Schweitzer Fachinformationen
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Vier Tage vor Heiligabend ist es draußen zwölf Grad unter null, und die Fahrt zum Wohn- und Fürsorgezentrum geht nur langsam, weil es so heftig geschneit hat. Auf der Hauptstraße ist noch kein Schnee geräumt worden, und mein Wagen schlingert in den tiefen Spurrillen.
Auf der Rückbank liegt ein Buch, das ich aus Høn mitgenommen habe, oder, genauer gesagt, es sind viele Hefte, die zu einem Buch zusammengebunden sind. Puttes Buch steht auf dem handbemalten Stoffumschlag, neben einem stolzierenden Hahn. Mutter wurde von Freunden aus ihrer Kindheit und von ihrer Familie Putte genannt. Diesen Spitznamen bekam sie, weil sie als unruhiges kleines Kind in einen blau karierten Stoffsack geputtet wurde, wie beim Golf. Puttes Buch besteht aus kleinen Kindergeschichten und Versen. Ich kann sie alle auswendig, weil Mutter sie alle auswendig konnte, weil sie sich als Kind das Buch vorgelesen hat, und dann später uns, mehrere Hundert Mal. Jetzt hoffe ich, dass sie sich noch daran erinnern kann. Und dass ich es ihr vorlesen kann.
Die Straße nach Bråset ist kurvenreich, ich fahre vorbei an einem großen Wohngebiet aus den Neunzigerjahren mit ansehnlichen zweistöckigen Häusern in einem Gewimmel aus kleinen Straßen. Jedes dieser fast identischen Häuser hat etwas Souveränes, als wüssten sie, dass die Felder, die dort einst lagen, die Weiden und der Wald, nie mehr zurückkehren werden. Ganz im Gegenteil wird hier gegraben und abgeholzt, im Dienste einer immer aggressiveren Wohnungsbaupolitik.
Im Frühling konnte Mutter endlich in diesem Pflegeheim in der Nachbargemeinde aufgenommen werden, nach drei Jahren Bitten und schließlich Drohungen unsererseits. Da musste sie schon rund um die Uhr betreut werden, und sie klammerte sich ans Telefon wie an einen Rettungsring. Immer wieder und unter verzweifeltem Weinen rief sie ihre Schwester, Maja Lise, und uns Kinder an, weil der Alltag sich so unbegreiflich gebärdete.
Die Gemeinde Asker hat hier etwa vierzig Plätze gemietet. Das Haus ist aus rotem Ziegelstein, mit flachem Dach und langen Gängen. Jede Abteilung ragt wie eine Pier heraus, eine abgegrenzte Welt mit Ausgang zu einem eigenen Garten, für dessen Pflege die Gemeinde jedoch kein Geld hat. Vor der kleinen Plattform der Piers lauert deshalb zu jeder Jahreszeit eine chaotische Wildnis, und ich hoffe manchmal, dass sie Mutter durch ihre demente Nebellandschaft ein beruhigendes Gefühl von Wald geben kann, von Høn.
In Mutters Abteilung wohnen zehn alte Männer und Frauen, alle mit unterschiedlicher Ausprägung von Vergesslichkeit, Verwirrung und Verzweiflung. Aber nur Mutter läuft weinend umher und ruft laut, wütend oder ängstlich. Die anderen sitzen meistens in ihren Sesseln, unter einer Decke und auf einer dünnen Plastikschicht, damit kein Urin ins Polster zieht. Stattdessen tropft die Pisse auf den Boden.
Ich betrete den Hauptgang und streife, wie gefordert, blaue Überzüge über meine Stiefel. Im Café gleich hinter dem Eingang steht ein großer künstlicher Weihnachtsbaum, geschmückt mit Weihnachtskerzen und norwegischen Flaggen, und ganz oben thront der funkelnde Stern. Die runden Tische sind mit Weihnachtsblumen dekoriert.
