Schweitzer Fachinformationen
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An einem Sommerabend des Jahres 1873 lief Bertha Torgersen über die neue Brücke vom Festland zur Insel auf der anderen Seite des Sundes.
Bisher unterschied sich Berthas Leben nicht wesentlich vom Leben anderer Kinder in Haugesund. Sie war mutterlos, seit der Geburt, die auch ihre kleine Schwester das Leben gekostet hatte, ihr Vater war mit einer siebzehn Jahre jüngeren Frau eine neue Ehe eingegangen, die Wohnung war voll von Kindern, älteren Verwandten und Untermietern. Von Kleidern, die zum Trocknen aufgehängt waren, Essensgeruch und Menschengeruch, Husten und Lachen. Von Gottesglauben und Träumen von besseren finanziellen Verhältnissen.
Bertha konnte es wohl kaum wissen, aber Pflichten und Menschen in der Wohnung zu vernachlässigen, um hinaus nach Bakarøynå zu laufen, bedeutete die freiesten Augenblicke ihrer Kindheit. Nichts konnte sich mit diesen Ausflügen zur anderen Seite der Insel messen, atemlos, allein zu sein und auf dem flachen Stein dort draußen zu stehen, Wellen und das Meer vor sich, und kleine und große Schiffe zu zählen.
Und später, wenn sie die Kerze ausgeblasen hatte und die kleine Halbschwester, mit der sie das Bett teilte, eingeschlafen war, konnte sie sich jedes der Schiffe vorstellen, die sie dort draußen gesehen hatte. Wenn sie davon träumte, wohin ein Segelschiff unterwegs war, hämmerte ihr Herz manchmal heftig, sie schwelgte in der Vorstellung, wie ein hochgewachsener Matrose in exotischen und geschäftigen Häfen Jagd auf ein schönes Schmuckstück für seine geliebte Tochter machte, und diese Tochter war sie selbst. Oder sie dachte sich an Bord eines Dreimasters, in der Rolle der Kapitänstochter, die größere Kenntnisse über Windrichtungen und Meeresverhältnisse besaß als die Matrosen.
Natürlich erzählte sie niemandem von diesen Träumen, denn sie wusste über Meeresströmungen und Windrichtungen nicht mehr als andere Kinder in Haugesund, und ihr Vater stand nicht am Steuerruder eines Schiffes, sondern bohrte die Hände in Blut, Innereien und Fleisch. Als junger Mann war er von Egersund nach Norden gewandert, um für einen älteren Bruder zu arbeiten. Nach vielen Jahren als Kaufmann hatte Josef Torgersen sich nun als Schlachter etabliert.
Nun lief sie also über die Brücke, sodass ihre Schuhsohlen auf die Bretter knallten.
Auf der Landkarte hieß die Insel, die sie erreichte, Hasseløy, aber sie wurde niemals anders genannt als Bakarøynå, weil vor langer Zeit einmal dort draußen ein Bäcker gehaust hatte.
Bei Haugeverven wurde sie langsamer, am Hang oberhalb des Gerüsts, das um das große Schiff herum errichtet worden war; in der Werft wurde eine Bark gebaut. Das Gerüst erinnerte an ein riesiges, schützendes Skelett. Zwei Männer unten am Hang sahen neben dem halb fertigen Koloss aus wie kleine Holzmännlein.
Dass sie mit ihren fast zehn Jahren tatsächlich weglief und ihre Stiefmutter mit Kinderhüten und Haushaltsarbeit allein ließ, hätte ihr ein schlechtes Gewissen machen müssen, aber dem war nicht so, auch wenn sie gehört hatte, wie Serine sich beim Vater darüber beklagte, wie erschöpft sie sei. Normalerweise wäre sie auch nicht weggelaufen, ohne Bescheid zu sagen, ohne dass sie zuerst Wasser geholt, bei der Betreuung ihrer Schwester geholfen oder ihre Hausaufgaben gemacht hätte, aber an diesem Nachmittag war Bertha unaufmerksam gewesen und über irgendetwas gestolpert, und dabei hatte sie die grünrote Glasvase umgerissen, die ihr Vater und Serine zur Hochzeit bekommen hatten. Obwohl sie die Scherben aufgelesen und immer wieder um Entschuldigung gebeten hatte, war Serine wütend geworden und hatte geschrien, die Stieftochter solle sich sonst wohin scheren.
Zum ersten Mal näherte Bertha sich also dem Aussichtspunkt und dem Stein - ohne dass es irgendwer wusste, dass sie hierhergelaufen war.
Sowie sie den höchsten Punkt erreicht hatte, blieb sie abrupt stehen, denn etwas hier stimmte nicht.
Eine Gestalt an ihrem Platz.
Da hätte niemand stehen dürfen.
Es war ein Junge, vielleicht zwei Jahre älter als sie. Mit selbstsicherer Haltung stand er dort, bewegungslos auf dem Stein, mit dem Rücken zu ihr. Er schaute hinauf in den abendgelben Himmel, der sich im Meer spiegelte. Sie verspürte eine wachsende Verärgerung, aber zugleich schämte sie sich, denn sie wusste natürlich, dass weder Aussicht noch Grund und Boden ihr gehörten. Aber es war noch nie vorgekommen, sie hatte sich nicht einmal vorstellen können, dass noch andere auf die Idee kamen, genau diese Stelle aufzusuchen, die sie als ihre eigene betrachtete.
