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Die Juden bestatten sich so, wie sie leben: Noch im Tod hocken sie aufeinander und nehmen sich gegenseitig den Platz weg. Die Grabsteine standen dicht an dicht, die Toten darunter lagen Ellbogen an Ellbogen und Kopf an Fuß. Kaddisch führte Pato auf der Seite des Wohltätigen Ich über buckligen Boden, zwischen schiefen Reihen hindurch. Um das Licht zu dämpfen, hielt er die Hand über das Auge der Taschenlampe. Seine Finger glühten orange, in den Zwischenräumen rot, während er mit der Faust über die Stirnseite eines Steins fuhr.
Die beiden waren auf der Suche nach Hezzi Doppelklinges Grab, und es dauerte nicht lange, bis sie es fanden. Seine Grabstelle stieg steil an. Sein Stein neigte sich nach hinten. Es kam Kaddisch vor, als hätte der alte Knabe versucht, sich in die Freiheit zu wühlen. Außerdem sah es so aus, als hätte Doppelklinges Tochter, hätte sie nur noch einen Winter gewartet, Kaddisch Poznan überhaupt nicht anheuern müssen.
In Marmor, hatte Kaddisch herausgefunden, meißelt man nicht, weil er hart, sondern weil er weich ist. So wie die übrigen Marmorsteine auf dem Friedhof der »Gesellschaft des Wohltätigen Ich« hatte auch Hezzis Grabstein Krater und Risse, und die Buchstaben verblassten zunehmend. Die meisten anderen Steine waren aus Granit gehauen. Wurden sie nicht durch Witterung und Umweltverschmutzung in Mitleidenschaft gezogen, dann von den örtlichen Rowdys. Schon oft hatte Kaddisch Hakenkreuze weggeschrubbt und zerbrochene Steine wieder zusammengefügt. Er prüfte, wie stabil der Stein auf Doppelklinges Grab war. »Als wenn man gegen einen losen Zahn schlägt«, sagte Kaddisch. »Ich weiß gar nicht, warum wir uns überhaupt damit abgeben - dauert nicht mehr lange, dann ist davon nichts mehr übrig.«
Doch Kaddisch und Pato wussten ganz genau, warum sie sich damit abgaben. Sie begriffen sehr gut, warum die Familien sich jetzt mit solcher Dringlichkeit an sie wandten. Man schrieb das Jahr 1976 in Argentinien. Unsicherheit und drohendes Chaos bestimmten das Leben. Entführungen und Erpressungen waren in Buenos Aires schon lange an der Tagesordnung. Überall herrschte Terror, ständig wuchs die Zahl der Morde. Niemand wollte auffallen, weder Gojim noch Juden. Und die Juden hatten nahezu ausnahmslos das Gefühl, sich durch ihr Jüdischsein schon mehr als genug von den anderen zu unterscheiden.
Kaddischs Kunden waren diejenigen, die etwas zu verlieren hatten: der angesehene, erfolgreiche Teil der jüdischen Gemeinschaft, dessen Familien keine so ehrenhafte Vergangenheit vorzuweisen hatten. In ruhigeren Zeiten hatte es gereicht, diese zu ignorieren und zu leugnen. Als der Letzte der Generation des Wohltätigen Ich verstummt war, als alle Grabstellen auf ihrer Seite belegt waren, hatten die Nachkommen dieser unanständigen Sippe eine ihrer Meinung nach anständige Frist verstreichen lassen und den Friedhof für immer dichtgemacht.
Als er das Grab seiner Mutter besuchen wollte und das Tor verschlossen fand, bat Kaddisch die anderen Kinder des Wohltätigen Ich um den Schlüssel. Sie stritten jegliche Verstrickung ab. Sie waren überrascht, von der Existenz des Friedhofs zu erfahren. Und als Kaddisch sie darauf hinwies, dass ihre Eltern dort begraben lägen, erwiesen sie sich als genauso außerstande, sich an die Namen ihrer eigenen Eltern zu erinnern.
So hart diese Haltung auch war, geboren wurde sie aus einer entsetzlichen Scham.
Die Gesellschaft des Wohltätigen Ich war nicht nur in Buenos Aires ein Skandal, zu ihrer Glanzzeit in den zwanziger Jahren war sie für jeden argentinischen Juden eine Schande sondergleichen gewesen. Wer von ihren Verleumdern freute sich nicht, wenn seine Morgenzeitung ein gutes Bild von einem Alphonse in Handschellen brachte, von einem Kaftan-Mitglied bei einer polizeilichen Gegenüberstellung; wer hatte nicht das Gefühl, seine Schmähreden seien gerechtfertigt, wenn er die berühmten jüdischen Zuhälter von Buenos Aires zusammen mit ihren schmolllippigen jüdischen Huren sah. Doch das war 1950, als Kaddisch plötzlich ausgesperrt vor dem Tor stand, längst vorbei. Als jüdisches Geschäft war dieses furchtbare Gewerbe damals schon zwanzig Jahre stillgelegt. Die Gebäude, die der Gesellschaft des Wohltätigen Ich gehörten, waren schon lange verkauft, die Schul der Zuhälter verlassen. Nur ein Teil der Liegenschaft würde nie und nimmer unter mangelnder Nutzung leiden. Unter Baufälligkeit schon. Und auch unter Verwahrlosung. Doch - so die Rätselfrage - was ist das Einzige, was von Menschenhand gebaut und garantiert immerfort benutzt wird? Die Toten benutzen einen Friedhof ewig.
