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»Leb' wohl, Christina« - Letzte Klappe auf der Mainau
Vom Balkon seines Hotelzimmers aus kann er den Säntis sehen. Bei Föhn liegt der Schweizer Hausberg des Bodensees zum Greifen nah. Selbst ohne Fernglas erkennt Herbert auf dem Gipfel die Umrisse der Bergstation der Seilbahn. Dort oben werden echter Bohnenkaffee, Alpenbitter und Bratwurst mit Älplermagronen serviert. Sehnsüchtig schauen die Mitglieder seiner Berliner Filmcrew frühmorgens beim dünnen Zichorienkaffee auf der Hotelterrasse über den glitzernden See zum Schweizer Ufer. Die Grenze zwischen Konstanz und der Schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen liegt kaum fünf Gehminuten vom Inselhotel entfernt. Doch im Sommer 1944 ist sie fest verschlossen, ein Übertritt in die Freiheit undenkbar.
Am 20. Juni war der Mann, der 16 Jahre später mein Vater werden sollte, mit seinem Filmteam in der Grenzstadt Konstanz angekommen. In Berlin waren die Johannisthal-Studios der Tobis-Filmkunst bereits mehrfach von Bomben schwer getroffen worden, auch Außenaufnahmen waren wegen der laufenden Tag- und Nachtangriffe der Alliierten in der Berliner Umgebung kaum mehr möglich. Die Rote Armee rückte von Osten auf Berlin zu, immer häufiger war in den Wochenschauen von »Frontbegradigungen« und der »Abwehrschlacht« gegen die »asiatischen Horden« die Rede.
Zwei Wochen zuvor waren die Westalliierten in der Normandie gelandet. Das Ende des »Dritten Reiches« war abzusehen. Doch Filmminister Joseph Goebbels hatte die verstaatlichten Filmgesellschaften des Reiches angewiesen, bis zum sicheren »Endsieg« vor allem »volksberuhigende Unterhaltung«1 zu produzieren. Die Weisung entsprach durchaus dem Bedürfnis der Bevölkerungsmehrheit: Bis Kriegsende besuchten die Deutschen durchschnittlich 14-mal im Jahr ein Kino, um dem Alltag zu entkommen. Im Jahr 1944, als die Tobis-Filmcrew am Bodensee drehte, wurden 1,1 Milliarden Eintrittskarten verkauft, obwohl schon Hunderte Kinos im Reich durch Bombentreffer zerstört waren.2
Der promovierte Jurist Herbert Engelsing war seit 1937 Leiter einer von zeitweise neun Herstellungsgruppen der Tobis-Filmkunst GmbH. Er hatte große Unterhaltungserfolge wie den Heinz-Rühmann-Film »Der Mustergatte« und exotische Abenteuerstreifen wie »Das indische Grabmal« und »Der Tiger von Eschnapur« produziert. 1940/41, als England der Hauptgegner im Krieg war, wurden in seiner Gruppe zwei anti-englische Tendenzstreifen und zwei Spielfilme aus dem HJ-Milieu hergestellt. Jetzt war er mit einer 50-köpfigen Crew und einigen Stars an den Bodensee gereist, um seichte Unterhaltung zu drehen: »Umarmt das Leben«, steht als Arbeitstitel auf dem vergilbten Drehbuch, das auf dem Dachboden meines Elternhauses die Zeiten überdauert hat. Erst während der späteren Atelieraufnahmen in Berlin erhält der Film seinen endgültigen Titel: »Leb' wohl, Christina«.
