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Lüneburg, Juli 1968
Lili zeigte nach vorn. »Guck mal, die Bank ist frei!«
»Na und?«, fragte John. »Müssen wir deshalb jetzt so hetzen?«
»Ach, komm. Sei kein Spielverderber.«
»Meinetwegen.«
Das klang nicht sonderlich begeistert, aber Lili war kaum überrascht. John war schon seit Wochen schlecht gelaunt. Sie hatte sich beinahe an sein mürrisches Gesicht gewöhnt.
Sogar ihrer Großmutter Margarethe war bereits aufgefallen, dass ihr Freund sich anders benahm als sonst.
»Was ist deinem Schatz denn über die Leber gelaufen?«, hatte sie erst gestern gefragt. »Ich habe ihn heute früh zufällig auf dem Markt getroffen, und er hat kaum die Zähne für ein >Moin< auseinandergekriegt. Man könnte meinen, der will sich scheiden lassen, dabei seid ihr noch nicht mal verlobt.«
Nach einem Blick in Lilis plötzlich kalkweiß gewordenes Gesicht hatte sie eine Hand gehoben und so getan, als wollte sie sich selbst ohrfeigen.
»Verzeih mir, Liebchen. Du weißt, ich rede immer, wie mir der Schnabel gewachsen ist. War nicht böse gemeint. Aber wenn ich du wäre, würde ich der Sache mal auf den Grund gehen. So eine schlechte Laune passt nicht zu deinem Sonnenschein. Irgendwas hat der Junge, und du solltest das ruckizucki herausfinden. Überraschungen, die von Männern kommen, sind selten erfreulich.«
Woraufhin sich Margarethes Freund Wilfried mächtig aufgeregt hatte und mit vielen schmatzenden Küssen beruhigt werden musste.
Lili hatte es darauf vorgezogen, schnell zu verschwinden. Sie gab es nicht gern zu, aber ihre Oma, die mit ihrem Liebhaber in wilder Ehe zusammenlebte, war ihr ein bisschen peinlich.
Margarethes Worte waren ihr jedoch nicht mehr aus dem Kopf gegangen, und so hatte sie sich an diesem herrlichen Sommertag vorgenommen, Johns Geheimnis zu lüften. Es war der letzte Sonntag im Juli, und von St. Johannis hatten die Kirchenglocken zum Gottesdienst gerufen, als sie ihr Elternhaus in der Papenstraße verlassen hatte, um John abzuholen. Im Gegensatz zu ihr lebte er nicht mehr zu Hause, sondern teilte sich mit zwei Arbeitskollegen eine kleine Wohnung an der Heiligengeiststraße.
Lili hatte nur den lang gestreckten Platz Am Sande mit seinen Backsteinhäusern und schmucken Treppengiebeln entlanggehen müssen und war schon nach zehn Minuten bei John angekommen.
Ihr Freund hatte ziemlich verschlafen gewirkt, war dann aber bereit gewesen, mit ihr zu einem Spaziergang aufzubrechen. Während sie gemeinsam den Weg zurück und dann weiter bis ins Wasserviertel gegangen waren, hatten sie beide geschwiegen. Aber es war nicht ihr übliches einvernehmliches Schweigen gewesen. Lili hatte ganz genau gespürt, wie angespannt John war.
Als sie nun auf der Lünertorstraße die Ilmenau überquerten und Lilis Ziel am alten Hafen ansteuerten, hielt sie es kaum noch aus. So nervös war sie, dass sie den Grund für dieses Treffen nur noch vergessen wollte.
Doch dann warf sie ihm einen Seitenblick zu und hätte am liebsten gekichert. John und sie gaben ein seltsames Paar ab. Früher waren sie beinahe gleich groß gewesen. Man hätte sie sogar für Geschwister halten können, weil sie beide dunkles Haar und braune Augen hatten und zudem ähnlich mager waren. Aber damals waren sie erst dreizehn gewesen.
In den darauffolgenden Jahren war John in die Höhe geschossen. Inzwischen maß er über einen Meter neunzig. Lili hingegen war wie ihre Mutter Anne von kleiner Statur. Heute reichte sie ihrem Freund gerade noch einmal bis zur Schulter. Und während John dünn und schlaksig geblieben war, hatte Lili frauliche Formen entwickelt.
»Was ist so lustig?«, fragte er.
Lili gluckste. »Ich habe mir nur überlegt, ob du noch größer werden willst. Dann müsste ich mich nämlich auf einen Stuhl stellen, wenn ich dich küssen will.«
Seine Mundwinkel zuckten, das sah sie ganz genau. Trotzdem blieb er ernst. »Mit zweiundzwanzig wachsen wir nicht mehr.«
»Es war nur Spaß.«
»Manchmal glaube ich, dir wär's am liebsten, wenn wir für alle Zeiten Jugendliche bleiben würden.«
Lili starrte ihn an. Auf einmal fühlte sie Wut in sich aufsteigen. Sie hatte nicht nur das Aussehen, sondern auch das Temperament ihrer Mutter geerbt. »Das ist gemein. Und das stimmt auch überhaupt nicht. Ich bin genauso erwachsen wie du und .«
». lebst noch immer wie ein Kind bei Mama und Papa«, fiel John ihr ins Wort.
Es klang abfällig, dabei war es völlig normal, dass junge Leute so lange im Elternhaus wohnen blieben, bis sie heirateten oder zum Studium in eine andere Stadt zogen. Daran hatten auch die aufgeklärten Sechzigerjahre nichts geändert. Zumindest nicht auf dem Land oder in Kleinstädten wie Lüneburg. Mochten in Westberlin die Hippies in ihren Kommunen die freie Liebe propagieren, ging es anderswo doch nach wie vor sehr viel gesitteter zu.
