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Im März 1525 versammelten sich rund 50 gewählte Vertreter einer der größten revolutionären Bewegungen der europäischen Geschichte in Memmingen, einer Kleinstadt im Südwesten des heutigen Deutschlands. Die Delegierten diskutierten im Verlauf mehrerer Sitzungen Forderungen, die schließlich in zwölf Artikeln zusammengefasst wurden. Diese brachten den Zorn und die Unzufriedenheit der niederen Stände in weiten Teilen der südlichen Regionen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, einschließlich Gegenden des heutigen Frankreichs und der Schweiz, zum Ausdruck.1 Diese Massenbewegung bewaffneter Bauern, die sich in "Haufen" genannten Formationen organisierten, griff in Windeseile um sich und riss Zehntausende mit sich. Die Haufen marschierten weite Strecken, um ihre Erhebung zu verbreiten und sich mit weiteren Aufständischen zu verbünden. Städte und Ortschaften der Region schlossen sich ihnen an, erhoben häufig eigene Forderungen und schrieben ebenfalls Artikel. Die Rebellen konnten zumindest anfangs ihre Gegner außerordentlich erfolgreich bedrängen, und sie eroberten und zerstörten Symbole ihrer Unterdrückung. Zum Beispiel wurden in nur zehn Tagen im Bistum Bamberg zweihundert Burgen ganz oder teilweise zerstört.2
Die von den Gesandten aufgestellten Zwölf Artikel fanden weite Verbreitung. Laut Schätzungen wurden im deutschen Reich 25.000 Exemplare unter die Leute gebracht. Wir wissen, dass sie von Tausenden gelesen und begeistert aufgegriffen wurden, weil sie sich in Hunderten lokalen Forderungen Aufständischer niederschlugen.
Die riesige radikale Erhebung, die als Deutscher Bauernkrieg in die Geschichte einging, stand in engem Zusammenhang mit den umfassenderen gesellschaftlichen Gärungsprozessen in Europa. Europa befand sich an der Schwelle zu einer Zeit großer Umbrüche. Kaum drei Jahrzehnte vor dem Ausbruch der Rebellion hatte Christoph Kolumbus einen Prozess angestoßen, der zur gewaltsamen Kolonisierung des amerikanischen Kontinents und zur Vernichtung seiner Ureinwohner durch Krieg, Seuchen und Hunger führte. Schiffe von Spanien und Portugal fuhren um Afrika und in den Indischen Ozean und erschlossen diese Gebiete für den europäischen Handel und die Kolonisierung. Der Sklavenhandel hatte bereits eingesetzt. Schon in den Anfangsjahren wurden Hunderte Menschen in Afrika gefangen genommen, um in den Kolonien Zwangsarbeit zu leisten. Dies war der Beginn eines gewalttätigen Dreieckstauschs, in dem Millionen Menschen über den Atlantik verschleppt wurden, um in Amerika auf europäischen Plantagen zu arbeiten - und zu sterben. Der mit diesem Handel erzeugte Reichtum begann in die europäischen Länder zurückzufließen, insbesondere nach England, Frankreich und Spanien, die sich einen höchstmöglichen Anteil daran zu sichern suchten. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war zu dieser Zeit eher auf die eigene Region konzentriert, vor allem auf den Mittelmeerraum. Das gesamte christliche Europa fürchtete die Ausdehnung der seinerzeit mächtigsten Kraft, des Osmanischen Reichs. Die Osmanen hatten 75 Jahre zuvor mit Konstantinopel eine für das Christentum bedeutende Stadt erobert. Nun drängte das Osmanische Reich überall portugiesische und spanische Handelsniederlassungen, Entdecker und Armeen zurück. Seine Waffen, Technik und Kultur waren denen Europas in vieler Hinsicht mindestens gleich, wenn nicht überlegen. Neben den militärischen Auseinandersetzungen standen die europäischen Herrscher vor weiteren Krisen. Neue wirtschaftliche Mechanismen brachten Spannungen mit sich. In den vorangegangenen Jahrhunderten hatte sich die Feudalordnung langsam verändert. Neue wirtschaftliche Motive machten sich bemerkbar. Das Aufkommen einer Geldwirtschaft, des Warenhandels, einer profitorientierten Landwirtschaft und eines Manufakturwesens waren die Vorboten einer kapitalistischen Ökonomie. Jene, deren Reichtum auf diesen neuen Produktionsmethoden beruhte, gerieten immer häufiger in Konflikt mit der alten feudalen Ordnung. Diese wirtschaftlichen Veränderungen zeigten sich auf vielfache Weise: im politischen, kulturellen wie religiösen Bereich. Insbesondere die Macht der christlichen Kirche, deren Oberhaupt der fast übermächtige Papst war, wurde herausgefordert. Wir werden noch sehen, wie sich diese Spannungen innerhalb des Christentums in der von Martin Luther im Jahr 1517 eingeleiteten Reformation niederschlugen. Auf der Grundlage von Luthers anfänglicher Forderung nach gesellschaftlichem Wandel entstand sehr schnell eine radikale Massenbewegung des "gemeinen Mannes", die zu einer Spaltung in der Kirche selbst führte. Die Anschauungen der Reformation sind den Zwölf Artikeln und unzähligen anderen Forderungen, die von den deutschen Aufständischen in den Jahren 1524 bis 1525 erhoben wurden, deutlich eingeschrieben.