Das Drehbuch hatte Gustav Fröhlich, einer der Lieblingsdarsteller des damaligen deutschen Kinopublikums, nach dem gleichnamigen Roman des jungen Autors Fritz von Woedtke geschrieben. Der Produktionschef der Tobis, Ewald von Demandowsky, vertraute Fröhlich auch die »Spielleitung« des Films an. So nannte man in Nazi-Deutschland streng eingedeutscht die Regie. Elf Jahre zuvor hatte der Schauspieler im Film »Rákóczy-Marsch« erstmals Regie geführt. Für »Leb' wohl, Christina« sagte ihm die Tobis das stattliche Honorar von 30.000 Mark plus 6000 Mark für Treatment und seine Mitarbeit am Drehbuch zu.
Im November 1943, als die Rote Armee die ukrainische Hauptstadt Kiew erobert hatte und die Alliierten auf der Konferenz von Teheran um die europäische Nachkriegsordnung rangen, sicherte sich die Rechtsabteilung der Tobis-Filmkunst von Buchautor Woedtke noch die »Weltverfilmungsrechte« an seinem Roman und entlohnte ihn dafür mit 10.000 Mark.3 Zu diesem Zeitpunkt kann eigentlich niemand mehr ernstlich an eine internationale Vermarktung des Stoffs geglaubt haben.
Auch in Friedenszeiten wäre aus dieser Geschichte kein großer Film geworden: In einem »Seeschulheim« am Bodensee führt der kriegsversehrte Schulleiter Dr. Erich Petersen ein mildes Regiment. Die Schülerinnen und Schüler des kleinen Internats erhalten Geschichtsunterricht unter den alten Bäumen des Schlossparks, deklamieren Shakespeare-Verse zur Vorbereitung auf eine Schulaufführung, reiten morgens mit dem beliebten Schulleiter aus und springen nachmittags zur Schwimmstunde gemeinsam in den See.
Nicht zufällig erinnert die Bezeichnung des Internats an die »Landerziehungsheime« in der Tradition des Reformpädagogen Hermann Lietz, die nach 1933 überwiegend gleichgeschaltet wurden. Hier herrscht ein »kameradschaftlicher« Ton zwischen Pädagogen und Schülern. Petersen nimmt die Jugendlichen ernst, und er appelliert mit seinen liberalen Erziehungsmethoden an ihre Eigenverantwortlichkeit. Doch der »eiserne Erich«, wie ihn die Schüler nennen, dessen kriegsbedingt »toter Arm« im Handschuh steckt, hat ein Geheimnis: Er hat sich in seine Oberstufen-Schülerin Christina verliebt. Auch Mitschüler Hans, ein couragierter Junge aus gutem Haus, liebt das Mädchen. Als »Neuer« übersteht er die rauen Initiationsrituale des Internats, stellt sich wegen Christina einem Boxkampf und entgeht so der »Hordenkeile« der männlichen Mitschüler. Christina lässt ihn anfangs kühl abblitzen, dann bewundert sie seine Tapferkeit, doch lieben kann sie ihn nicht.
In einer gängigen Fernsehkomödie unserer Tage fielen sich am Ende Hans und Christina in die Arme. Der verliebte Lehrer wäre dagegen eine höchst problematische Figur, weil er sich als viel Älterer und noch dazu Erzieher zu einer 18-Jährigen hingezogen fühlt. Doch im vorletzten Kriegsjahr 1944 liegen die Verhältnisse anders: Unterschwellig transportiert die Geschichte die zeitbedingt aktuelle Botschaft, dass auch die reiferen kriegsversehrten Männer als treusorgende Ehemänner infrage kommen. Ein Großteil der heiratsfähigen jungen Männer war bereits im Krieg gefallen. Übrig blieben die Vatertypen.
