Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Seitdem die allzeit beherrschte Valentina Pavone im zarten Alter von sechzehn Jahren so gründlich wie unerwartet die Fassung verloren hatte, dass es ihr behütetes Dasein als Tochter eines wohlhabenden venezianischen Goldschmieds und seiner extravaganten Frau von jetzt auf gleich auf den Kopf stellte, suchte sie ihre innere Balance wiederzufinden, indem sie aufräumte. Sie versuchte, Struktur und Ordnung, Symmetrie und Harmonie zu schaffen, was in einem Wohnwagen allerdings schlechterdings unmöglich war.
Fünf Menschen lebten monatelang unter diesem gewölbten, wurmstichigen Dach und hinterließen ihre Spuren. Fettfinger auf dem geölten Holz, wohin man sah, Brotkrümel unter den viel zu schmalen Sitzbänken und jede Menge dekorativer Schnickschnack. Der Wandaltar aus Birnbaum mit Rosenquarz über dem Schlafplatz, das Federbündel, das an einer dünnen Lederschnur von der Decke hing, zwei Tamburine, achtlos liegengelassen zwischen Besen und Spüleimer - Reliquien dieses Lebens, die Valentina nie vergessen ließen, wer sie jetzt war. Oder zu sein vorgab.
Die hübschen Kissen mit Bezügen aus bedruckter Seide waren Valentinas persönlicher Beitrag zur Gemütlichkeit, dezent, nicht so kreischend bunt wie in den Wagen der anderen. Überhaupt versuchte Valentina das Durcheinander wenigstens farblich aufeinander abzustimmen, was Großmutter Elvira und ihre Freundinnen, eine Garde alter, dicker, schwatzhafter Frauen in karierten Röcken, nicht müde wurden, gutmütig zu bespötteln.
Sie schüttelte die Decken aus, legte sie sorgfältig zusammen und verstaute sie unter den Bänken. Dann öffnete sie die Fenster und ließ die kühle Luft und die ersten Sonnenstrahlen herein - ein, zwei köstliche Momente reinen, ungetrübten Seins. Im ersten Jahr ihrer Ehe mit Gerald, als sie nur gefühlt und gelacht und geliebt hatte, war das ungetrübte Sein eine Selbstverständlichkeit gewesen, so selbstverständlich wie jeder Atemzug. Später waren die Zweifel und das brennende Verlangen erwacht, in der Tiefe ihres Herzens das Wissen zu finden, dass sie alles richtig gemacht hatte, dass sie nichts anderes hätte tun können und dass das, was sich ihr als Bestimmung offenbart hatte, tatsächlich Teil eines göttlichen Plans war. Doch ihre Fragen wurden nie beantwortet. Der Himmel blieb stumm, kein Windhauch wisperte ihr etwas zu. Schließlich hatte Valentina begriffen, dass sie einfach nur eine junge Frau aus Italien war, die ein vorgezeichnetes Leben in Wohlstand und Behaglichkeit zugunsten eines unsicheren Daseins an der Seite eines deutschen Karussellbesitzers mit einem Haufen eigenwilliger Verwandter aufgegeben hatte. Ein quälendes Gefühl der Bedeutungslosigkeit hatte sich darob ihrer bemächtigt, und um nicht verrückt oder schwermütig zu werden, hatte sie beschlossen, das Einzige zu wahren, das sie noch besaß. So kultivierte sie Geralds Liebe zu ihr wie eine seltene Pflanze. Voller Angst, sie zu verlieren, und deshalb sorgsam darauf bedacht, Leidenschaft und Kälte sich die Waage halten zu lassen, um Geralds Begehren frisch, seine Zärtlichkeit sanft und seine Schuldgefühle wachzuhalten. Darüber hatte sie fast vergessen, die Liebe für ihn in sich zu nähren, aber nur fast.
Sie schloss die Fenster und kniete sich vor ihre Seekiste, in der sie ihre Kleider, den wenigen Schmuck und ihr Allerheiligstes verwahrte.
Ihre Finger fanden den Folianten und strichen über den ledernen, mit Gold und bunten Steinen verzierten Einband. Wortfetzen drangen gedämpft an ihr Ohr. Das Wasser würde in Kürze kochen, Gerald würde sich fragen, wo sie bliebe, und besorgt nach ihr sehen. Aber sie konnte nicht widerstehen und hob das Buch hoch. Ein Seufzer entfuhr ihr, als sie es aufschlug und ein verschmitzt lächelnder Mann in spitzenverziertem Wams ihr direkt in die Augen sah, in der rechten Hand ein Würfelpaar, in der linken eine Puppe mit Engelshaar und wohlgestalteten Gliedmaßen, die sich deutlich unter dem Kleid abzeichneten. Ignatius Graf von dem Lambertberg.
So könnte er ausgesehen haben, nein, so musste er ausgesehen haben.
Es war nicht leicht, dieser weitverzweigten Familie beizukommen, Dichtung und Wahrheit in den Geschichten, die Großmutter Elvira und die anderen Schausteller Valentina auftischten, voneinander zu trennen und daraus ein klares Bild entstehen zu lassen, das sie mit dem Kohlestift festzuhalten versuchte. Genaugenommen war es genauso unmöglich, wie diesen Wohnwagen sauber zu halten. Künstlernamen verdeckten die Ursprünge, Legenden gab es zuhauf. Wie etwa die um Ignatius, den adligen Vorfahren, der vor fast zweihundert Jahren durch exzessives Würfelspiel in der ersten deutschen Spielbank in Bad Ems seinen ganzen Besitz verloren haben soll, von der Familie verstoßen wurde und sich daraufhin - mittellos, wie er war - in der Vervollkommnung seiner sonstigen Begabungen übte, woraus ein mechanisches Puppentheater hervorging. Damit zog Ignatius über Land, bis er in einem ruhigen Breisgauer Winkel in heißer Liebe zu der schönen Jasmina entflammte, sie schwängerte und wenig später sitzenließ, weil die Familie ihn in ihren adligen Schoß zurückholte. Man war übereingekommen, die paar Spielschulden milder zu beurteilen als ein vogelfreies Leben mit einer Dirne und ihrem Bastard. Jasmina nannte ihr süßes, strammes Baby Rufus mit Vornamen und Lambert nach seinem Vater und schloss sich einer Truppe Komödianten an, die die südlichen Länder bereiste.
