Schweitzer Fachinformationen
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1956
Niemand nahm von dem neunjährigen Kind, das an diesem späten Sonntagnachmittag auf einem weißen Pony am Ufer der Weser entlangtrabte, Notiz. Nur hier und da streifte es ein Blick, flogen ihm ein paar stumme Fragen hinterher. Aber an heißen Sommertagen wie diesem, da platinblonde Damen ihre perlmuttfarbenen Königspudel am Osterdeich spazieren führten, halbstarke Jungs im Gras lagen, sich gegenseitig in die Rippen pufften und den Mädchen in den schwingenden Petticoats hinterherpfiffen und Ehepaare im Sonntagsstaat gemessenen Schritts ihren Wohlstand zeigten, galten das Pony und seine Reiterin nur als ein Requisit mehr in dem Reigen der Indizien, die in der Summe den Beweis erbrachten, dass man wieder wer war in Deutschland.
Der Wind kitzelte schwarz schimmernde Locken aus Luizas streng geflochtenen Zöpfen und trocknete die feinen Schweißperlen auf Nase und Stirn. Das hellblaue Samtkleid war völlig ungeeignet für einen Ausritt und viel zu warm für die Jahreszeit, doch sie liebte den leuchtenden Stoff, weil er genau der Farbe ihrer aquamarinblauen Augen entsprach und damit, so meinte sie, von ihren dunklen Haaren und der Haut ablenkte, die gerade noch als gebräunt durchgehen mochte.
Als sie den Hafen erreichte, schlug ihr Herz schneller. Sie zügelte das Pony, saß ab und wartete im Schatten eines Reederei-Gebäudes, dass der Strom der Arbeiter, der zwischen den Schiffen und den Speichern hin und her wogte, abriss. Sachte legte sich die Dämmerung über das geschäftige Treiben, und schließlich läutete eine Schiffsglocke den frühen sonntäglichen Feierabend ein. Nach einer halben Stunde waren auch die letzten Schritte verklungen, und Luiza führte das Pony am Zügel.
»Psst, Komet«, wisperte sie und legte den ausgestreckten Zeigefinger auf ihre gespitzten Lippen. »Wir müssen ganz leise sein.«
Das Pony wackelte mit den Ohren, und Luiza war überzeugt, dass es sie verstanden hatte. Es war ihr einziger Freund, neben den Elfen natürlich, und verstand sie eigentlich immer. Als sie den ersten der Speicher erreichten, die ihrer Mutter gehörten, fingerte sie einen Schlüssel aus einer der Satteltaschen und steckte ihn ins Schloss der Seitentür, die leise aufglitt. Rabenschwarze Dunkelheit schlug Luiza entgegen, und sie biss sich auf die Lippe. Was sollte sie jetzt nur tun? Ihr schöner Plan zerrann mit den Tränen, die ihr über die zarten Wangen liefen. An alles hatte sie gedacht, nur nicht daran, eine Taschenlampe oder wenigstens eine Kerze und Zündhölzer mitzunehmen. Doch ohne einen Funken Helligkeit würde sie oder schlimmer noch Komet zwischen all den Kaffeesäcken stürzen. Ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als zur Villa zurückzureiten und ihre Schätze vor Maries und Susannes neugierigen Blicken zu verbergen, damit sie sie ihr nicht wegnahmen.
Gerade als sie wieder aufsitzen wollte, fiel ihr Blick auf die Schiffe, deren Ladungen vorhin gelöscht worden waren. Der geschwungene Schriftzug am Bug des einen ließ Luiza wie elektrisiert innehalten - Brasilia. Sie schluckte und schlang die Arme um den Hals des Ponys. Sie würde das Liebste verlassen müssen, das sie hatte. Mit der Ernsthaftigkeit einer Neunjährigen erkannte sie, dass der Preis zwar hoch war, aber nicht zu hoch im Vergleich zu dem, was sie verlieren würde, wenn sie diese Chance nicht ergriff. Und Komet würde sie gewiss verstehen. Sie küsste ihn auf die Nüstern, dann nahm sie die Satteltaschen von seinem Rücken und schlich zur Gangway.
Wenn Anita Lindström lächelte, formten sich ihre Wangen zu zwei prallen Bäckchen, die wie aufgepumpt aussahen und Gefahr liefen, die Unterlider ihrer rehbraunen Augen zu zwei Wülsten zu quetschen, wenn sie nicht durch Anitas erstaunliche mimische Disziplin daran gehindert wurden. Schon als Teenager hatte sie durch stundenlanges Training ihr Lächeln in das Format gezwungen, das Gesundheit und süße Unschuld ausstrahlte und ihr heute gutes Geld einbrachte. Sie war blond, fünfundzwanzig Jahre alt, trug die Haare wie Maria Schell und hatte schon in drei Reklamefilmen reüssiert. Genau die Richtige also.
Anita starrte in die Kaffeetasse, nahm vorsichtig einen Schluck und ließ dann dieses Lächeln sich über die ganze Szenerie legen wie ein Sonnenstrahl.
»Dieses Aroma! O Liebling, von heut an gibt es für dich .« - hier senkte sie die Stimme eine Nuance und sah ihrem Schauspielerkollegen Sebastian Lambard kokett in die Augen - ». für uns . nur noch AnKa. Andreesen-Kaffee - der sanfte Genuss.«
»Und Schnitt! Danke schön, ihr beiden. Zehn Minuten Kaffee . Verzeihung, AnKa-Pause.«
Die Beleuchter lachten beifällig über den Kalauer, schalteten auf Pausenlicht und kletterten von ihren Hochsitzen hinunter in die Halle. Die Maskenbildnerin schlenderte zu Anita und Sebastian hinüber und begutachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen das Make-up der beiden. Die Requisiteurin rückte die Kaffeetassen auf dem hellblauen Nierentisch wieder zurecht, pustete ein imaginäres Staubkörnchen von der schimmernden Resopalfläche und zupfte pro forma an den drei rosa Nelken in der schmalen Tütenvase herum. Der Kameramann zündete sich eine Zigarette an und schaute zu Niklas Fischer hinüber.
