Schweitzer Fachinformationen
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Im März 1970 verließ ich Malaysia als direkte Reaktion auf die Rassenunruhen vom Mai 1969. Ich hatte ein einziges Ziel: einen sicheren, geordneten und vorhersehbaren Ort zu finden, an dem ich leben könnte. Einen Ort, wo ich mich unsichtbar machen könnte und wo ich, als winzige ein- oder allenfalls zweiköpfige Minderheit, niemals für irgendwen eine Bedrohung darstellen würde. Ich war achtzehn Jahre alt.
Als ich Deutschland zum ersten Mal erblickte, schien es genau dieser Ort zu sein. Es war Frühlingsanfang, und die Erde war noch schneebedeckt. Während der Zug durch Bayern fuhr, hatte ich eine Welt vor Augen, die direkt aus Weihnachtskarten, Adventskalendern und Märchenbüchern zu stammen schien. Von den Tannen und Bergen ging ein beruhigendes Gefühl von Unwandelbarkeit aus, und von den in der Sonne leuchtenden kleinen Häusern eines von fröhlicher Sesshaftigkeit.
Ich hatte den Eindruck, in ein Land zurückzukehren, das ich aus der Kindheit kannte. Ich konnte mir durchaus vorstellen, hier für immer zu leben, ein Teil dieses Landes zu sein und dann doch wieder nicht, so wie der Leser eines Buchs. Ich sah mich als Studentin und Gelehrte vor mir, sicher und behaglich in einer Bibliothek voller Bücherregale sitzend oder die muffigen Korridore irgendeiner alten Universität wie Heidelberg oder Tübingen durchstreifend. Irgendwo hatte ich gelesen, dass es in Deutschland noch immer möglich war, sein ganzes Leben so zu verbringen, vorausgesetzt, man hatte die Mittel, das Durchhaltevermögen und vor allem die Demut, sich keinen Examen zu unterziehen. Und das wurde mein Ehrgeiz: in Deutschland eine professionelle Studentin zu sein. Im Sommer 1971, als ich Michael Templeton kennenlernte, hatte ich mein Jahr an einer Münchner Sprachschule abgeschlossen.
Ich ging gerade die Leopoldstraße entlang, auf dem Weg zu meiner Wohnung in der Viktor-Scheffel-Straße und kam von einer Abschiedsparty für ein paar Studenten, die ihren Sprachkurs beendet hatten und vor der Abreise aus München standen, sei es, um in ihre Heimatländer zurückzukehren oder ein Studium an einer der zahlreichen deutschen Universitäten oder Hochschulen zu beginnen. Die meisten von ihnen waren Lateinamerikaner.
Die Party war eine rauchgeschwängerte, verschwommene Geschichte aus Tränen und langen, leidenschaftlichen Reden, die ich nicht verstand, unterlegt von der klagenden Hymne aller Unterdrückten, Simon & Garfunkels Version von El Cóndor Pasa, die immer wieder aus der Jukebox tönte. Eine gute halbe Stunde lang den Anblick dieser Machos auszuhalten, wie sie sich umarmten und küssten und einer an der Schulter des anderen weinte, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich war verlegen angesichts von so viel, wie ich fand, überflüssiger Gefühligkeit. Es fiel mir schwer, das alles ernst zu nehmen, denn irgendwann im Laufe meiner Bekanntschaft mit ihnen waren die meisten von ihnen böse über die anderen hergezogen.
Genau das bemerkte ich dann auch gegenüber Ruben Ortiz, einem Argentinier, und war überzeugt, er werde mir zustimmen, denn gerade er - fand ich zumindest - hatte mit am herzhaftesten seine Abneigung gegenüber einigen der Uruguayer bekundet. Aber er verteidigte sie jetzt alle vehement und fragte, was ich, als kaltblütige Chinesin, denn schon groß über die Lateinamerikaner und die Tiefe ihres Gefühls und ihrer Leidenschaften wissen könne. Um einen dummen Streit zu vermeiden, der immer in der Luft lag, wenn Ruben und ich länger als eine halbe Stunde zusammen waren, ging ich.
Als ich in die Viktor-Scheffel-Straße einbog, tauchte hinter mir plötzlich ein Mann auf und begann, neben mir herzugehen. Ich wandte mich um und erblickte einen hochgewachsenen, südamerikanisch aussehenden Mann. Ich glaubte, er gehörte zu der Party, die ich gerade verlassen hatte, und lächelte ihm zu. Zu meinem Erstaunen sprach er mich auf Englisch an. Er habe sich verlaufen. Ob ich ihm wohl sagen könne, wie er zu seiner Pension in Schwabing komme.
Meine erste instinktive Reaktion war, den Kopf zu schütteln, mit orientalischer Unterwürfigkeit zu lächeln und so zu tun, als verstehe ich ihn nicht. Aber zugleich tat er mir leid. Bis vor kurzem war ich auch so jemand aus einem englischsprachigen Land gewesen, der ohne nennenswerte Sprachkenntnisse in die Fremde reist und davon ausgeht, dass sich alles nach ihm richtet. Also fragte ich ihn auf Englisch, wo genau er hinwolle.
