Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Nervös?«
Die Gerichtsdienerin im Gerichtshaus von Nedre Romerike blickte mich mit einem vorsichtigen Lächeln an. Ich hörte auf, meine feuchten Finger ineinander zu verschränken.
»Ist das so deutlich zu sehen?«, fragte ich. Die Gerichtsdienerin lächelte ein bisschen breiter. Sie hatte seit mindestens einer Viertelstunde neben mir gesessen, aber erst jetzt sah ich, dass ihre Zähne gelb waren.
»Sagst du das erste Mal vor Gericht aus?«
»Ja.«
»Ein ganz besonderer Fall«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich.
Ich hatte nicht viel über das erzählt, was geschehen war. Die Polizei hatte mich natürlich noch einmal vernommen, aber Bitten um Interviews mochte ich nicht nachgeben. Ich hatte keine Lust, im Fernsehen oder Radio aufzutreten oder etwas zu Leuten zu sagen, die ich gar nicht kannte.
Jetzt allerdings blieb mir keine Wahl mehr.
Ich hatte versucht, mich so gut wie möglich vorzubereiten, aber alles, was ich über Gerichtsverhandlungen wusste, stammte von Netflix, und ich hatte so das Gefühl, dass die Wirklichkeit doch ein bisschen anders aussah, jedenfalls in Norwegen. Die Unsicherheit war einer der Gründe, warum ich in den letzten Nächten nicht sehr viel geschlafen hatte, und die vielen Erinnerungen, die ich jetzt noch einmal würde durchleben müssen.
Die Tür vor mir öffnete sich. Ein Mann in Uniform bedeutete mir mit einem Kopfnicken, dass ich ihm folgen sollte. Ich holte tief Luft und stand auf. Sah die Gerichtsdienerin an.
»Und jetzt zu dir«, sagte sie und lächelte mich aufmunternd an. Ich zupfte meine Hosenaufschläge gerade, knöpfte mein Sakko zu und zog ein wenig an den etwas zu kurzen Manschetten meines Hemdes.
»Und jetzt zu mir«, sagte ich.
Ich fragte mich, ob ich es schaffen würde, alles zu erzählen, und wie ehrlich ich wohl sein könnte. Aber ich hoffte, dass dann alle zu Hause in Fredheim und auch im Rest des Landes besser verstehen würden, was an den kalten, nassen Oktobertagen im vergangenen Herbst bei uns im Dorf geschehen war.
Der Uniformierte führte mich durch eine breite Tür und in einen großen Saal. Und dann war es wirklich wie im Fernsehen; Gesichter, die sich zu mir umdrehten, eine plötzliche erwartungsvolle Stille, die bald einem Murmeln wich. Ich fand einen Punkt vor mir und fixierte ihn, war froh darüber, dass ich bis zum Zeugenstand einige Meter gehen musste. Das Geräusch meiner Schritte gab mir noch etwas, worauf ich mich konzentrieren konnte.
Ich hob den Blick und sah Mama, sah, wie schrecklich das alles für sie war, dass sie versuchte, sich von den bösen Wörtern, die sie heute früh auf dem Weg zum Gericht gehört hatte, nicht zermürben zu lassen.
Ich nahm im Zeugenstand Platz und drehte mich zum Saal um. Erst jetzt ging mir auf, wie viele Menschen gekommen waren, um mir zuzuhören. Der Saal war vielleicht halb so groß wie ein Handballplatz, aber er war gesteckt voll mit Leuten, alle Reihen waren besetzt. Einige standen sogar ganz hinten. Zuerst konnte ich niemanden erkennen, ich sah nur ihre Köpfe, aber das wurde besser, nachdem ich mich gesetzt hatte. Und Atem holte. Dann konnte ich die Presseleute ausmachen, auch den Kommissar, Yngve Mork, neben ihm Rektor Brakstad, Kaiss und Fredrik saßen ebenfalls da, zusammen mit anderen, die ich aus der Schule kannte. Nun drang eine Stimme durch das Gemurmel und Getuschel zu mir durch, und ich begriff, dass ich nun dem Gericht meinen Namen nennen sollte. Ich wandte mich dem Richter und den beiden Schöffen zu.
»Even Tollefsen«, sagte ich und räusperte mich ganz kurz - ich musste mich zum Mikrofon vorbeugen, damit mich alle hören könnten.
»Wie alt sind Sie, Even?«
»Achtzehn.«
Ich registrierte zwar die Richtung, aus der die Fragen kamen, aber nicht, wer sie stellte. Ich dachte nur daran, dass ich so gut antworten musste, wie ich nur konnte, auf eine Frage nach der anderen. Dann würde es bald vorüber sein.
Oder vielleicht doch nicht?
Ich hatte irgendwo gelesen, wenn man sich nur dafür entschied, weiterzuleben, würde das Leben auch wieder seinen Gang aufnehmen. Ich begriff nur nicht, wie ich es je schaffen sollte, zu dieser Entscheidung zu gelangen.
Ich wurde aufgefordert, dem Gericht zu erzählen, wo ich wohnte und was ich von Beruf sei. Ich sagte, ich wohnte im Granholdvei in Fredheim und ginge noch zur Schule.
