das denke ich, kleiner Bruder. Ich liebe dich, Larry, aber wenn du sogar, ja, heute, mit einem deiner Anfälle kommst .«
»Meiner Anfälle!«
»Schrei nicht so, Larry. Die Leute können uns hören.«
»Ich scheiß auf die Leute.«
»Oh, wie nett.«
»Das tu ich«, sagt Larry und denkt, dass sie mit dem Wort »Anfall« nicht ganz danebenliegt.
»Also gut. Verfluche die netten Menschen, die für uns kochen, uns versorgen, die ganze Woche Chauffeur für mich spielen und dafür sorgen, dass wir nicht allein mit unserer Trauer sind. Ja, verfluche die netten Männer, die unseren Vater gewaschen und ihm das Totenhemd angezogen haben, die ihm Scherben auf die Augen gelegt haben und uns jetzt besuchen, damit in diesem Haus ein Minjan zustande kommt.«
»Verschone mich, Dina. Es ist auch meine Trauer, und ich sollte mich hier genauso zu Hause fühlen, in deinem Haus, wie sie.«
»Wer sagt etwas anderes? Aber du musst verstehen, dass sie so etwas nicht gewohnt sind, Larry. Was du tust.« Dina holt Luft und ordnet ihre Gedanken neu. »Die Juden in Memphis sind noch konservativer als die, mit denen wir aufgewachsen sind. In Brooklyn haben selbst die Konformen ihre Eigenheiten. Aber wenn du hier so radikal bist, starren dich die Leute schon mal an.«
Jetzt ist es an Larry, seine ältere Schwester anzustarren. Er steht vor ihr und sieht sie verständnislos an. Was an ihm oder seinem Verhalten radikal sein soll, ist ihm absolut schleierhaft.
»Sag bloß, es ist dir nicht bewusst«, sagt sie. »Sag bloß, du machst das nicht mit Absicht. Hast du tatsächlich so viel vergessen?«
»Ehrlich, ich weiß nicht, ich .«, und eigentlich wollte Larry sagen, er schwört es, was orthodoxen Juden jedoch verboten ist. Und nicht so sehr aus Rücksicht auf seine Schwester, sondern um seine Unschuld zu beweisen (dass er nicht so ein Sonderling ist, wie sie denken, und nichts tut, was einer für falsch halten könnte), schluckt Larry den Schwur mit einem Stottern herunter und ersetzt ihn durch ein Versprechen: »Ich verspreche es.«
»Muss ich es dir wirklich erklären?«
»Bitte.«
Dina verdreht die Augen, wie sie es tut, seit Larry alt genug ist, zu verstehen, was es bedeutet, und wie sie es wahrscheinlich auch vorher schon getan hat. Und dann erklärt sie ihm, wovon sie sicher ist, dass es ihm nicht nur bewusst ist, sondern er es, ohne Zweifel, mit Absicht tut.
»Du gehst einfach hinaus in den Hof. Du liest ein Buch«, sagt sie mit echter schwesterlicher Wut. »Und du setzt dich, als wäre es nichts, auf einen normalen Stuhl.«
Larry richtet sich auf, drückt mit den Händen auf die Granitplatte und stellt sich seiner Übertretung.
Er gibt sich einen Moment, lässt das Blut in seine Wangen strömen und wird rot, als könnte er wie ein Chamäleon nach Wunsch die Farbe ändern.
»Das ist immer noch kein Grund, mich wie ein Monster zu behandeln«, sagt er. »Das sind einfach blöde Regeln.«
Aber selbst während er es sagt, der rebellische kleine Bruder, der er ist, das schwarze Schaf und, ja, der Abtrünnige, versteht Larry, dass Dina diese Regeln sehr wichtig sind.
Wie kann er einfach aus dem Haus gehen? Zu seiner Unterhaltung ein Buch lesen? Und, vor allem, den speziellen Schiwa-Hocker verweigern - den niedrigen Stuhl, die hölzerne Kiste, das Sofa ohne Polster? Das ist zu viel. Diese uralte Haltung, mit hängenden Schultern dazuhocken, mit aschfahlem Gesicht, nahe am Boden, das ist für Dina die reine Trauer.
»Ein dummer Stuhl hat doch nichts mit Trauer zu tun«, sagt Larry und legt noch mal nach.
Obwohl er weiß, dass es für seine Schwester absolut so ist.