John Wagner war da eine Ausnahme, und es hatte ziemlich viel Gerede in der Stadt gegeben, als er mit seinen Kumpels zusammengezogen war. Aber er hatte sich wenig darum geschert, wie ihm überhaupt die Meinung anderer Leute nicht besonders wichtig war. Dabei hatte er so gar nichts von einem Revoluzzer an sich, sondern war ein wohlerzogener junger Mann mit höflichen Umgangsformen.
Während Lili wartete, dass ihre Wut verrauchte, betrachtete sie ihn unauffällig.
Wie gut er aussah! Sie konnte sich nie an ihm sattsehen. Sein schmales und zugleich kantiges Gesicht mit der kräftigen Nase gab ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem stolzen Indianer. Das schwarze, glatte Haar trug er nicht lang, wie viele seiner Altersgenossen, aber auch nicht ganz kurz. Es reichte ihm bis zum Kragen, und sobald es länger wurde, ließ er es sich von Margarethe höchstpersönlich kürzen. Auch seine Kleidung entsprach nicht der lässigen Mode. Seine Jeans waren sauber und anscheinend sogar gebügelt, das hellblaue Hemd hatte einen gestärkten Kragen, und der dunkle Baumwollpulli über seinen Schultern duftete nach Feinwaschmittel.
Lili vermutete, dass seine Mutter Franziska sich nach wie vor um seine Sachen kümmerte, aber das würde John vermutlich niemals zugeben. Als Jugendlicher hatte er sich gern rebellisch gegeben, und eine schwarze Lederjacke war damals sein liebstes Kleidungsstück gewesen. Doch diese Zeiten waren definitiv vorbei.
Ganz besonders liebte sie seine Hände. Sie waren stark und dennoch feingliedrig. Seit er als Kfz-Mechaniker in einer Autowerkstatt an der Hamburger Straße arbeitete, kämpfte er einen aussichtslosen Kampf gegen die Spuren von Schmieröl unter seinen Fingernägeln. Aber Lili machten die schwarzen Ränder nichts aus. Sie liebte John auch dafür, dass er hart arbeitete und keine »Flausen im Kopf« hatte, wie es ihre andere Oma Luise ausgedrückt hätte.
»Fertig mit der Prüfung?«, fragte er. Ihm entging selten etwas.
Sie waren stehen geblieben und hatten beide die Arme vor der Brust gekreuzt.
»Tut mir leid«, fügte er hinzu. »Ich wollte nicht fies werden. Ich weiß ja, warum du noch zu Hause wohnst.«
Lili hob die schmalen Schultern.
»Glaub mir, ich würde auch gern ein unabhängiges Leben führen. Aber solange Mama mich braucht, bleibe ich eben da.«
Es war nicht die ganze Wahrheit, und das wusste sie auch.
»Ich verstehe das, Darling. Wirklich.«
Sie schmolz dahin. Wenn er sie Darling nannte, flog ihm ihr Herz zu, und sie vergaß jede Missstimmung.
Sein Blick wurde zärtlich. »Hübsch siehst du heute aus. Sogar noch hübscher als sonst.«
Schon strahlte sie ihn an. Es war lange her, dass John ihr ein Kompliment gemacht hatte. Aber bevor sie aus dem Haus gegangen war, hatte sie sich tatsächlich besonders viel Mühe gegeben. Sie hatte ein weißes Minikleid gewählt, das den leichten Braunton ihrer Haut betonte und ihre Beine länger wirken ließ. Die Füße steckten in hochhackigen Riemchensandalen, ihr lockiges Haar fiel frei über die Schultern. An Make-up hatte Lili gespart. Nur ein dunkler schmaler Strich mit dem Eyeliner und etwas Mascara betonten ihre Augen.
John mochte es nicht, wenn sie sich zu stark anmalte. Da war er ähnlich konservativ eingestellt wie Lilis Vater Benno, der seine Frau Anne auch am liebsten ohne Schminke im Gesicht sah.
Fast hätte sie schon wieder gekichert. Ihren sanftmütigen, liebenswerten John mit ihrem Holzkopp von Vater zu vergleichen, war einfach zu lustig - wobei die Bezeichnung Holzkopp auf Margarethes Konto ging. Die liebte ihren Sohn zwar heiß und innig, hatte sich in großen Familienkrisen jedoch stets auf die Seite von Lilis Mutter geschlagen.
Johns Stimme holte sie aus ihren Überlegungen.
»Jetzt ist die Bank besetzt.« Er deutete in Richtung des Alten Krans.
Lili schaute ebenfalls dorthin.
»Wie schade!«
»Halb so wild.«
Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Aber diese Holzbank ist was Besonderes. Du weißt doch, dass meine Eltern sich im Krieg genau dort kennengelernt haben.«
Er wirkte gelangweilt. »Klar. Hast du mir schon tausend Mal erzählt.«
»Sie bringt Glück.«
John grinste schief. »Es ist nur eine Bank vor einem historischen Kran, der früher das Salz der Stadt auf die Frachtkähne geladen hat.«
»Sei nicht so unromantisch!« Lili funkelte John an. »Da hat eine große Liebesgeschichte begonnen, und vor sieben Jahren hat Mama wiederum auf genau dieser Bank Papa verraten, dass sie noch ein Kind erwartet.«
»Als ob sie mit dir und Leo nicht schon genug zu tun gehabt hätte«, spottete John.
Leo war Lilis Zwillingsbruder, obwohl sie niemand, der sie zum ersten Mal sah, jemals für Geschwister gehalten hätte. Er hatte die riesenhafte Größe, die...
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