»Gesamtschule Fredheim?«
»Richtig.«
»Und Sie leben bei Ihrer Mutter Susanne Tollefsen.«
»Ja. Mit Tobias, meinem jüngeren Bruder. Mein Vater, Jimmy, ist gestorben, als ich noch klein war.«
Ich wusste nicht viel über die Staatsanwältin, die diese Fragen stellte, außer dass sie mit Nachnamen Håkonsen hieß. Sie war klein und schlank, sah fast aus wie ein Mann in ihrem schwarzen eng sitzenden Anzug. Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das vor ihr stand. Ich hätte das auch gern getan, aus meinem Mund kamen Schmatzgeräusche, wenn ich etwas sagte. Dann musste ich schwören, die Wahrheit zu sagen. Das tat ich und schluckte danach hart.
»Mari Lindgren«, sagte die Staatsanwältin. »Können Sie dem Gericht sagen, in welcher Beziehung Sie zu ihr gestanden haben?«
Ich holte Luft und versuchte, daran zu denken, wie mir zumute gewesen war, als ich an jenem Morgen aufwachte. Schon damals hatte ein Teil von mir gewusst, dass etwas Schreckliches passieren würde. Ich hatte es am ganzen Körper gespürt.
»Sie war meine Freundin«, sagte ich. »Wir waren seit einer Weile zusammen.«
»Aber am 17. Oktober vorigen Jahres waren Sie kein Paar mehr, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Für die Gerichtsstenografen die Frage bitte hörbar beantworten«, sagte die Staatsanwältin.
»Äh, nein«, sagte ich.
Die Wahrheit war, dass Mari zwei Tage zuvor mit mir Schluss gemacht hatte. Sie hatte mir mitten in der zweiten Halbzeit des Spiels Chelsea-Leicester eine SMS geschickt:
Even, du bist wunderbar, aber wir können nicht mehr zusammen sein. Sorry.
Das war alles.
Ich hatte natürlich eine Erklärung verlangt, aber sie hatte mir nie geantwortet - weder als ich anrief noch als ich eine weitere SMS schickte.
Jedes Mal, wenn ich es bei ihr zu Hause versuchte, war sie immer gerade nicht da.
An jenem Montag, dem 17. Oktober, konnte ich sie auch in der Schule nicht ausfindig machen. Ich versuchte, mit ihrer Mutter zu sprechen, aber die sagte nur, sie wisse nicht so recht, wo Mari stecke oder was passiert sei.
Erst später ging mir auf, dass Cecilie Lindgren mich belogen hatte. Und dass mehrere von Maris Freundinnen mich anlogen, weil wirklich keine von ihnen mir helfen wollte, sie zu finden. Dass Mari sich ganz einfach vor mir versteckte.
»An dem Abend gab es eine Schulaufführung?«
Die Staatsanwältin ließ es wie eine Frage klingen. Ich wollte schon nicken, riss mich aber zusammen und sagte »Ja«.
»Aber Sie waren nicht dabei?«
Ich beugte mich wieder ein wenig zu dem Mikrofon vor.
»Nein.«
Ich hätte an dem Abend in der Schulband spielen sollen, aber ich brachte es einfach nicht über mich, auf der Bühne zu sitzen und in den Saal zu blicken, um dann vielleicht Mari zu entdecken. Ich wusste, dass sie für die Schülerzeitung berichten würde, wusste, dass ich es nicht schaffen würde, mich auf die Musik zu konzentrieren, wenn ich sie erst gesehen hatte. Ich wollte auch den anderen den Abend nicht verderben, deshalb sprang Imo, mein Onkel, für mich ein. Er war der musikalisch Verantwortliche für die Aufführung, das war also kein Problem. Imo entschuldigte mich damit, dass ich krank sei, was von der Wahrheit auch nicht so weit entfernt war. Ich fühlte mich wie gerädert. Lag nur in meinem Zimmer und starrte die Wand an, während ich auf einen Anruf von Mari wartete.
Aber sie rief nicht an.
Das alles versuchte ich dem Gericht zu erklären.
»Sie haben an dem Abend das Haus also nicht verlassen?«, fragte Staatsanwältin Håkonsen.
»Nein, ich war zu Hause in meinem Zimmer.«
Die Richterin schaute kurz in ihre Unterlagen, ehe sie den Blick wieder zu mir hob, ihre Brille gerade rückte und sagte: »Erzählen Sie dem Gericht, was am nächsten Tag passiert ist, so wie Sie es erlebt haben.«
Und das tat ich.
Ich hatte es nicht ausgehalten, im Bett zu liegen zu bleiben und mich von einer Seite auf die andere zu wälzen, deshalb war ich aufgestanden, obwohl es noch so früh war. Ich hatte eine Unruhe im Leib wie noch nie. Es war, als ob irgendetwas in mir versuchte, mir eine Sache zu erzählen, die ich gar nicht wissen wollte.
Dieses scheußliche Gefühl ließ mich auch nicht los, als ich geduscht und gefrühstückt hatte, aber ich versuchte mir einzureden, es liege sicher an zu wenig Schlaf oder ich sei trotzdem unterzuckert.
Ich ging hinaus auf den Flur und zog meine Jacke an. Betrachtete mich einige Sekunden im Spiegel und fragte mich dabei, ob ich Mari etwas getan hatte. Ob ich etwas Falsches gesagt hatte. Ob sie mich nicht mehr leiden konnte. Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare, ich hatte genug Gel darin, nun lagen sie ungefähr so, wie ich das wollte - glatt nach hinten und in den Nacken gekämmt. Ich wusste, dass ich ziemlich gut aussah. Ich war eins fünfundachtzig, hatte fast kein Gramm Fett am Leib, war gar nicht blöd und absolut überdurchschnittlich umgänglich. Glaube ich. Ich sagte mir, dass es mir nicht schwerfallen würde, eine neue Freundin zu...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.