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Nele Heute besuche ich Lissy und die beiden Kleinen! Kinderbuchillustratorin Nele verspürte nach einem kreativen Tag an der Staffelei große Sehnsucht nach ihrer besten Freundin und deren Kindern Liuna-Marie und Niels, dessen Patentante sie war. Seitdem sie wieder viel in ihrem Atelier in List arbeitete, das sie von ihrem guten Freund Ole gemietet hatte, sah sie die drei viel seltener als üblich. Das war schade, denn sie liebte es, die Fortschritte der Kleinen mitzuerleben, zu bestaunen und zu dokumentieren. Mittlerweile hätte sie eine Buchreihe mit all den Skizzen, Fotos und Acrylbildern gestalten können, die sie im Laufe der Zeit gemacht hatte: Liuna-Maries erster Tag am Meer, der Moment, an dem sie von Neles Zitroneneis genascht und sich genüsslich den süßen Mund geleckt hatte. Liu im Tiefschlaf, die Wangen gerötet, Liu bei ihr im Atelier, wo sie den Fußboden mit Wachsmalkreide bemalt hatte. Von Niels gab es noch nicht so viele Motive, denn er war gerade erst als spätes Frühchen geboren worden.
Nele streckte sich ausgiebig, um den steif gewordenen Rücken zu entspannen, und betrachtete zufrieden die Komposition der Bilderwelt auf der Leinwand, in der zarte Feen und Elfen emsig umherschwirrten. Sie hoffte, dass diese Fabelwesen die Herzen der Kinder erfreuen würden, wenn sie sich das Bilderbuch anschauten, und wünschte nicht zum ersten Mal, sie könnte in solchen Momenten dabei sein. Ich schenke der kleinen Liu eines der Originale für das Kinderzimmer, sobald das Buch in den Druck gegangen ist, beschloss Nele, während sie sorgsam die Pinsel säuberte, anschließend das Malwasser in den Abfluss des Waschbeckens goss und fasziniert dabei zusah, wie sich das pastellfarbene Rinnsal einen Weg ins Innere des Beckens bahnte. Dann vernahm sie ein forderndes Maunzen und bückte sich, um Kater Campino zu kraulen, der gerade ins Atelier getapst war und sie mit seinen grün schimmernden Augen ansah. »Na mein Schöner«, flüsterte sie. »Du hast bestimmt Hunger.« Die Antwort des Maine-Coone war ein müdes Gähnen, er blinzelte mehrmals und folgte Nele auf Samtpfoten in die Küche. Wie fast alle Katzen war auch Campino sehr verwöhnt, und man wusste nie, ob er das Abendessen innerhalb kürzester Zeit verputzen oder der Futterschale nach dem ersten Happs beleidigt den Rücken zukehren würde. Doch diesmal schien es zu passen, denn Campino schmauste vergnügt, während Nele sein Katzen-WC säuberte, eine weitere Schüssel mit frischem Trinkwasser und eine dritte mit Trockenfutter füllte. »Tut mir leid, ich kann dir nicht länger Gesellschaft leisten, denn ich muss gleich nach Keitum und daheim nach dem Rechten schauen. Ich hoffe, du vermisst Ole und Sophie nicht allzu sehr, denn es dauert noch ein Weilchen, bis die beiden von ihrer Reise zurück sind«, murmelte Nele und streichelte Campino wieder über das seidige Fell. »Also, mach's gut, bis morgen.«
Bevor sie ging, vergewisserte sie sich, dass die Katzenklappe funktionierte, denn der Kater stromerte nachts am Rande des Ortes List umher, wo es neben Mäusen und Vögeln noch viel mehr zu entdecken und jagen gab. Abschließend warf sie einen letzten Blick auf das Haus und stieg in ihr Auto.
Eine knappe halbe Stunde Fahrt später erreichte Nele das puppenstubenartige Dorf Keitum im Osten Sylts, in dem sie lebte, seit sie einst als junge, ungestüme Malerin aus Bremen hierhergekommen war, sich in die Insel und das dortige Leben verliebt hatte. In einem wunderschönen Kapitänshaus im Herzen des Dorfes, in dessen erster Etage sie zurzeit wohnte, befand sich das Buchcafé Büchernest. Nele war froh, dass zum Haus von Buchhändlerin Bea zwei Parkplätze gehörten, absolute Mangelware in Keitum. Es gab nämlich kaum etwas Nervigeres als Parkplatzsuche, außer natürlich Stechmücken, unhöfliche Menschen und diejenigen, die Strafzettel verteilten.
»Moin Nele, besuchst du Lissy heute noch?«, fragte Beas Freundin Vero, die soeben aus dem Café kam, das im Pavillon des großen Gartens untergebracht war, als Nele parkte und die Fensterscheibe herunterkurbelte. »Wenn ja, könntest du ihr das bitte mitbringen?« Die rundliche, rotwangige Vero war bepackt mit einem Korb voller Köstlichkeiten, die sie am Ende des Tages großzügig an diejenigen verschenkte, die Appetit auf Milchreis mit roter Grütze, Sylter Sommersalat mit Ziegenkäse, eine kräftige Kartoffelsuppe mit Krabben oder sahnige Friesentorte mit Pflaumenmus hatten. All dies waren Spezialitäten aus ihrem Café und für gewöhnlich bis auf den letzten Krümel von den Gästen vertilgt, doch in den vergangenen Wochen hatte sich das deutlich geändert.
