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Der tiefblaue Himmel badete in der Badia de Palma, ein sachter Wind kräuselte das Wasser und schickte freundliche Wellen ans Ufer, die zärtlich nach Charlottes bestrumpften Füßen schnappten. Es war früher Nachmittag, die wenigen Fischer des Zwanzig-Seelen-Dörfchens S'Arenal warfen ihre Netze auf dem Meer aus, ihre Frauen, Mütter und Schwestern saßen vor den Hütten und schrubbten Kartoffeln, hängten Wäsche auf, schwatzten mit der Nachbarin und winkten Charlotte zu. Ihre Kinder spielten zwischen den Hütten Fangen. Obschon es noch kühl war, trugen sie nichts als dünne Hemdchen und halblange, an den Säumen ausgefranste Hosen. Charlotte beschleunigte ihre Schritte. Weiter südlich würde sie erfahrungsgemäß allein sein und sich endlich ihrer Strümpfe entledigen können, ohne mit kindlichem Gekicher und vielsagenden Blicken rechnen zu müssen, die die Frauen sich zuwerfen würden, um sich stumm darüber zu verständigen, dass diese Deutsche eine schamlose Person war, Duquesa hin, Duquesa her.
Charlotte trug stets Strümpfe am Strand, zumindest solange sie beobachtet wurde. Warum der Anblick nackter Füße anstößig sein sollte, hatte sie zwar nie verstanden, sie respektierte jedoch, dass dies für die meisten Menschen eine unumstößliche Tatsache darstellte, deretwegen sie sich um eine wunderbare Erfahrung brachten. Auf Charlottes Gemüt hatte das Gefühl nackter Haut auf kühlem, nassem Sand und vom Wasser umspielt von jeher eine befreiende Wirkung, so als würde ihr Inneres vollkommen gereinigt und alles, was nicht zu ihr gehörte, fortgespült, bevor sie aus dem Urgrund allen Seins neue Kraft empfing; sie hatte es bei jedem ihrer Spaziergänge am Strand gespürt und brauchte das Gefühl in diesen Zeiten dringender denn je.
Palma und der Kathedrale, die am oberen Ende der Bucht lagen, den Rücken zugewandt, marschierte Charlotte den Strand entlang und dachte über ihren Besuch bei Umbertos Anwalt nach, der schon ein paar Wochen, wie viele, wusste sie nicht zu sagen, zurücklag.
Doctor Vietro, ein wuchtiger Katalane mit Pianistenhänden und lockigem Haarkranz, hatte den Eindruck erweckt, sich mehr für die Renovierung seines Hauses an der Plaza Santa Eulària zu interessieren als für Charlottes Anliegen. Alle Welt, so schien es, war dem Modernisme Català verfallen, dem in Barcelona entwickelten Architekturstil, der der unattraktiven Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts und dem unsäglichen Hang zur Neogotik die verspielte Pracht eines auf die Spitze getriebenen Jugendstils entgegensetzte, und nicht nur in Palma, aber hier besonders auffällig, denn dicht an dicht gedrängt wucherten kurvige schmiedeeiserne Fenster- und Balkongitter, Vögel, Schmetterlinge und Blattwerk aus Stein und Keramik aus den Fassaden. Wer es schlichter mochte und es sich leisten konnte, bevorzugte es, die Räumlichkeiten seines Wohn- oder Geschäftshauses mit katalanischen Gewölbebögen pittoresk überspannen zu lassen. Doctor Vietro hatte sich für alles auf einmal entschieden. Im ganzen Haus wurde gehämmert und gestemmt, geschabt und geklopft. Der Baulärm in der Kanzlei war dementsprechend überwältigend und hatte das Gespräch mit dem Notar kurz und knapp gehalten.
Ja, der Sohn des Duque de Santanyi war selbstverständlich Alleinerbe. Nein, über eine Urkunde bezüglich des Hauses in S'Arenal habe er, Vietro, keine Kenntnis. Falls sie, die Duquesa, jedoch ein vom Duque unterzeichnetes Dokument beibringen könne, würde der junge Duque sich gewiss nicht sperren, der Duquesa ihr Eigentum zu überlassen, auch wenn ein notariell nicht beglaubigtes Schriftstück immer gewisse Zweifel aufwürfe.
Charlotte lag es auf der Zunge, auszurufen: Was glauben Sie wohl, warum mein Mann es Carlottas Alhambra genannt hat? Weil er jede Mauer, jeden Winkel für mich errichten ließ! Aber der spöttische Blick des Doctor ließ sie wissen, wie vergeblich jeder Einwand gegen ehernes Recht und Tradition bleiben würde.
Zurück auf Dos Santos, hatte Charlotte das Haus auf den Kopf gestellt, aber die Urkunde, von der sie genau wusste, dass sie existierte, hatte sie das Schriftstück doch mit eigenen Augen gesehen, war nicht auffindbar. Damals, als Umberto darauf bestanden hatte, ihr das Haus zu überschreiben, hielt sie das Ansinnen für eine theatralische, ganz und gar überflüssige Geste, wusste sie doch nichts vom mallorquinischen Erbrecht, das ihr von jetzt auf gleich einen Fußtritt in die Mittellosigkeit versetzen würde. Warum Umberto ihr diese Tatsache verschwiegen hatte, lag auf der Hand. Ein Mann wie Umberto, reich und von Adel, erklärte sich nicht, schon gar nicht einer Frau, und besonders dann nicht, wenn das, was er zu sagen hatte, nicht dazu angetan war, das Eheleben gedeihlicher zu gestalten.