Alles hinter diesen Türen erzählt von Anstalt. Die hellgelbe Farbe an den Wänden, die grünen Sessel, der süßliche antiseptische Geruch in den Gängen, wo Rollstühle, Rollatoren, knallbunte Trainingsbälle und andere Hilfsmittel aufgereiht sind.
Während ich mit Puttes Buch in der Hand durch den Gang laufe, denke ich daran, dass Mutter vor fünfundzwanzig Jahren durch einen ähnlichen Flur gegangen ist. Ihre Mutter, die ebenfalls Ruth hieß, wurde um die Mitte der Achtzigerjahre ins Pflegeheim des Roten Kreuzes im Silurvei in Oslo gebracht. Mein Großvater besuchte sie jeden Werktag, an den Wochenenden waren entweder Mutter, Maja Lise oder eins von uns Enkelkindern bei ihr. Ich erinnere mich an den Sessel auf dem Gang, in dem Oma mit einem sanften Lächeln saß, und an Opa, der die Anstaltsbilder an der Wand gegen Omas eigene Bildern austauschte. Und an den Mann, der immer nach seiner verstorbenen Frau rief. Jedes Mal wenn ich dort war, hörte ich ihn nach Gladys rufen. Manchmal wütend, gebieterisch: »Gladys!« Andere Male gedehnt, klagend und schmerzlich: »Gladyyyyys.« Einmal schaute ich zu ihm rein und sagte aufmunternd: »Sie kommt gleich.« Sein verkniffenes Gesicht, das sich voller Vorfreude öffnete, hat mich noch lange danach gequält.
Man jagt nach den kleinen lichten Sekunden und hofft, dass die düsteren in der Vergessenheit verschwinden.
Was hat Mutter über ihre Besuche im Silurvei gesagt? Ich weiß nur noch, dass sie sagte, es sei nett gewesen. Weder traurig noch verzweifelt, oder dass sie wünschte, es wäre vorüber. Sie sagte, dass sie ihrer Mutter vorlas und ihren Handrücken streichelte. Ich erinnere mich an Omas Hände. Nach über siebzig Jahren mit Terpentin, groben Lappen und Ölfarben waren sie noch immer weich. Und mit der vom Schlag gezeichneten Hand, die keinen Pinsel mehr halten konnte, nahm sie endlich Opas Nachnamen an, nach fünfundfünfzig Ehejahren. Ende der Zwanzigerjahre kam es selten vor, dass eine Frau bei der Heirat ihren Mädchennamen behielt. Es war gelinde gesagt wohl auch ungewöhnlich, heimlich zu heiraten und mit einer Pferdedroschke vom Rathauscafé dem nichts ahnenden Schwiegervater, dem stattlichen Axel Karelius Krefting, eine Flasche Champagner zu schicken und zu schreiben: »Danke für die Braut!«
Das hatte mein Großvater getan.
Hatte ich damals wohl ein Interesse an Mutters Gedanken über diese Besuche? Die Antwort ist höchstwahrscheinlich Nein.
Die Tür zu Mutters Abteilung, der A 2, öffnet man von außen, indem man auf einen Schalter drückt. Wenn man die Abteilung verlassen will, muss man sich an einen Code erinnern. Ich bin froh, dass es diese Codes gibt. So ungefähr das Letzte, was meine Schwester getan hat, ehe Mutter den Platz in Bråset bekam, war, ein Bild von ihr zu machen und an die Datenbank der Polizei zu schicken. Damit sie wüssten, wen sie suchen sollten, falls sie sich verirrte.