In der ersten Trauernacht in Dinas arktisch heruntergekühltem Haus liegt Larry im kleinen Zimmer seines Neffen, in dessen schmales Bett gezwängt, und friert unter einer dünnen Polyesterdecke. Er kann nicht schlafen. Trotz aller Zen-Übungen gelingt es ihm nicht, sich von seiner Erschütterung freizumachen.
Er will »Daddy« schreien, will »Mommy« schreien, und es ist diese völlige Regression, zusätzlich zu seiner Trauer, die ihn so aufwühlt. Ein erwachsener Mann, frustriert über seine Frustration, der damit kämpft, seinen Schmerz einzudämmen.
Wäre Larry nicht bereits von sich aus wieder zum Kind mutiert, hätte Dina dafür gesorgt, indem sie ihn in diese Höhle eines Elfjährigen verfrachtet hat, statt ihren dreißigjährigen Bruder im weit onkelwürdigeren Arbeitszimmer einzuquartieren.
Aber das Arbeitszimmer ist der Ort, an dem ihr Vater während seines Pessach-Besuches erkrankt ist. Wo er sich zwischen seinen zahlreichen Krankenhausaufenthalten erholt hat - bis zu seiner letzten, schicksalhaften Einlieferung. Damit war das Zimmer aus Dinas Denken ausgeblendet.
Und so liegt Larry in diesem winzigen Bett, dreht sich und sieht ins leuchtende Aquarium seines Neffen.
Das wässrige Licht fließt über ihn und erhellt die gegenüberliegende Wand. Und die Fische gleiten vor einem Regal voller riesiger Pokale herum, wie Larry sie in seinen aktiven Jahren nie gewonnen hat.
Und jetzt will er nicht mehr nach seinen Eltern rufen, sondern seine Schwester anschreien, voller Wut über etwas, was er nicht genau bezeichnen kann. Ist es das Licht im Aquarium, blendend hell, das ihn, den Schlaflosen, nicht zur Ruhe kommen lässt? Oder der Umstand, dass seine große Schwester in ihrer sowieso schon winzigen Familie nicht in der Lage war, ihren Vater am Sterben zu hindern? Dass Dina, die Ältere, Klügere, damals, als er im zarten Alter seines Neffen war, ihre versponnene Mutter nicht davon abhalten konnte, mit Dennis, dem lächerlichen New-Age-Mann, nach Marin County davonzulaufen - gleich nach der Hochzeit, die noch am selben Tag stattfand, da ihr lieber Vater die Scheidungsurkunde bekam?
Ihre Mutter war aus dem Rabbinatsgericht, wo sie geschieden wurden, direkt unter die Chuppa im Prospect Park geeilt. Ihren Sohn Larry hatte sie gezwungen, einen der Baldachinpfosten zu halten, während Dennis das Glas zertrümmerte, indem er mit seinen dicken Birkenstock-Latschen drauftrat.
Bei der Erinnerung schüttelt Larry den Kopf, und während er sich das Kissen vors Gesicht drückt, bis er Sterne sieht, denkt er, dass seine Wut auf Dina vielleicht daher rührt, dass sie für alles steht, was von der einzigen Familie, die er je hatte, noch existiert.
Jetzt gibt es nur noch sie beide.
Nur, dass Dina nicht allein ist. Sie hat einen Mann und drei Kinder und die Hunderte Mitglieder zählende religiöse Sippschaft, die während der kommenden Woche hier ein und aus gehen wird. Diese Südstaatler, diese Memphis-Juden, diese Graceland-Juden, die niemals aufgeben, niemals verschwinden.
Larry, durch die endlose Erkundung seiner Trauer körperlich wie geistig überwältigt, gibt auf und kriecht aus dem Bett. Fast schon gewalttätig reißt er den Stecker für das Aquarium aus der Wand und seufzt erleichtert, als eine erholsame Dunkelheit das Zimmer erfüllt. Tastet sich zurück unter die Decke des Jungen, zieht sie über sich und treibt in wundervoller Schwärze Richtung Schlaf.
Aber er kann nicht loslassen, verfolgt von seinen Gedanken an den Tod, die Erde, die auf den Sarg trifft, und das buchstäbliche Gespenst einer Seele, die von ihrem Körper getrennt wird - den frei herumtreibenden Geist seines Vaters. Larrys Körper hingegen liegt im engen Sarg dieses Bettes, bedrängt von Aberglauben, und es ist, als hätte...
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