Außerdem war jener Friedhof die einzige von den Zuhältern und Huren von Buenos Aires gegründete Einrichtung, die mit Zustimmung der aufrechten Juden gebaut worden war. Hartherzig, wie jene Juden waren, wenn es um das Wohltätige Ich ging, im Tod konnten sie sich nicht abwenden. Der Vorstand der in den Kinderschuhen steckenden Vereinigten Jüdischen Gemeinden von Argentinien kam zusammen und geriet in eine Sackgasse. Kein Jude sollte, so helfe ihnen Gott, als Goi begraben werden müssen. Andererseits sollten die feinen Juden von Buenos Aires aber auch nicht unter Huren liegen müssen. Sie besprachen ihr Dilemma mit Talmud-Harry, der, als Oberhaupt des Wohltätigen Ich, seinem eigenen Vorstand vorsaß. »Ihr liegt bei ihnen, wenn sie leben«, sagte Harry, »wieso solltet ihr euch dann nicht auch zusammenkuscheln, wenn sie tot sind?«
Schließlich einigte man sich. Im hinteren Teil würde eine zur Friedhofsumfassung passende Mauer errichtet werden, wodurch ein zweiter Friedhof entstand, der im Prinzip zum ersten dazugehörte - technisch, aber nicht halachisch gesehen. Genau auf diese Art und Weise lösen Juden jedes Problem, mit dem sie konfrontiert werden.
Die bestehende Mauer war bescheidene zwei Meter hoch, eine zweckmäßige Barriere zur Abgrenzung eines heiligen Ortes. Die Gründung eines jüdischen Friedhofs in einer von ihren Toten besessenen Stadt hatte ein Maß an Akzeptanz signalisiert, von dem die Vereinigten Gemeinden nur träumen konnten. Seine Gestaltung hatte ihre Unbefangenheit zeigen sollen.
Doch an einem Tag akzeptiert zu werden heißt noch lange nicht, dass man auch noch am nächsten willkommen ist - die Juden von Buenos Aires konnten der Versuchung nicht widerstehen, für dunkle Zeiten vorauszuplanen. Und so war auf jener bescheidenen Mauer noch ein weiterer, zwei Meter hoher schmiedeeiserner Zaun angebracht worden, dessen Stangen oben je eine bourbonische Lilie trugen. Diese vielen Spitzen und Zacken in vier Meter Höhe vermittelten einen abweisenden, unbezwingbaren Eindruck; eine Mauer, deren schierer Anblick einem bereits die Hosen zerriss. Einen Anflug von Größe gestatteten sich die Vereinigten Gemeinden aber doch, und zwar in Form eines überkuppelten Säuleneingangs. Dies war, ehe unter den Juden selbst irgendein Kompromiss gefunden wurde, der Kompromiss, den sie mit der Außenwelt geschlossen hatten.
Die beiden Vorstände standen dabei und sahen zu, wie die neue Mauer errichtet wurde. Der verwestlichte Rabbiner von der Befreier-Schul hatte es abgelehnt zu kommen. Es war der junge Rabbiner aus der alten Heimat, der, nervös auf und ab gehend, darauf achtete, dass bestimmte Normen eingehalten wurden, und entsetzt feststellen musste, dass er plötzlich die Aufsicht führte.
Als der Mörtel getrocknet war, kamen die Vorsitzenden der Vereinigten Gemeinden für die Errichtung des Zaunes zurück. Sie waren überrascht, die Zuhälter auf ihrer Seite versammelt zu finden - ein Anblick, den jene aufrechten Juden gehofft hatten, nie wieder sehen zu müssen. Vor ihnen stand eine Reihe der berühmten Haudegen des Wohltätigen Ich, einschließlich des noch immer robusten Hezzi Doppelklinge, Kokosnuss Burstein und Hayim-Moshe »Einauge« Weiss. Über Talmud-Harry ragte der sehr große, sehr legendäre Schlomo die Stecknadel empor.
»Die Mauer ist allemal hoch genug«, sagte Talmud-Harry. »Ein Zaun ist eine unnötige Beleidigung.« Die Juden der Vereinigten Gemeinden hingegen hielten ihn nicht für eine Beleidigung; ihrer Meinung nach passte er gut zu den anderen Einzäunungen in der Gegend. Eine Reihe von üblen Drohungen lagen bereits in der Luft. Harry brauchte nichts groß hinzuzufügen. Er zeigte auf die Mauer und sagte nur: »Noch mehr wird hier nicht abgetrennt.«
Sie machten lange Gesichter und wandten sich an den Rabbiner, der nichts zu ihrer Unterstützung beizutragen hatte. Eine solide, zwei Meter hohe Mauer war, egal, welche Maßstäbe man anlegte, eine Abtrennung. Sie würde für eine Mehitza oder Suckah ausreichen und auch, um einen wild gewordenen Ochsen einzusperren. Noch während die Feinheiten erörtert wurden, gab Talmud-Harry grünes Licht. Ein kribbeliger Doppelklinge griff bereits an die Hüfte, und Schlomo die Stecknadel ballte die Finger seiner rechten Hand zu einer keulenähnlichen Faust. Feigenblum, der erste Präsident der Vereinigten Gemeinden und Vater des zweiten, sah es aus dem Augenwinkel. Er hielt dies für einen ausgezeichneten Moment, das Wort des jungen Rabbiners als verbindlich zu erklären, worauf ein schneller Aufbruch erfolgte.
Die Zuhälter wollten genauso wenig zweitklassig sein wie ihre Brüder, die den Bau einer Trennmauer verlangt hatten. Als sie die Fassade ihres Friedhofs errichteten, gaben sie eine - allerdings einen Meter höhere - Nachbildung des großen Kuppeleingangs in Auftrag, der die Trauernden auf der Seite der Vereinigten Gemeinden willkommen hieß.
Nochmals sei Gott gedankt, dass alles geregelt war. So konnte Talmud-Harry in Frieden sterben, und ihm blieb der Anblick...
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