Seine Erleichterung hatte etwas Rührendes. Immerhin, dachte ich, war er nicht so arrogant, es für selbstverständlich zu halten, dass ich oder sonst wer in Deutschland, seine Muttersprache beherrschte. Die Pension, nach der er suchte, war nicht weit von da, wo ich untergebracht war, also sagte ich ihm, er solle mit mir gehen.
Unterwegs erzählte er mir, er sei Musikwissenschaftler. Er war für ein Forschungsprojekt nach Deutschland gekommen und würde zwei Jahre lang in München leben und arbeiten. Ich hatte keine Ahnung, was ein Musikwissenschaftler war oder machte, also fragte ich ihn, welches Instrument er spiele. Er nannte ein paar und sagte, sein liebstes sei das Cembalo. Ich sagte ihm, ich hätte noch nie ein Cembalo gesehen und erzählte ihm die Geschichte, die ich zu Hause von einem Freund gehört hatte. Wie ein deutsches Kammerorchester, das einen Cembalospieler hatte, zu einem Konzert nach Kuala Lumpur gekommen war und dort erfuhr, dass es im ganzen Land nur zwei Cembalos gab, von denen eines ausgerechnet auch noch einem Pflanzer gehörte, der in der Wildnis von Pahang lebte.
"Eigentlich in Perak", sagte er lachend. "Diese Wildnis, die im Grunde keine Wildnis mehr ist, liegt im Distrikt von Ulu Banir, und der Pflanzer ist mein Vater. Das heißt also", fuhr er fort, bevor ich in meiner Verblüffung noch reagieren konnte, "Sie stammen aus Malaysia. Was machen Sie dann hier? Die meisten Malaysier studieren in England oder einem der Commonwealth-Länder oder sogar in den Staaten."
"Ich versuche, zu einer professionellen Studentin zu werden", sagte ich lachend und darauf bedacht, nur auf seine direkte Frage zu antworten. Es schien mir zu kompliziert, zu versuchen, die indirekte zu beantworten, warum Deutschland, und ich hatte die Geläufigkeit im Reden verloren.
"Okay", sagte er, "da sind wir schon zwei."
Von diesem Augenblick an gab es eine Verbindung zwischen uns: zwei englischsprachige Wassertröpfchen in einem teutonischen Ozean, zufällig zusammengebracht durch ein obskures Musikinstrument an einem obskuren Ort in einem obskuren Land tausende Meilen entfernt von dem Punkt, an dem wir uns gerade befanden.
In den darauffolgenden Monaten lernte ich Michael Templeton besser kennen. Er war auf der Kautschukplantage seines Vaters im Distrikt Ulu Banir zur Welt gekommen, kurz vor der japanischen Besatzung. Schon bald nach seiner Geburt waren seine Eltern zu einer Einkaufstour nach Singapur gereist und hatten ihn in der Obhut seines malaiischen Kindermädchens Puteh gelassen. Während sie dort waren, wurde Malaya von den Japanern besetzt, und die Templetons strandeten auf der Insel, wo sie die Kriegsjahre in einem Internierungslager verbrachten.
Michael, der auf der Plantage zurückgeblieben war, wurde von der schnell reagierenden Puteh gerettet, die ihn mit in ihr benachbartes Dorf nahm, wo sie und ihr Mann Yusuf sich um ihn wie um ihr eigenes Kind kümmerten. Später, als ihnen klar wurde, dass sie als Malaien relativ sicher vor den schlimmsten Auswirkungen der japanischen Besatzung waren, und dass Ulu Banir strategisch so unwichtig war, dass die Japaner die Region vergleichsweise sich selbst überließen, kehrten sie zurück in ihre Unterkunft hinter dem Bungalow der Templetons. Die nächsten Jahre seines Lebens wuchs Michael wie ein Malaienjunge auf. Malaiisch war auch tatsächlich die erste Sprache, die er lernte, und lange Zeit war er davon überzeugt, dass Hafiz, der Sohn des Paares, zwei Jahre jünger als er, sein Bruder war.
Nach dem Krieg, als seine Eltern auf ihren Besitz zurückkehrten, zog er wieder zu ihnen. Sich an die Lebensart seiner Eltern zu gewöhnen war durch die Anwesenheit von Puteh weniger traumatisch, als es hätte sein können, denn sie blieb sein Kindermädchen, bis er mit sieben oder acht nach England zur Schule geschickt wurde. Während er dort auf der Schule war, begann der Ausnahmezustand. Seine Mutter war eines der ersten Opfer, sie wurde von kommunistischen Terroristen erschossen.
Es war schwierig für ihn, in der Schule zurecht zu kommen, vor allem in den ersten Jahren. Er blieb gegenüber seinen Schulkameraden und Landsleuten fremd und fand Trost in der einen Sache, in der er gut war: der Musik. Und jedes Jahr wartete er sehnsüchtig auf die Sommerferien, in denen er nach Hause zu seiner geliebten Puteh, seinem Busenfreund Hafiz konnte, zurück an den Ort, an dem er sich am sichersten fühlte: dem Anwesen der Templetons.
Über seinen Vater, Jonathan Templeton, redete Michael wenig. Ich hatte den Eindruck, er müsse ein sehr zurückgezogener Mann sein, der nicht recht wusste, was er mit...
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