»Blau ist blöd«, raunte er ihm zu, als der Regisseur an ihm vorbei auf eine Frau in einem gepunkteten dunkelroten Seidenkostüm zuging. »Die Farbe lässt die Gesichter wie Milch und Spucke aussehen.«
»Dann mach was mit dem Licht«, brummte Niklas zurück.
Der Kameramann hob die Hände. »Schon gut, schon gut, man wird doch noch mal was dazu sagen dürfen .«
Niklas ignorierte ihn. »Teresa, wir müssen darüber reden.«
»Wenn es etwas Neues ist, gern. Wenn du mir allerdings nur die üblichen Vorhaltungen machen willst, können wir uns das sparen.«
Niklas ließ sich auf den mit Leinen bespannten Regiestuhl neben ihr fallen. Der Stoff knarzte im Duett mit Niklas' Knien, und Teresa warf ihm einen besorgten Blick zu. Niklas war nicht mehr der Jüngste, aber er war einer der Besten der Branche. Er beugte sich vor, stützte die Unterarme auf die Oberschenkel und legte die Fingerspitzen wie zu einem lässigen Gebet zusammen.
»Bist du sicher, dass du das so haben willst? Diese klebrige Süße, dieses verlogene Getue? Alle tanzen den Tanz um das Goldene Kalb namens schöne heile Welt. Aber du?«
»Niklas, bitte! Das haben wir doch schon zigmal durchgekaut. Ja, ich will es so. So und nicht anders.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass deine Mutter Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet hat? Sie war die Erste, die der Werbung nicht die Authentizität geopfert hat .«
»Ich weiß«, sagte Teresa ungeduldig.
Sie kannte all die Geschichten, die sich um Felicitas Andreesens sensationellen Dokumentarfilm rankten, den sie mit Niklas und Steffen Hoffmann, Teresas Stiefvater, in Brasilien auf der Plantage von Terra Roxa gedreht hatte. Felicitas hatte damals, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, den Weg der Kaffeekirsche vom Baum in der Hochebene von São Paulo über ihre Metamorphose zur gerösteten Bohne bis in die deutsche Kaffeekanne verfolgt und darauf bestanden, alles zu zeigen und kaum etwas zu beschönigen - die Hitze, die über den Feldern lag wie irisierendes Gold, und den Schweiß, der die Blusen der Frauen tränkte und die Rücken der Männer glänzen ließ, flinke dunkelbraune Hände, die mit traumwandlerischer Sicherheit die reifen roten Kaffeekirschen pflückten und die grünen verschonten, muskulöse Arme, die mit hölzernen Rechen die in der Sonne ausgelegten Früchte wendeten und sie zur Nacht mit Planen bedeckten, damit kein Tautropfen sie erneut benetzte. Felicitas hatte selbst durch den Film geführt, der in vielen deutschen Kinos als Vorprogramm gelaufen war und ihr und Andreesen-Kaffee ungeheure Popularität geschenkt hatte.
»Meine Stiftung .«
»Damit wirbst du aber nicht.«
»Und du scheinst vergessen zu haben, dass Mutter auch andere Reklame betrieben hat. Glamouröse Auftritte von Schauspielerinnen .«
»Durchaus nicht«, unterbrach Niklas sie, »aber erinnere dich, dass ihr Text >Andreesen-Kaffee - genießen mit gutem Gewissen< lautete und darauf hinwies, dass Felicitas sich für die faire Entlohnung der Plantagenarbeiter eingesetzt hat. Das hier«, er lehnte sich zurück und breitete resigniert die Arme aus, »hätte sie nicht gutgeheißen.«
»Doch, das hätte sie«, beharrte Teresa und blitzte Niklas aus aquamarinblauen Augen an. »Die Zeiten haben sich geändert, und dieser Tatsache hätte Mutter sich gewiss nicht verschlossen. Und selbst wenn - ich leite jetzt das Werk, und ich entscheide. Du weißt ebenso gut wie ich, dass man heute keinen Blumentopf gewinnen kann, wenn man die Dinge zeigt, wie sie sind. Sollen wir Anita Lindström etwa sagen lassen, dass ein Pfund Bohnenkaffee dreizehn Mark fünfzig kostet und Otto Normalverbraucher dafür elf Stunden arbeiten muss? Sollen wir zeigen, wie die brasilianische Regierung Tausende Tonnen Kaffeebohnen bei Santos ins Meer schütten lässt, nur um den Preis stabil zu halten?« Niklas schwieg, und Teresa fügte hinzu: »Der Fernseher trägt das gute Leben in die Wohnstuben, eines, wo es kein Gestern gibt, dessen man sich schämen müsste. Statt Kaffee zu trinken und sich zu unterhalten und dabei zu riskieren, auf Abgründe zu stoßen, wollen die Menschen sehen, wie andere Kaffee trinken und sich unterhalten und das Wirtschaftswunder genießen.« Sie machte eine Pause. »Wenn du aussteigen willst .«
Niklas schüttelte den Kopf. »Nein, keine Sorge. Ich habe dir mein Wort gegeben, aus alter Verbundenheit.«
Teresa sprang...
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