Ich drücke auf den länglichen Schalter, die Tür gleitet auf, und ich gehe hinein. Es sind Mutters Bilder, die im Gang an der Wand hängen, beleuchtet von den Neonröhren unter der Decke. Als sie herkam, haben wir gefragt, ob wir einige von ihren Bildern aus Høn aufhängen dürften. Die Antwort war ein dankbares Ja. Jetzt hängen figurative und abstrakte Gemälde und Lithographien an den gelben Wänden, zwischen grünen Pflanzen und Mitteilungen über Sitzgymnastik, Andacht und Liedertafel. Der Anblick zweier dieser Bilder versetzt mich in einen allgemeinen Zustand der Sehnsucht, einen unbestimmten Wunsch, dass das Leben anfangen möge. Ich schaue durch die Tür zum Fernsehzimmer, wo ich meine Mutter nicht finde, stattdessen schallt aus dem Fernseher eine Diskussion darüber, ob Lehrerinnen an staatlichen Schulen Kopftuch tragen dürfen. Im Zimmer sitzt Gro Hansen, manchmal ein Quell von wiederholten Höflichkeitsfloskeln von der Sorte: »Was Sie nicht sagen, guten Appetit, das wäre ja noch schöner, wie geht es Ihnen?« Um gleich danach den Tonfall zu ändern und mit leiser, grober Stimme Dinge zu sagen wie: »Du hast doch keine Ahnung, wie das geht, du bist ja so was von scheißdoof, darauf kannst du einen fahren lassen!«
Und Ove Pettersen, der dünn wie ein Schilfhalm ist, aber einen hüpfenden Schmerbauch vor sich herträgt, als ob er unter Hemd und Weste schwanger wäre. Jetzt steht Ove Pettersen vor dem Fernseher, aber normalerweise läuft er mit fragender Miene im Gang hin und her, als ob alle, die ihm begegnen, potenziell nahe Verwandte seien. Er geht und geht, in allen Zimmern ein und aus, bis jemand freundlich seinen Arm nimmt und ihn zum Esstisch oder in seinen eigenen Raum bringt.
Aus der Küche strömt ein konzentrierter Geruch nach Räucherwurst, Schweinerippe und Kümmelkohl, vom Essen, das sie vor einigen Stunden verzehrt haben. Beim Kühlschrank steht Aferdita, Mutters Hauptkontaktperson. Ich weiß nur ganz wenig über die Menschen, die Mutter jeden Tag versorgen, die ihrem dünnen nackten Körper unter die Dusche helfen, die ihr die verfilzten Haare auskämmen, die mit ihr spazieren gehen – aber wir reden freundlich und unverbindlich miteinander. Mit denen, die einen ausreichenden norwegischen Wortschatz haben, habe ich eine dankbare, fast muntere Gesprächsform entwickelt. Aferdita ist Mitte vierzig und kommt aus dem Kosovo. Sie ist eine energische Frau, voller Fürsorge. Ich habe ihr gesagt, dass sie mich auch bei der geringsten Veränderung anrufen kann, wenn es um Mutter geht. Das tut sie nicht, aber sie ruft an, um mitzuteilen, dass Mutter ihre Nylonstrumpfhose nicht mehr gefällt, dass sie Geld auf ihrem Frisierkonto braucht, dass sie eine neue Hose mit Gummizug im Bund braucht, keine mit schwierigen Knöpfen. Mutter, die immer so sorgfältig auf ihre Kleider geachtet hat, ohne eitel zu sein, weint jetzt, wenn sie keine Trainingshose tragen darf. »Wir lassen sie anziehen, was sie will«, sagt Aferdita. »Auch wenn sie das früher nie getragen hätte.« Das klingt vernünftig. Sie ruft auch an, wenn Mutter wütend wird, weil ihr niemand bei einem Lied beispringen kann. Wieder und wieder kann sie singen: »Wie schön blüht uns der Maien«, ohne dass irgendwer ihr zur nächsten Zeile weiterhelfen könnte. Dann ruft Aferdita an, oder eine der anderen Pflegerinnen, und fragt: »Kannst du Ruth erlösen?« Und ich habe eine verzweifelte Mutter am Telefon, die sich vermutlich wie eine Nadel vorkommt, die in einer Plattenrille hängen geblieben ist. »Der Sommer fährt dahin«, singe ich. Im Zug oder in der Warteschlange im...
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