Claudia Wuttke
Weitewelt
erscheint im April 2018
»Es gibt Situationen, da kommt man weder vor noch zurück. Und in so einer stecke ich.«
Für die alleinerziehende Vertriebsassistentin Annabel Wiesengrund hätte es der entscheidende Tag in ihrer Karriere werden sollen. Doch alles geht schief - und zu der entscheidenden Präsentation kommt es erst gar nicht.
Stattdessen findet sich Annabel zusammen mit Töchterchen Romy in einem kleinen Kaff in Schleswig-Holstein namens Weitewelt wieder. Und in einem zauberhaften alten Haus, das sie von Tag zu Tag mehr in seinen Bann zieht. Bald stellt sie fest, dass sie gar nicht mehr fort will, denn das Haus ist inzwischen für sie zum Traumpalast geworden
Doch ihr kleines Paradies ist bedroht .
1 Es gibt Situationen, da kommt man weder vor noch zurück. Und in so einer steckte ich gerade. Gas geben half nicht, denn der Unterboden meines Ford Fiesta hatte bereits so stark aufgesetzt, dass es ziemlich verdächtig roch. Selbst hier drinnen. Dabei wollte ich nur den Wagen über mir vor einem Dachschaden bewahren. Ich hatte den unteren Teil eines Hebebühnenparkplatzes in einer Tiefgarage gemietet und wegen des Wagens über mir die Rampe nicht richtig hochgefahren. Also hing ich nun auf dem Absatz von fünfzehn Zentimetern mit meinem Wagen fest. Ich wäre ja gerne ausgestiegen, aber das ging nicht mehr. Als hätte sich auch die ganze Elektronik aufgehängt, reagierte mein Auto auf gar nichts mehr. Selbst der mechanische Türöffner war blockiert. Und meinen Scheibenhammer hatte ich neulich mit in die Wohnung genommen, um ein Bild aufzuhängen. Ich besitze sonst nicht so viel Werkzeug.
So hing ich also quer gestellt auf dem Mittelboden meines schicken, schwarzen, auf Raten gekauften Ford zwei Stockwerke tief unter der Erde und vergeigte gerade die unwiederbringliche Chance, beruflich mal so richtig einen Schritt weiter zu kommen. Denn heute war der Tag des amerikanischen Investors! Heute war der Tag meiner Präsentation. Der Tag, der alles hätte verändern sollen.
In meiner Verzweiflung griff ich in die Frühstücksdose meiner Tochter, die ich an diesem Morgen leider in meiner Tasche vergessen hatte. Machte nichts, in letzter Zeit aß sie sowieso grundsätzlich das, was Phoebe in ihrer Dose hatte. Und die war wirklich ein schlechter Esser.
Meine Tochter ist übrigens vier und heißt Romy.
Ich bin einundvierzig, eine Zahl, die man immer ausschreiben sollte, und heiße Annabel. Annabel Wiesengrund. So wie der Philosoph mit zweitem Vornamen: Theodor Wiesengrund Adorno. Darauf war ich lange Zeit irgendwie stolz, bis ich merkte, dass der zweite Vorname einer Persönlichkeit, die sowieso keiner mehr kannte oder aber vergessen hatte, auch nicht mehr bedeutete als der Nachname eines gewöhnlichen Menschen. Was dann wieder ganz gut zu mir passte: Entweder man kannte mich nicht, oder man vergaß mich ganz schnell wieder.
Ich kaute auf dem Salamibrot herum, von dem ich mich wunderte, dass ich es meiner Tochter hatte zumuten wollen, und überlegte. Die Uhr im Display des Cockpits zeigte 8:53. Wäre ich nicht in diese fatale Schräglage geraten, hätte ich meinen Arbeitsplatz durchaus noch pünktlich betreten können. Ich hätte meinen Kolleginnen aus dem Call-Center zuwinken können, um dann lächelnd beschwingt in meiner Zelle zu verschwinden, den PC anzuschalten, mir die Kopfhörer aufzusetzen und auf das kleine elektronische Board zu schauen: Rot bedeutete, der Anschluss des Kollegen war besetzt, Grün, der Kollege war frei. Grünes Blinklicht hieß: Du bist die Nächste!
So aber war das Einzige, was Grün blinkte, das Digitaldisplay meiner Uhr, die inzwischen auf 9:03 stand, und ich pendelte noch immer in meinem Auto auf und ab, ohne dass jemand gekommen wäre, um mich zu retten.
Ich zog mein Handy aus der Tasche und sah schon an den nicht vorhandenen Netzbalken, dass ich wirklich tief gesunken war. Das zweite Untergeschoss machte einfach kein Empfänger mehr mit.
Na ja, was soll's?, dachte ich. Ich war ein Fachmann für ausweglose Situationen. Und warum hätte ich mir einbilden sollen, dass ausgerechnet heute, an dem Tag, auf den ich seit locker sechs Wochen hingearbeitet hatte, die Dinge mal so liefen, wie ich sie mir vorstellte? Nimm's mit Humor, sagte ich mir und schaukelte vor Begeisterung vor und zurück, bis ich merkte, dass mein noch recht neues Gefährt Anstalten machte mitzuschaukeln.
Es war, wie gesagt, der Tag des amerikanischen Investors. Es war der Tag, an dem endlich auch mal mein Geschäftsbereich, der für die U18, die Unter-18jährigen, im Brennpunkt des Interesses stehen würde. Jetzt, um genau zu sein, vor 5 Minuten, hätte ich beginnen sollen, meine Power-Point-Präsentation auf den Beamer zu spielen, um meinem Chef und dem amerikanischen Investor beweisen zu können, dass auch jugendfreie Produkte eine Chance auf dem Weltmarkt hatten. Einrollbare Trinkflaschen aus bpa-freiem Silikon für Kinder, hergestellt in Solingen! Das hatte die Welt noch nicht gesehen! Quietschbunt. Orange mit grünem Verschluss. Pink mit blauem Verschluss. Gott, waren die süß! Ich hatte sie an Romys viertem Geburtstag den Kids in die Tütchen mitgegeben. Ich konnte die Anrufe der begeisterten Mütter danach kaum zählen. Drei bestimmt.
