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Am 18. März 1898, dem 50. Jahrestag der Barrikadenkämpfe in Berlin, mit denen die Revolution in Preußen begonnen hatte, nutzte der sozialdemokratische Parteiführer August Bebel eine Reichstagsdebatte über die Reform des Militärstrafrechts dazu, die Errungenschaften der Revolution von 1848 in Erinnerung zu rufen und zugleich den Liberalen Geschichtsvergessenheit vorzuwerfen. Nachdrücklich würdigte er die Berliner Märzrevolutionäre, bei denen es sich weder um Gesindel noch um von Ausländern Aufgewiegelte gehandelt habe, sondern um Vorkämpfer der bürgerlichen Freiheit. Eigentlich, so Bebel, habe die Sozialdemokratie keinen besonderen Grund, den Verherrlicher einer bürgerlichen Revolution zu spielen; aber es gehe doch nicht an, dass die Parteien, die jahrzehntelang auf dem Boden der Errungenschaften dieser Revolution standen, die Männer des Nationalvereins, die als ihr Hauptziel in den sechziger Jahren betrachteten, die Reichsverfassung von 1849 in das deutsche Reich zu übertragen, vollständig schweigen zu all den Beschimpfungen, die heute gegen das deutsche Bürgerthum von 1848 und die Revolutionäre jener Zeit geschleudert wurden, und sie nicht in Schutz zu nehmen wagen.1
Rudolf von Bennigsen, nationalliberaler Parlamentsveteran und Protagonist des liberalen Schulterschlusses mit Reichskanzler Otto von Bismarck, wollte dies nicht unwidersprochen lassen und belehrte Bebel, dass es zwischen der sozialdemokratischen und der liberalen Revolutionserinnerung praktisch keine Berührungspunkte gebe: Wenn Sie von mir und meinen Freunden verlangen, daß wir stolz uns erinnern sollten an diese Berliner Straßenkämpfe und alles, was damit in Zusammenhang stand, dann sage ich: nein, die Erinnerung für uns, auf die wir fortgebaut hatten, war das Parlament in Frankfurt, welches, zusammengesetzt aus den besten Kräften der ganzen Nation, den ersten ernsthaften Versuch gemacht hat, die Umgestaltung von Deutschland herbeizuführen.2
Das Wortgefecht zwischen Bebel und Bennigsen wirft ein Schlaglicht auf die parlamentarischen Konflikte der wilhelminischen Epoche, ist aber zugleich symptomatisch für die Probleme der Erinnerung an die Revolution von 1848/49 über die politischen Zäsuren des 19. und des 20. Jahrhunderts hinweg: Welches sind die Bezugsorte und die Bezugspersonen der Revolutionserinnerung, und welche Lehren für die jeweilige Gegenwart lassen sich aus der Revolutionserinnerung ziehen? Gilt das Augenmerk den radikalen Revolutionären, die ihre demokratischen Leitideen auch mit gewaltsamen Mitteln - sei es in den Barrikadenkämpfen in Berlin, Wien und Frankfurt, sei es bei den badischen Freischarenzügen im Frühjahr und Herbst 1848, sei es in der sogenannten Reichsverfassungskampagne im Mai und Juni 1849 - durchzusetzen versuchten? Oder richtet sich die Erinnerung auf die gemäßigten Freiheitsfreunde, die in den Parlamenten auf dem Weg der gesetzlichen Reform einen Nationalstaat schaffen und die monarchischen Ordnungen liberal ausgestalten wollten? Offenkundige Makel haben beide: Die Radikalen wollten - so stellt es sich in der Rückschau dar - das Richtige, lagen in der Wahl ihrer Mittel, insbesondere indem sie den Willen des Volkes unter Missachtung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse für sich reklamierten - mitunter falsch, während die Gemäßigten mit den richtigen Mitteln ein falsches Ziel - denn für ein solches wird man die konstitutionelle Monarchie aus der Perspektive der Nachgeborenen betrachten dürfen - anstrebten. Sowohl die Barrikaden in Berlin, verbunden mit dem Datum des 18. März 1848, als auch die Frankfurter Paulskirche, in der die deutsche Nationalversammlung am 18. Mai 1848 ihre Arbeit aufnahm, sind also problematische Erinnerungsorte. Zudem erscheinen sie nicht als zwei Seiten einer Medaille, sondern stehen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander.
