Puzzleteil 2:
Resilienz und Stress
Wir haben definiert, was Konflikte, Krisen und Traumata bedeuten. Alle drei Begebenheiten haben eines gemeinsam: Sie versetzen das körpereigene System in einen anderen Zustand als die Entspannung. Hier spricht man grundlegend von Stress.
Stress ist eine Anpassungsleistung des Organismus, also eine gute Strategie, um Erlebnisse zu bewältigen. Das Stresssystem reagiert dabei unterschiedlich stark auf Reize und versucht dabei stets, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Für das Resilienztraining deines Hundes sind zwei Merkmale von großer Bedeutung: der bewältigbare und kontrollierbare sowie der nicht bewältigbare und unkontrollierbare Stress, genauso wichtig wie ein Lesen der Signale und Verhaltensweisen, damit du alles passend einsortieren kannst. Empfindet dein Hund den Stress als bewältigbar, kann er selbst in diesem Zustand noch lernen und sich neue Handlungsfähigkeiten aneignen. Dafür braucht es dein gutes Auge, um zu erkennen, wie stark der Stress für deinen Hund ist. Du prüfst also wann deine Unterstützung notwendig wird oder wo dein Hund selbstständig wirken kann. Dieses Wirken hat einen großen Mehrwert für deinen Vierbeiner. Denn bei eigenständig gelösten Aufgaben ist der Lerneffekt wesentlich höher und tief gehender, als wenn du die Lösung übernimmst. Aus diesem Grund sollte sich dein Hund ein Alternativverhalten möglichst selbst erarbeiten, so bekommt er in dem Bereich die wichtige Kontrollerfahrung und Selbstwirksamkeit, das bedeutet, er hat das Gefühl die unangenehme Situation kontrollieren zu können. Ein wichtiges Thema der Resilienz.
© Anna Auerbach/Kosmos
Müde oder Stress? Ein Ausdrucksverhalten muss richtig erkannt und gedeutet werden. Dann kann auch passend darauf eingegangen werden.
Ist der Stresslevel jedoch zu hoch, passiert das Gegenteil: Dein Hund ist nicht mehr aufnahmefähig, geht in die Überforderung, und es tritt kein positiver Lerneffekt auf. Drei Trainingsfeldern darfst du daher Beachtung schenken: zum einen die Komfortzone, in der dein Hund keinen Stress hat, regenerieren kann und sich sicher fühlt, zum anderen die bewältigbare Stresszone, in der Konflikte stattfinden und sich neue Kompetenzen zur Lösung entwickeln. Der Fokus liegt hier auf der Kontrollerfahrung - die unbewältigbare Stresszone, in der Lernen nicht mehr möglich ist und dein Hund kein Gefühl der Kontrolle hat. Interessant dabei ist: Je mehr er sich in der bewältigbaren Stresszone aufhält - inklusive der Regenerationszeit in der Komfortzone - desto kleiner wird das Feld des unbewältigbaren Stresses, denn seine Konzepte zur Stressbewältigung wachsen und stärken das Vertrauen in seine Kompetenzen. Die Krisen-Reaktionskraft steigt, er wird somit resilienter!
© Horst Streitferdt
Je mehr das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten besteht, desto gelassener ist der Umgang mit Konflikten.
Steht dein Hund vor einer neuen Situation, entscheidet seine Bewertung, ob und wie stark sein Gehirn und Körper darauf reagieren. Je bedrohlicher er die Situation einstuft und je weniger Kompetenzen er zur Lösung bei sich sieht, desto stärker ist die Stressreaktion. Auch in der bewältigbaren Stresszone kann dein Hund verschiedene Verhaltensweisen zur Konfliktlösung und -anpassung zeigen. Um diesen Stress von der unbewältigbaren Zone zu unterscheiden, braucht es einen Blick für die feinen Abstufungen. Entscheidend ist zudem das "Danach": Wie schnell kann dein Hund sich wieder entspannen, und wie stark wirkt die Situation nach?
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Entspanntes Ausdrucksverhalten trotz der lauten Umgebung.
TRAININGSFELDER
Komfortzone
Merkmale: Ruhe, Regeneration, Sicherheit
Ausdruck (abhängig von Rassemerkmalen, Lernerfahrungen und Umweltbedingungen): die Muskeln sind entspannt, die Rute hängt entspannt runter oder wedelt leicht, der Körper ist mittig und ausbalanciert, der Fang ist locker geschlossen (kein Hecheln), die Ohren sind entspannt und werden hauptsächlich zur Geräuschorientierung bewegt, das Gesicht sieht glatt aus, die Augen schauen ruhig und koordiniert, die Pupillengröße ist normal, die Bewegungen sind weich.
Verhalten: Der Hund liegt viel, döst oder schläft, zeigt eine entspannte Wachheit, nach Schreckmomenten (Topf fällt runter o. Ä.) findet er schnell wieder in die Entspannung, in neuen Situationen zeigt er eine ruhige Neugierde, bzw. Interesse an seiner Umwelt.