Lange und hart hatte ich dafür gearbeitet, der globalisierten Welt zu beweisen, dass mit pinkfarbenen Schleifchen versehene Strings, Dildos in Bananen- oder Gurkenform oder simple Lacklaibchen nicht besser in das Konzept eines modernen Unternehmens passten als aufrichtige Solinger Knautschflaschen. Lange genug hatte ich unter den mitleidigen Blicken von Bärbel, Katrin und Kerstin gelitten, die meinten, mit ihrer 18.00-Uhr-Schicht und den daraus resultierenden Erfolgsprämien etwas Besonderes zu sein. Arrogante Wohlstandssingles waren das.
Ich hatte nur auf meinen Tag gewartet. Und dieser Tag wäre heute gewesen. Montag, 11. März.
Schade eigentlich.
Ich kramte in meiner Tasche nach einer Nagelfeile, denn bei dem wilden Einparkmanöver war mir leider der Nagel meines rechten Zeigefingers abgebrochen. Das beruhigend sägende Geräusch erfüllte mich mit einer gewissen Genugtuung: Endlich konnte ich mir auch mal während meiner Arbeitszeit die Nägel feilen - so wie BKK, Bärbel, Katrin und Kerstin.
Ich war gerade bei einer sympathischen Rundung angekommen, als mich ein unangenehmes Hupgeräusch aus den Gedanken riss.
Sicher, irgendwann musste das ja passieren. Ein Touareg wollte an mir vorbei in seine Parklücke. Allein, was sollte ich tun? Ich konnte doch nichts dafür, dass die Autos immer protziger und die Tiefgaragendurchfahrten immer schmaler wurden. Das war das Gesetz der Ökonomie: Viel Geld provoziert3 viele Autos, und viele Autos provozierten das Verlangen nach viel Platz, den es eben aber leider nicht gab. Jedenfalls nicht, wenn etwas dazwischenkam. So wie jetzt mein Ford.
Ich hatte mich schon oft gefragt, wozu so ein betriebswissenschaftliches Studium im Kern gut war. Während sich mir mit meinem gesunden Menschenverstand durchaus ohne die acht Semester erschloss, wie die Welt funktionierte, wussten die Ökonomen nicht, wer Adorno war, geschweige denn, was das W. seines zweiten Vornamens bedeutete. Dass die trotzdem schneller mehr Geld verdienten, als ich es jemals tun würde, war Teil dieses logischen Systems. Das hatte ich im Grundkurs Philosophie auch erklärt bekommen, den die nie gemacht hatten. Vielleicht lag es daran. Aber ehe ich noch weiter diesen nicht gerade hilfreichen Gedanken nachhängen konnte, wurde ich von einem lauten Klopfen gegen das Fahrerfenster unterbrochen.
»Woll. . her. overnach.?«
Rein akustisch folgte noch ein bisschen mehr, aber die Scheibe war von dem Atem dieses ziemlich großen und ziemlich kräftigen Mannes so beschlagen, dass ich ihm leider nicht weiter von den Lippen ablesen konnte, und ohne diese Hilfe war er kaum zu verstehen. Ich beugte mich nach vorne und klopfte meinerseits von innen gegen die Frontscheibe, um Blickkontakt aufzunehmen. Der Mann hatte verstanden und sah mich wütend an, wobei er seine Schultern mit ausgebreiteten Armen fragend hochzog. Genau das jedoch fiel auch mir nur als Zeichen meiner Ratlosigkeit ein, und ich nehme an, von außen betrachtet sahen wir ziemlich merkwürdig aus, wie wir beide synchron mit den Schultern auf und ab zuckten.
»ICH STECKE HIER FEST!«, rief ich dann sehr laut, und mein Mund machte die entsprechend ausgeprägten Bewegungen dazu. Aber der Mann, der offenbar nicht so gut im Lippenlesen war wie ich, hielt sich nur seinen Zeigefinger ans Ohr und schaute weg. So laut war es doch auch wieder nicht, dachte ich noch, bis ich das schmale Kabel erkannte, das ihm vom Ohr bis unter den Hemdkragen reichte. Das wiederum faszinierte mich. Vielleicht war er ein VIP-Chauffeur, ein Bodyguard, ein Killer, ein Mafioso. Vielleicht würde er mich hier gleich liquidieren, in der spärlich beleuchteten Tiefgarage, UG 2, einfach erschießen. Ich sah schon die Schlagzeilen in der Zeitung von morgen vor mir:
Frau am helllichten Tag hingerichtet!
Je tiefer ich in den Artikel einstieg, desto weniger gefiel er mir allerdings. Wenn das wirklich passierte, wer würde Romy dann vom Kindergarten abholen? Und ich hatte ihr versprochen, an diesem Tag noch mit ihr auf einen Ponyhof zum Reiten zu fahren. Eigentlich zur Feier des Tages, wegen meiner erfolgreichen Präsentation. Aber gut. So oder so hasste ich es, Versprechen zu brechen. Erst recht, wenn sie Romy betrafen. Und erst recht, wenn sie die Freizeitaktivitäten mit Romy betrafen, von denen es ohnehin nur so wenige gab. Ich war nun mal keine Perlen-Paula, die ihre Kinder nur aus Jux und Tollerei in...