Nele stieg aus dem klapprigen Auto, das beinahe mehr Zeit in der Werkstatt verbrachte als auf den Straßen der Insel. »Na klar, das mache ich sehr gern. Aber erzähl mal: Wie war dein heutiger Tag? Genauso wenig los wie in den vergangenen?«
Vero seufzte tief und wirkte, als bräuchte sie Trost und Zuspruch. Nach außen hin war die Mitte siebzigjährige Dame scheinbar durch nichts zu erschüttern und Ruhe und Optimismus in Person. Doch wenn ihre Nasenflügel bebten und der linke Mundwinkel zuckte, wussten diejenigen, die sie liebten: Es ist an der Zeit, Vero zuzuhören und nicht nur die eigenen Sorgen bei ihr abzuladen. »Okay, Botschaft verstanden. Magst du einen Eistee, und wir setzen uns damit einen Moment auf die Bank, bevor ich zu Lissy gehe«, schlug Nele vor, und Vero nickte dankbar. »Fein, dann bereite ich uns eine Kanne zu, und du machst es dir inzwischen im Garten gemütlich.«
Im ersten Stock des Kapitänshauses angekommen, streifte Nele die bequeme Jeanslatzhose ab, in der sie am liebsten malte, und tauschte sie gegen ein luftiges Sommerkleid, gebatikt in den Farben Hellbeige, Türkis und Gelb, die sie an Strand, Meer und Sonne erinnerten und ihre grünen Augen zum Leuchten brachten. Zudem harmonierten die Töne hervorragend mit ihren kupferfarbenen Locken, die sie meist zu einem lässigen Knoten schlang.
»Ich danke dir«, sagte Vero, als Nele wenig später das Tablett mit dem Erfrischungsgetränk, zwei Gläsern mit Zitronenzesten, Minze sowie einem Schälchen Pistazien auf den hellblau gestrichenen Tisch vor der Bank stellte. Für Ende August war es immer noch ungewöhnlich warm auf Sylt, selbst an den Abenden konnte man es gut ohne Pullover aushalten, sogar am Strand, wo für gewöhnlich eine leichte Brise wehte.
Vero trank das erste Glas in einem Zug aus, dabei konnte Nele, als sie sich neben die Freundin setzte, den zarten Flaum sehen, der sich im Laufe der Jahre an Veros Kehlkopf gebildet hatte. Würde ihr das auch passieren, wenn sie älter wurde?
»Also, was ist los?«, fragte Nele und wackelte mit den Zehen, während sie die nackten Beine so weit in die Luft reckte, wie es ihre wenig trainierte Bauchmuskulatur zuließ.
Vero kommentierte die kleine Gymnastikübung nicht weiter, sondern starrte auf den hübschen Pavillon, in dem seit gut einem halben Jahr ihr Café logierte, das früher direkt in der Buchhandlung untergebracht gewesen war und zu dieser Zeit sehr viele Gäste angelockt hatte.
»Nichts ist los, und genau das ist das Problem.« Vero legte so viel tragisches Pathos in diese wenigen Worte, dass sie damit sogar Nele ausstach, die den Beinamen Dramaqueen trug. »Es ist ohnehin schon schwierig, die Gäste in dieses abgelegene Café zu lotsen, doch seit der Foodtruck von Starkoch Holger Hartwig an der Kreuzung schräg gegenüber parkt, ist hier mehr als tote Hose. Wenn das so weitergeht, muss ich wohl oder übel die Segel streichen.«
Nele blinzelte gegen die schräg stehende Sonne, die bald hinter dem Friesenwall mit den Sylter Heckenrosen, der das Grundstück von Buchhändlerin Bea umsäumte, untergehen würde. Das fröhliche Zwitschern der Vögel in den Laubbäumen und das emsige Summen der Bienen bildeten einen harten Kontrast zu Veros Stimmung, es tat Nele in der Seele weh, dass ihre liebe Freundin zurzeit von großen Sorgen geplagt wurde. »Hey, wo bleibt dein berühmter Optimismus?«, fragte sie, um Vero aufzumuntern. »Meinst du nicht, dass sich das alles wieder einrenkt, sobald das Wetter schlechter wird und der Herbst kommt? Viele Urlauber lieben die stürmische Nebensaison und reisen ganz bewusst erst nach Sylt, wenn hier nicht mehr so viel los ist. Da trinken sie dann literweise Tee mit Kluntjes, essen Waffeln und Friesentorte, und die Kasse klingelt wieder Sturm.«
»Unser neuer Standort ist aber nicht so zentral gelegen, wie der alte am Keitumer Watt, wo man unweigerlich vorbeikommt, wenn man spazieren geht«, hielt Vero seufzend dagegen. »Außerdem ist unsere Terrasse viel zu klein. Deshalb gehen alle lieber zur Kleinen Teestube oder zu Nielsens Kaffeegarten mit dem traumhaften Blick aufs Wattenmeer.« Vero zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, und Nele konnte es ihr leider auch nicht verdenken. Es war wirklich furchtbar, dass das frühere Büchernest zuerst einem Wasserschaden zum Opfer gefallen war und die Immobilie im Anschluss der Teilsanierung so umgebaut wurde, dass vier kleine Ferienwohnungen darin Platz fanden, deren Vermietung deutlich mehr einbrachte als die bisherige Pacht. Tourismus war nun mal die wichtigste Einnahmequelle auf Sylt.
»Wie lange lässt denn Hartwig seinen Wagen dort stehen?«, fragte Nele, die fieberhaft überlegte, was man gegen die trübe Stimmung Veros, die sinkenden Gästezahlen im Café, aber auch in der Buchhandlung tun konnte - ein leidiges Problem, das die vier Freundinnen seit Jahren beschäftigte und sich offenbar nicht dauerhaft lösen ließ.
»Angeblich bis zur Winterpause im Februar«, knurrte...