Die Menschen auf der untersten Stufe der Gesellschaft hatten eine lange Phase wirtschaftlichen Stillstands und krisenhafter Ereignisse erlebt. Die Mehrheit der Europäer lebte in ärmlichen Verhältnissen. Hunger und Armut waren alltäglich, ebenso die Entbehrungen, die ständige Kriege der Landesherren um Land und Einfluss mit sich brachten. Auf den einfachen Leuten lastete wegen der hohen Pachten und Steuern enormer wirtschaftlicher Druck. Zum Beispiel klagten die Bewohner von Rothenburg ob der Tauber darüber, dass sie "mehr als die Hälfte ihres Einkommens als Steuern und Zinsen wieder abgeben" mussten.3 Zusammenfassend schreiben die Historiker Tom Scott und Bob Scribner: "Feudale Abgaben oder Pachten machten nicht selten 40 Prozent der erzeugten Güter aus, dazu kam noch der Zehnt."4 Der Druck der Entwicklungen und Spannungen von außerhalb wie innerhalb der deutschen Gesellschaft brach sich im Jahr 1524 in einem bewaffneten Aufstand Bahn, der nur durch schärfste Unterdrückung beendet werden konnte. Zehntausende wurden allein deshalb ermordet, weil sie sich getraut hatten, für die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzutreten. Dieses Buch erzählt die Geschichte dieser Erhebung.
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Der Aufstand der Massen in den Jahren 1524 bis 1526 in Europa wurde als Deutscher Bauernkrieg bekannt. Diese Bezeichnung ist in dreifacher Hinsicht ungenau: Erstens reichte die Erhebung weit über die Grenzen des heutigen Deutschlands hinaus. Es gab damit verbundene Ereignisse in der Schweiz, Teilen des heutigen Frankreichs, in dem heutigen Österreich und selbst so weit entfernt wie im Samland, das seinerzeit als Teil des Königreichs Polen zum Herzogtum Preußen gehörte und heute eine zwischen Polen und Litauen gelegene Enklave Russlands ist.5 Zweitens ging die Beteiligung an den Aufständen weit über die Bauern hinaus. Heute verstehen wir unter "Bauern" meist nur diejenigen, die ihr Land bestellen. Wie Rodney Hilton in seiner klassischen Studie des englischen Aufstands von 1381 jedoch schrieb, gehörten zur "bäuerlichen Gemeinschaft" weit mehr als diese.6 Die Interessen von Handwerkern, Schmieden und Müllern waren mit denen der Dorfgemeinschaft eng verflochten.
Dasselbe gilt für das ländliche Deutschland im 16. Jahrhundert, und in der folgenden Darstellung gibt es viele Beispiele von Personen, die in der Bauernarmee kämpften, aber nicht dem klassischen Bild eines Bauern entsprachen. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen der Zeit, die Hilton diskutiert, und dem Deutschland des 16. Jahrhunderts. Zum Beispiel war die Kluft zwischen den reichen und den ärmeren Bauern innerhalb der Ortschaften größer, und an dem Deutschen Bauernkrieg beteiligten sich auch Lohnarbeiter, insbesondere Bergknappen, die sich vielfach dem Aufstand anschlossen. Und doch handelte es sich vor allem um Angehörige der bäuerlichen Gemeinschaft. Peter Blickle, ein bedeutender Historiker zu diesen Ereignissen, hat die interessante These aufgestellt, der Bauernkrieg sei eine "Revolution des gemeinen Mannes" gewesen. Er vertrat die Auffassung, "Träger der Revolution ist nicht ,der Bauer' (er dominiert in der Regel nur in der ersten Ebene des Aufstands = Formulierung der Beschwerden/Forderungen), sondern der ,gemeine Mann' (= Bauer, Bürger landesherrlicher Städte, nicht-ratsfähige Bevölkerung der Reichsstätte, Bergknappen)".7 Auf diese These werde ich noch zurückkommen, aber sie verkennt das Wesen der Revolution und verwechselt deren Teilnehmer mit der Klasse, die im Mittelpunkt der Ereignisse stand. Und zum Dritten war es kein Krieg. Es gab militärische Auseinandersetzungen und die Bauern bewaffneten sich, bildeten Heere, führten militärische Operationen durch, stürmten Burgen, Schlösser und Städte und zogen in erbitterte Schlachten. Diesen Aufstand einen Krieg zu nennen, übersieht die Verschränkung von religiösen, wirtschaftlichen und politischen Fragen, die zur Entstehung der Revolution beitrugen. Leo Trotzki schrieb in dem Vorwort zu seiner Monumentalgeschichte der Russischen Revolution von 1917, an der er selbst führend teilgenommen hatte: "Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse."8 Zweifellos galt...
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