Dies spiegelt sich auch in der weiteren Geschichte der Revolutionserinnerung wider: Zum 75. Jubiläum der Revolution im Jahr 1923 stellte der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert, ganz seinem überparteilichen Amtsverständnis entsprechend, die sozialistische Revolutionsinterpretation zurück, wählte statt der Barrikaden die Paulskirche als Erinnerungsort und versuchte, aus den Revolutionszielen des gemäßigten Bürgertums politisches Kapital für die Gegenwart zu schlagen. Einheit, Freiheit und Vaterland! Diese drei Worte, jedes gleich betont und gleich wichtig, waren der Leitstern, unter dem die Paulskirche wirkte,3 so Eberts historisch zutreffender, aber für die aktuellen Zwecke des Krisenjahres 1923 nur bedingt tauglicher Erinnerungsslogan, der indirekt auch erkennen ließ, woran es dem liberalen Reformprojekt von 1848/49 gemangelt hatte: der Gleichheit und der Demokratie.
Mit dem Untergang der Weimarer Republik brachen die Ansätze einer positiven Neuwertung des Paulskirchenliberalismus ab, und auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb die Revolutionserinnerung ein schwieriges Pflaster. Das 100. Revolutionsjubiläum 1948 fand in Anbetracht der Gegenwartsnöte wenig Beachtung, wenngleich einige namhafte Historiker es zum Anlass nahmen, den Stellenwert der Revolution im Gesamtkontext der neueren deutschen Geschichte unter dem Eindruck der Katastrophenjahre von 1933 bis 1945 neu zu vermessen.4 Auch waren die besatzungspolitischen Erinnerungshemmnisse groß: Die für Frankfurt geplanten Feierlichkeiten wurden von den Franzosen boykottiert, weil sie die Paulskirchenpolitik von 1848/49 für ein Symbol deutscher Großmannssucht hielten, und in Berlin gerieten die Jubiläumsveranstaltungen in das Räderwerk des beginnenden Kalten Krieges.5
Der deutsch-deutsche Systemkonflikt prägte in den folgenden Jahrzehnten die Revolutionserinnerung: In der DDR nahm man sich des radikalen Flügels der Revolution an und inkorporierte ihn in die sozialistische »Tradition« der deutschen Geschichte, während in der Bundesrepublik das Augenmerk weit mehr den gemäßigten Kräften galt; sichtbar war dies beim 125. Revolutionsjubiläum im Jahr 1973 darin, dass sich die Feierlichkeiten erneut auf Frankfurt konzentrierten. Diese entsprangen im Wesentlichen städtischer Initiative, da sich die sozialliberale Bundesregierung nicht dazu durchringen konnte, einen großen Gedenkakt zu feiern. Lediglich zu Beginn einer regulären Plenarsitzung in Bonn erinnerte Bundestagspräsidentin Annemarie Renger am 18. Mai an den Zusammentritt der Nationalversammlung, deren Platz in der Kontinuität des deutschen Parlamentarismus und der demokratischen Tradition sie allerdings nicht näher beschrieb. Statt der demokratischen Teilhabe rückte sie die beiden Aspekte in den Vordergrund, auf die in der alten Bundesrepublik üblicherweise verwiesen wurde, wenn die Verdienste der Paulskirchenversammlung hervorgehoben wurden: die Versuche, die Einheit der Nation zu erringen, was vor dem Hintergrund der deutschen Teilung aktuelle Relevanz hatte, und die Formulierung der Grund- und Freiheitsrechte, mit der sich der Liberalismus der Paulskirche ein bleibendes Denkmal gesetzt habe6 - auch hier ergaben sich die Gegenwartsbezüge beim Blick auf die politischen Zustände in der DDR.
Nach dem Ende der deutschen Teilung verlor die Revolution von 1848/49 als Einheitsverheißung ihre aktuelle Leitbildrelevanz, aber als Symbol für das Freiheitsstreben konnte sie weiter benutzt werden. Bei den Feierlichkeiten zum 150. Revolutionsjubiläum 1998 war Frankfurt erneut einer der Hauptveranstaltungsorte, und wiederum wurde der große Festakt der Stadt am Jahrestag der Eröffnung der Nationalversammlung begangen. Die Festrede in der Paulskirche hielt Bundespräsident Roman Herzog, der in dem Jahr 1848 - allerdings ohne explizite Bezüge zum genius loci - eine entscheidende Wendemarke auf dem Weg zum modernen, demokratischen Europa erblickte7 und darauf verzichtete, die Dichotomie von gemäßigter und radikaler Revolutionserinnerung in neuer Form aufleben zu lassen. Dies geschah allerdings in regionaler Perspektive in Karlsruhe, wo im Schloss eine vom Land Baden-Württemberg geförderte Ausstellung die »Revolution der deutschen Demokraten in Baden« zeigte und die radikalen als die primär erinnerungswürdigen Revolutionäre gegen die gemäßigten, in der Paulskirche dominierenden Kräfte ausspielte.8 Auch in den zahlreichen Sach- und Fachpublikationen, die durch das 150. Revolutionsjubiläum veranlasst wurden, stand die Nationalversammlung eher am Rand...
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