Während sie noch immer vielleicht ein Dutzend Meter von dem Jungen entfernt war, fiel ihr auf, dass er eine weiße Schirmmütze aus Segeltuch trug, die aus der Entfernung an eine Postmütze erinnerte, dazu ein blaues Hemd über einem verschlissenen Pullover. Vielleicht war er ein Postbote, der sich verirrt hatte? Seine dunkle Hose war zu groß, wurde aber von Hosenträgern festgehalten. Also war er wohl doch kein Postbote, denn er stand barfuß auf dem Stein, und Bertha bemerkte neben ihm auf dem Boden zwei völlig ausgelatschte Schuhe.
Unschlüssig blieb sie stehen. Was, wenn er sich umdrehte und sie hier entdeckte, als wäre sie dumm oder schrecklich neugierig? Sie hustete und ging mit kleinen Schritten auf seinen Rücken zu. Nun trat er einen Schritt nach rechts, um ihr auf dem Stein Platz zu machen. Sie kletterte neben ihn.
Er sagte nichts, deshalb starrte auch sie wortlos zu den länglichen Inseln im Westen hinüber und suchte nach Schiffen. Sie sah weder Galeassen noch Vollschiffe, die am allerschönsten waren, aber sie entdeckte zwei kleinere Jachten und drei unterschiedlich große Boote. Einige waren auf dem Weg in den Smedasund, andere fuhren hinaus in die Welt, aber die ganze Zeit richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Jungen neben ihr.
Dann sagte er: »Ich fahr raus.«
Sie wandte sich um und sah ihn an, doch er starrte noch immer auf das Meer hinaus. Der Mützenschirm überschattete seine Augen, aber er hatte eine markante Nase und einen ernsten Mund.
Was, wenn er darauf wartete, dass sie etwas sagte? Er bewegte sich, vielleicht wurde er ungeduldig?
Deshalb sagte sie: »Ich auch.«
Er reagierte nicht, und Bertha fragte sich, ob sie zu weit gegangen war, weil sie dasselbe wollte wie ein junger Mann mit Plänen für ein Leben auf See.
Dennoch wiederholte sie: »Ich will auch raus.«
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass er nickte, und deshalb fügte sie hinzu: »Ich werd natürlich nicht fischen. Aber was anderes. Vielleicht in einer anderen Stadt. Wirst du Fischer? Oder . bist du das schon? Mein Bruder wird das nämlich. Torger. Er will sich ein eigenes Boot zulegen.«
Sein Schweigen brachte ihre Gedanken durcheinander, und sie hatte ihn geduzt. Aber er machte sie neugierig und eifrig, obwohl sie eigentlich hätte schweigen müssen.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Nicht Fischer. Aber ich fahr raus.«
»Nach Amerika?«
»Kann schon sein.«
»Ist dein Vater in Amerika?«
»Nein.«
»Ist er Fischer?«
»Was du alles wissen willst.«
Aber dann antwortete er doch: »Er war Fischer.«
»Aber jetzt nicht mehr?«
»Nein. Tot.«
»Ach so. Meine Mutter auch.«
»Tot?«
»Ja.«
»Ach so.«
Wieder schaute sie zu ihm hoch. Er blickte noch immer mit ernster Miene auf das Meer und den Himmel.
Eine Möwe draußen auf dem Wasser schlug mit den Flügeln, vielleicht fünfzehn, zwanzig Meter von ihnen entfernt. Sie schien plötzlich aufgetaucht zu sein und jetzt irgendwo festzuhängen. An einem Netz oder einer Reuse.
»Die kommt nicht los!« Sie zeigte auf den weißen Vogel, der in Sekundenschnelle das Meer mit Flügelschlägen und Panik gefüllt hatte. Ein Möwenschrei klang wie der eines Menschen, schrill und klagend.
Sie hatte das Gefühl, dass die Panik des Vogels auch in ihr aufstieg. Als ob sie von etwas Unbekanntem unter Wasser gezogen würde.
Alle Ermahnungen der Erwachsenen, niemals ins Wasser hinauszugehen, ertranken im Mitleid mit der Möwe, denn wenn sie gerettet werden sollte, musste Bertha sich ins Wasser zwingen, auch wenn sie nur wenige Züge schwimmen konnte. Sie sprang vom Stein, lief zum Wasser und hatte gerade die Schnürsenkel an ihrem braunen Lederschuh geöffnet, als der Junge plötzlich hinter ihr stand. Er streifte Hose, Pullover, Hemd und Mütze ab und watete in seiner verwaschenen und verschlissenen Unterwäsche hinaus.
Aber nicht auszudenken, wenn der Vogel nun dort draußen lag und schrie, um den Jungen anzulocken und ihn mit sich in die Finsternis hinabzureißen? In denselben Tod, der Seeleute verschlang!
Was sollte sie machen, wenn der Junge unter der Wasseroberfläche verschwand? Dann müsste sie versuchen, ihn zu retten. Gebannt beobachtete sie, wie er mit fünf, sechs raschen Zügen hinausschwamm.
Ja! Sie würde es schaffen, sie könnte ihn und den Vogel vor dem Ertrinken retten, wenn sie die beiden auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen ließ!
Aber dann drehte er sich um, und sie sah, dass er die Augen weit aufgerissen hatte. Sie starrte ihn an, bis er keuchend an Land kroch.
»Es ist zu kalt.« Er schnappte nach Luft, und die Worte kamen stoßweise aus seiner Kehle.
Aber wo war sie jetzt, die Möwe? Bertha konnte sie nicht sehen.
»Die ist weg!« Seine Stimme klang schrill.
Hatte er auch gedacht, gerade diese Möwe sei etwas Besonderes, weil er versucht hatte, sie zu retten? Denn alle, die an der Küste wohnten,...
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