Bewältigbarer Stress
Merkmale: Neues, Ungewohntes, leichte Unsicherheit, positiver Ausgang, sichtbare Emotionen beim Hund
Ausdruck (abhängig von Rassemerkmalen, Lernerfahrungen und Umweltbedingungen): die Muskeln sind unterschiedlich stark angespannt, die Rute ist entweder leicht eingezogen, leicht angespannt wedelnd oder aufgerichtet, der Körperschwerpunkt ist entweder leicht vom Reiz weg, präsent stehend oder mit leicht angespannter Tendenz nach vorne zum Reiz gerichtet, der Fang ist angespannt, eventuell leicht hechelnd, die Ohren sind leicht zurückgerichtet oder angespannt nach vorne, die Gesichtsmuskulatur ist angespannt, die Pupillen sind vergrößert.
Verhalten: Trotz der Anspannung zeigt der Hund nach einer gewissen Zeit ein Erkundungsverhalten, schnuppert oder versucht, anderweitig die Situation einzusortieren. Neugierde ist vorhanden. Bei Ansprache schaut er seinen Menschen an oder in seine Richtung, er kann noch ein gut sitzendes Kommando ausführen, bei Berührungen folgt eine Reaktion des Hundes.
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Trotz Stress: eine Annäherung ist noch möglich, der Hund befindet sich in der bewältigbaren Stresszone. Dieser Konflikt muss jetzt für den Hund positiv ausgehen.
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Ein "Stressgesicht". Wird die Berührung als positiv wahrgenommen, oder ist sie der Grund für den Stress? Die Nähe des Menschen sollte im Optimalfall stressmindernd wirken.
Nicht bewältigbarer Stress
Merkmale: Neue oder bekannte Situation, stark meidend, starke Unsicherheit, hoher Stresslevel, starke Emotionen
Ausdruck (abhängig von Rassemerkmalen, Lernerfahrungen und Umweltbedingungen): Alle Muskeln sind angespannt, nach längerer Dauer des Stresses kann es auch in die tonische Immobilität gehen (alle Muskeln erschlaffen), die Rute ist unter dem Bauch eng eingezogen oder in einem sehr angespannten Modus kurz und schnell wedelnd, der Körperschwerpunkt ist stark vom Reiz weg oder zum Reiz hin mit hoher körperlicher Anspannung, die Lippenmuskulatur angespannt, die Ohren sind nach hinten gelegt oder aufrecht stehend, die Gesichtsmuskulatur weist viele Falten auf, die Pupillen sind stark geweitet und der Blick hektisch oder stark fokussiert.
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Hier geht der Stress in einen nicht bewältigbaren Zustand über. Der Hund geht in die Hilflosigkeit oder tonische Immobilität. Alle Muskeln erschlaffen, und es folgen keine Ideen der Konfliktlösung.
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Manche Rassemerkmale erschweren gelegentlich die Lesbarkeit.
Verhalten: Kein Erkundungsverhalten, keine Neugierde, keine Ansprechbarkeit, kein Ausführen von gut sitzenden Kommandos möglich. Starke Emotionen wie Wut, Ärger oder Angst sind zu sehen. Der Hund bellt, beißt, schreit oder rennt in Panik weg, oder er gibt auf und friert ein (Freeze). Eine weitere Möglichkeit ist die Erschlaffung aller Muskeln. Die Situation hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck, der Hund braucht lange, um wieder in seinen Normzustand zu finden.
Du möchtest deinen Hund sicher nicht im unbewältigbaren Stress sehen. Doch ein wenig Stress sollten wir unseren Hunden zutrauen, damit sie ihre Lernerfahrungen machen können und einen Umgang damit finden.
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Bei allen Verhaltensweisen zählt nicht nur der IST-Zustand, sondern vor allem das "Danach". Wie schnell findet der Hund wieder in einen regulierten Zustand zurück? Das ist die Messmöglichkeit für den empfundenen Stress und seine Bewältigbarkeit.
DER STAHLBADEFFEKT
Was dich nicht umbringt, macht dich stärker . ein abgewandelter Spruch von F. Nietzsche, der im Kern einiges mit der Resilienz zu tun hat. Vor einigen Jahren gab es dazu eine spannende Studie, die von dem Stahlbadeffekt ("Steeling"-Effekt) sprach. Der Psychologe Mark Seery fand heraus, dass Menschen, die mehrere Schicksalsschläge erfahren haben, psychisch gesünder und emotional stabiler sind als Menschen, die das nicht erlebt haben. Im Durchschnitt waren die TeilnehmerInnen der Studie mit drei oder vier negativen Erlebnissen psychisch am gesündesten. In meiner Arbeit erlebe ich einige ehemalige Straßenhunde, die negative Erlebnisse mit sich tragen und mit einer ausgeprägten Resilienz die Hürden des Alltags bewältigen. Hier kann ich aus meiner Erfahrung das Ergebnis der Studie bestätigen. Nun könnte man ableiten, dass es gesund sei, den Hund zu stressen, damit er durch dieses "Stahlbad" stärker wird. Bis zu einem gewissen Punkt würde die Ableitung auch passen, denn nur wer Stress und Bewältigung erlebt hat, kann nachfolgend mit diesen besser umgehen. Doch gibt es dabei einiges zu bedenken.
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Einige Straßenhunde besitzen eine äußerst gute Resilienz, vor allem in dem Bereich, Cleverness und Regulation.
Erstens:...