Die Besetzung des Films unterstreicht diese Aussage: Willy Birgel, Darsteller des Dr. Petersen, war damals 53 Jahre alt. Der frühere Bühnenschauspieler hatte seit Mitte der 1930er-Jahre als charmanter Grandseigneur und aufrechter Offizierstyp, etwa im Streifen »Reitet für Deutschland« von 1941, große Filmerfolge gefeiert. Christina, »mein großes, kleines Mädchen«, wie Petersen sie nennt, wird von Käthe Dyckhoff gespielt, die damals gerade 31 Jahre alt geworden war und auf Schulmädchen getrimmt wurde. Der verschmähte Liebhaber Hans wurde vom 29-jährigen Fritz Wagner dargestellt. Er war 1941 mit dem Propagandastreifen »Stukas« bekannt geworden. Zwei Jahre nach Kriegsende wird er in Helmut Käutners berühmtem Trümmerfilm »In jenen Tagen« einen kriegsbegeisterten Leutnant spielen.
In der entscheidenden Szene gesteht Dr. Petersen, von Christina geschickt dazu gedrängt, seine Liebe. »Sie sind zwar noch jung, aber schließlich kein Kind mehr«, stellt er fest, bevor er sich ihr offenbart. Sie streicht über seine Prothese und säuselt: »Man liebt den ganzen Menschen, auch seine kleinen Fehler.« Ab jetzt will sie seine »rechte Hand« sein, findet aber, Sebastian passe besser zu ihm als Erich. »Nenn mich, wie du willst, aber bleib bei mir!« Streng entgegnet sie: »Du ., denk an die Schulordnung! Ich bin noch immer deine Schülerin!«4 Bald darauf verlässt Christina die Schule, um auf Petersen zu warten. Hans sieht ein, dass Christinas Herz nicht ihm gehört. Lehrer und Nebenbuhler werden zu »Kameraden«, gemeinsam kehren Pädagoge und Schüler ins Internat zurück.
Ob diesen Unsinn im Sommer 1944 auch nur ein an der Produktion beteiligtes Mitglied der Filmcrew ernst nimmt? Darum geht es gar nicht. Wichtig ist nur, mit einem Produktionsauftrag möglichst lange aus dem bombenbedrohten Berlin herauszukommen. Bereits im Frühjahr war Regisseur Gustav Fröhlich mit dem für das Projekt eingesetzten Filmgeschäftsführer Kirchheimer an den Bodensee gereist, um geeignete Drehorte auszukundschaften, hilfsbereite Einheimische anzusprechen und hiesige Komparsen auszuwählen. Der Chefportier des Inselhotels, ein kauziger Schweizer namens Bleuler, wird sein engster Vertrauter. Ihn und andere lokale Ratgeber entlohnt er mit großzügigen Trinkgeldern.
Während deutsche Städte in Trümmer sinken und in den Konzentrationslagern noch Hunderttausende ermordet werden, streiten der Filmstar und die Filmgesellschaft nach seiner Rückkehr um die Spesenabrechnung. Die Tobis akzeptiert seine großzügig verteilten »kleinen Ausgaben« nicht; er dagegen legt dar, so habe er dem Konzern »viele andere Kosten« erspart: »Ich bin in Konstanz von Pontius zu Pilatus gelaufen, obwohl das keineswegs mein Beruf ist, weil es mir Freude machte.«5 Tatsächlich hatte auch Fröhlich nebenbei die Gelegenheit benutzt, die Lage an der Schweizer Grenze auszukundschaften und einen Vorrat an Kaffee und Schokolade zu bunkern.
Fast zwei Monate lang genießen Bautechniker, Beleuchter, Kameraassistenten, Kabelträger, Maskenbildnerinnen, Friseure, Gewandmeisterinnen, Pferdepfleger und eine Handvoll Stars und Nachwuchsdarsteller im Sommer 1944 die Exklave des Friedens am Bodensee. Herbert Engelsing hat für diese Produktion selbst die Rolle des Produktionsleiters übernommen, um vor Ort dabei sein zu können. Neben der täglichen Verwaltungsarbeit nutzt er die Zeit, um zu sondieren, wo in dieser bombenfreien Gegend seine aus Berlin anfangs in den Schwarzwald evakuierte Frau Inge und die Kinder Thomas und Katharina unterkommen könnten. Auch er will seine Familie in Sicherheit...
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