Nun, der Beweis war fort. Ob Umberto selbst es war, der es sich, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen, anders überlegt und die Schenkung rückgängig gemacht hatte, oder ob Alejandro die Urkunde in seines Vaters Schreibtisch gefunden und vernichtet hatte, war deshalb ohne Belang. Wenn sie ehrlich war, würde der Besitz des Hauses ihr ohnehin nicht viel nützen, weil sie keine Vorstellung besaß, wovon sie zukünftig dessen Erhaltung und ihren Lebensunterhalt hätte bestreiten sollen. Keine ihrer Fähigkeiten - Deutsch und ein wenig Spanisch sprechen und lesen, Gitarre spielen und singen, Mandelkuchen norddeutsch backen - wurde auf dieser Insel gebraucht.
Sie, Charlotte, war nutzlos. Und auf Alejandro angewiesen.
Die Erkenntnis hatte sie wie ein Schlag getroffen.
Schließlich hatte sie sich überwunden, ihn darum zu bitten, sie eine Weile in S'Arenal wohnen zu lassen, eine demütigende Situation, aber noch demütigender wäre es gewesen, ihn weiterhin als Herrscher über Dos Santos zu erleben, wie er durchs Haus stapfte und unsinnige Anweisungen erteilte. Also hatte sie ihm erklärt, dass sie eine Weile für sich sein müsse, um Umbertos Tod zu verkraften. Er hatte mit besorgter Miene zugestimmt und ihr geraten, Rosalita und einen Burschen mitzunehmen, damit im Dorf und in Palma nicht etwa das Gerede aufkäme, der neue Duque habe die Witwe des Alten verstoßen.
So war es geschehen. Aber die Hoffnung, das Meer würde ihre Angst und ihren Zorn mit der Zeit fortspülen und sie befähigen, sich mit veränderten Umständen zu arrangieren, hatte sich nicht erfüllt. Charlotte war weit davon entfernt, sich mit irgendetwas zu arrangieren.
Als sie nun den südlichen Abschnitt des weiten Strandes erreichte, setzte sie sich auf einen breiten Stein, der am Meeressaum lag und träumte, schob ihr Kleid hoch, zog mit einem Seufzer ihre Strümpfe aus und ließ sie achtlos fallen. Zwei langen fetten Aalen gleich lag die feuchte schwarze Wolle auf dem karamellfarbenen Sand.
Charlotte heftete den Blick auf den Horizont.
Ob Alejandros Besorgnis echt oder vorgetäuscht war, vermochte sie nicht zu sagen, und die Frage interessierte sie ebenso wenig wie die Überlegung, ob ein Zusammenleben mit einem intelligenten jungen Mann, der moralisch verpflichtet war, der Witwe seines Vaters ein Leben zu ermöglichen, das der Stellung einer Duquesa angemessen war, nicht durchaus etwas für sich haben könnte. Sie hatte die Dinge gedreht und gewendet, aber letzten Endes lief es auf die bittere Erkenntnis hinaus, wieder einmal gesellschaftlichen Umständen zum Opfer zu fallen, fallen zu müssen. Sie besaß keinerlei Rechte, keinerlei Handhabe, wusste nichts über juristische Schlupflöcher, musste sich fügen. Während Charlotte darüber nachsann, spürte sie, wie der Hass in ihr unaufhaltsam aufstieg wie überschüssige Magensäure.
Mit Umberto hatte sie den Menschen verloren, der sie von diesem Hass in sich ablenkte, indem er ihre milde Verachtung auf sich zog - für seine Impotenz, seinen Glauben, dass die Liebe sich mit den Jahren schon einstellen möge, seine mangelnde Bildung und die aller mallorquinischen Mandelbauern, adelig oder nicht, für die Sprache, die aus ihren Mündern stürzte wie eine Gerölllawine, und die Art, wie sie den Kopf in den Nacken warfen und in schallendes Gelächter ausbrachen.
Ohne das Bollwerk in Gestalt ihres Mannes war Charlottes Blick auf die Tatsachen unverstellt. Sie hatte acht Jahre auf einer Insel gelebt, die sie hasste, mit einem Mann, den sie bemitleidete, fern von dem Leben mit dem Mann, den sie über alles geliebt hatte, fern von der kühnen Idee, ihr Talent zum Leuchten zu bringen und auf diese Weise einen Unterschied zu machen in einer Welt, die Unterschiede noch nicht schätzte.
Fern von allem also, was einst Charlotte Engelbrecht ausgemacht hatte, bevor sie die Duquesa de Santanyi wurde.
Und das alles verdankte sie Erik, diesem gottverdammten Erik.
Fesch aufgebrezelt in champagnerfarbener Seide und weißem Tüll nahm Püppi Hagedorn in der vordersten Loge auf dem rechten Balkon Platz. Sie ließ sich ein wenig mehr Zeit, als erforderlich gewesen wäre, um den aufspringenden zwei Herren, die die Plätze hinter ihr besetzten, zuzunicken und sich auf den ihren niederzulassen, aber Momente wie diesen kostete sie gern ein wenig aus. Wenngleich nicht mehr taufrisch mit ihren dreiunddreißig Jahren, verfehlten das teure Kleid, die feuchten Robbenaugen in dem Gesicht mit den weichen, puppenrunden Wangen und dem herzförmigen Mund ihre Wirkung nicht. Außerdem war sie die Mätresse eines Dichters und damit per se interessant, sogar für das hochnäsige Publikum des Residenztheaters, das vorwiegend aus Bildungsbürgern und anderem Niveau-Geschmeiß bestand, denn der Nimbus des Künstlers, über den die Regeln der Gesellschaft und der Natur weniger Macht besaßen als über den schnöden Rest der Menschheit, färbte auf die Frauen ab, die, Trabantinnen gleich, um...
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