Auch Jasmina hatte Valentina gezeichnet, mit langem, glattem schwarzen Haar, einem melancholischen Mund und einem zur Seite gerichteten Blick unter zart geschwungenen Brauen. Das Porträt war von berückender Schönheit und sah Valentina verdächtig ähnlich.
Auf der nächsten Seite lachte ihr der kleine Rufus entgegen, stämmige Beinchen und blonde Löckchen. Der erwachsene Rufus indes schaute wie ein verschrecktes Kitz drein, weshalb Valentina mit seiner Darstellung unzufrieden war. Würde ein junger Mann, der vor mehr als hundertdreißig Jahren mit einem Puppentheater im gerade eröffneten Wiener Prater auftrat, nach Dresden weiterreiste, am Hofe vorstellig wurde und immerhin die Monarchin Maria Theresia mit seinem Spiel beeindruckte, nicht selbstbewusster sein? Doch sooft Valentina an Rufus' Zügen feilte, hier verwischte, dort schattierte, der Kohlestift ließ sich nicht zwingen, und Rufus blieb, wie er war. Überrascht und freundlich.
Vorsichtig blätterte sie weiter, der Wiener Prater und die nahe gelegene Brigittenau mit ihrer Kreisfahrbahn, in der man in luftiger Höhe saß und es immer rundherum ging, bis einem schwindelte, huschten an ihr vorbei, die Dresdner Vogelwiese, Pferdeköpfe mit blanken schwarzen Augen und akkuraten Mähnen, die Nürnberger Peterheide, Paris mit seiner berühmten Rutschbahn Promenades Aériennes.
Jonas Lambert. Auch so ein Fall! Von Bremen aus reiste er über Wien nach Galizien, von dort nach Russland, wo er vor Zar Alexander I. auftrat, der nach dem gewonnenen Krieg gegen Napoleon als Retter Europas galt und entsprechend von sich eingenommen war. Nachdem Jonas einen Orden erhalten hatte, führte ihn das Schicksal nach Frankreich - und zu Arya Tscherrin. An einer Kreuzung in der Bretagne, wo der Lavendel wuchs und die Nebel sich senkten, um die beiden Liebenden vor Aryas Familie zu schützen, die der Heirat mit einem Lambert niemals zustimmen würden. Es hieß, ein Lambert habe einst einem Tscherrin die Männlichkeit abgeschnitten. Arya und Jonas flohen, stahlen auf einem Bauernhof zwei Pferde und bauten das erste Pferdekarussell in der Geschichte der Lamberts.
Valentina lächelte in sich hinein. Großmutter Elvira schwor Stein und Bein, dass diese Geschichte wahr war, und um es sich mit ihr nicht zu verscherzen - Gerald würde ihr das Buch gewiss zeigen, sobald er es selbst zu Gesicht bekommen würde -, hatte sie die Mär genauso wiedergegeben. Wallende Nebel, bedrohliche Gestalten, die Flucht. Was tatsächlich verbürgt war, zeigten die nächsten Seiten. 1840 starb Geralds Großvater, und Arya und Tochter Elvira mussten sich allein durchschlagen. Nach Aryas Tod beschloss Elvira, eine Zeitlang auf das Herumreisen zu verzichten, um neue Kraft zu schöpfen und Pläne zu schmieden. Das junge Mädchen, rotblond, wache blaue Augen, umkränzt von wenigen dunkelblonden Wimpern, blieb so lange im Wiener Prater, bis es genügend Geld beisammen hatte, um eins der neuesten transportablen Karussells zu erwerben.
1850 lenkte sie ihr Pferd nach Bremen zum Freimarkt, wo ihr Pferdekarussell am Liebfrauenkirchhof neben dem ungleich größeren und prächtigeren von Frederik Lamberti zu stehen kam. Darüber entbrannte zunächst heftiger Streit, dann himmelstürmende Leidenschaft. Sie schworen, sich niemals mehr zu trennen, weder in diesem noch in einem anderen Leben, doch bevor sie das dem Pastor mitteilen konnten, mussten sie sich einigen. Elvira war nicht gewillt, ihren guten Namen mit dem unseriös klingenden Fortsatz I zu verschandeln, Liebe hin, Ehe her. Frederik seinerseits mochte den zusätzlichen Vokal, hing aber nicht übermäßig daran, und Pastor Ferten war es gleich. So legten sie das I ebenso konsequent ab wie das Gelübde, bis ans Ende ihrer Tage zueinanderzustehen, und wenn es in der Folge einem Schausteller gefiel, Frederik mit dem Verlust des Buchstabens hochzunehmen, konnte er sich auf eine Tracht Prügel gefasst machen.
Frederik und Elvira ernannten Bremen zu ihrem Winterquartier. Die Bremer besaßen ein scharfes Auge und eine rasche Auffassungsgabe, trockenen Humor und die Gabe, sich nicht über Dinge aufzuregen, die sie nichts angingen. Schaustellern begegneten sie zwar nicht eben aufgeschlossen, aber in den Genuss spontaner Herzlichkeit kam ohnehin niemand in der Hansestadt, nicht einmal der...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.