In seiner Autobiographie Krieg ohne Schlacht - Leben in zwei Diktaturen schreibt Heiner Müller: "Bildende Kunst war für mich seit den 60er Jahren wichtiger als Literatur, von da kamen mehr Anregungen."1 Dieser Satz wirkte wie eine Initialzündung, um Müllers weitgehend unbekanntes Territorium der Bilder zu untersuchen. In der Müller-Rezeption sowohl der DDR als auch der BRD wurde das Ausmaß der bildkünstlerischen Bezüge weitestgehend übersehen und in der Sekundärliteratur kaum systematisch erfasst oder beleuchtet.2 So fehlt eine spezifische Untersuchung des Einflusses von Kunstwerken und Künstlern auf sein Werk. Seit Müllers Tod sind vereinzelt Studien erschienen, die aber nicht seine künstlerischen Verfahrensweisen als solche thematisieren, sondern in zeitlich begrenzten Ausschnitten Teile seines Werks exemplifizieren.3 Dagegen finden sich in Müllers Theatertexten, Schriften, Gedichten und Gesprächen von Anfang an unzählige Verweise auf Künstler, Kunstwerke und deren Techniken. Allein das Personen- und Titelregister der drei Gesprächsbände verzeichnet eine Vielzahl von Künstlern, auf die sich Müller immer wieder bezog, darunter Albrecht Altdorfer, Georg Baselitz, Max Beckmann, Joseph Beuys, Hieronymus Bosch, Lucas Cranach der Ältere, Benvenuto Cellini, Paul Cezanne, Giorgio de Chirico, Alex Colville, Salvador Dalí, Jacques-Louis David, Marcel Duchamp, Albrecht Dürer, James Ensor, Max Ernst, Paul Gauguin, Alberto Giacometti, Francisco de Goya, John Heartfield, Rebecca Horn, Willem de Kooning, Jannis Kounellis, René Magritte, Kasimir Malewitsch, Henri Matisse, Adolph von Menzel, Michelangelo, Barnett Newman, A. R. Penck, Pablo Picasso, Raffael, Robert Rauschenberg, Rembrandt, Peter Paul Rubens, Tintoretto, Leonardo da Vinci, Andy Warhol, Robert Wilson. Die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst stellte für Müller ein eigenes Feld dar, das er, gleichsam um es vor Zugriffen zu schützen, in Andeutungen kleidete. Insofern handelt es sich hier um eine immaterielle Bildmaschine, die nicht in einer Gestalt vorliegt. Die Bildmaschine balanciert entlang der Grenze zwischen Sagbarkeit und Sichtbarkeit. Müllers Werk lässt sich nur dann in Bezug auf die bildende Kunst untersuchen, wenn seine Texte nicht Wort für Wort, sondern auf ihre bildliche Konzeption und Aussagekraft hin exploriert werden.
Geht man der Frage nach, welchen Stellenwert Müllers Aussagen zur bildenden Kunst haben, so fällt zunächst eine sorgsam komponierte Fluktuation Müllers auf. Er hat seine Affinität zur bildenden Kunst nie verschwiegen, sondern stets darauf hingewiesen und in unterschiedlichen Zusammenhängen vorgetragen. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich darauf, Müllers Verweisen nachzugehen und nicht die Aussagen selbst, sondern Müllers künstlerische Verfahrensweisen auf einen Zusammenhang hin zu untersuchen, der nicht sprachlich formuliert vorliegt. Um sich dem komplexen Verhältnis von künstlerischen Strategien und bildender Kunst bei Müller zu nähern, war der Zugang zum Heiner-Müller-Archiv der Akademie der Künste in Berlin unabdingbar. Dort lagern unzählige Notizen, die auf ein früh herauskristallisiertes künstlerisches Koordinatensystem des Autors verweisen. Von großem Interesse waren auch die Bestände des Heiner Müller Archivs/Transitraum der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort befinden sich u. a. Hunderte von kunsthistorischen Publikationen, Monographien, Ausstellungskatalogen, Kunstzeitschriften oder kunsttheoretischen Abhandlungen, die für die Untersuchung von Bedeutung waren. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, die Beziehungen von Müller zur bildenden Kunst in ihrer Gesamtheit darzustellen. Vielmehr wird der Versuch unternommen, sich der Verfahrensweise Müllers anzunähern, um die ästhetischen Tendenzen zu ermitteln, die sich in der Motivik und ihrer Inszenierung artikulieren. Statt den Schwerpunkt auf ein Themenfeld der bildenden Kunst zu setzen, erscheint es in Bezug auf Müllers Werk geboten, dieses in extenso zu sondieren. Die daraus resultierenden Problem- und Fragestellungen werden vorwiegend implizit oder im Rahmen der jeweiligen Analyse beschrieben, da es sich stets um Arbeitsergebnisse bzw. Deutungsangebote handelt, die sich im engeren Sinne auf das konkrete Material beziehen. Interdisziplinär kann nur selektiv auf bestimmte theater-, literatur- und kunstwissenschaftliche Quellen zurückgegriffen werden, zumal nicht die Analyse eines einzelnen Theatertextes im Vordergrund steht, sondern die umfassende Suche nach den Bildern und der Dialog Müllers mit der bildenden Kunst. So begegnen wir in seinem Theatertext Der Bau (1963/64) kunsthistorischen Größen wie Raffael oder Picasso, in Philoktet (1958/64) wird auf die Kupferstichtechnik Max Ernsts zurückgegriffen, in Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei (1976) finden wir Rubens' Gemälde Leda mit dem Schwan und eine intensive Auseinandersetzung mit Max Ernsts Collagenromanen, die zu einem gestalterischen Prinzip erhoben werden. Vergleichbare künstlerische Verfahrensweisen finden sich auch in Germania Tod in Berlin (1956/71), Zement (1972), Die Schlacht. Szenen aus Deutschland (1951/74), Traktor. Fragment (1955/61/74), Die Hamletmaschine (1977), Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution (1979) und Verkommenes Ufer Medeamaterial. Landschaft mit Argonauten (1981/82), in denen Müller konsequent das ganze Spektrum kunsthistorischer Bildwelten integriert, um sich im Bildraum des Theaters in Stellung zu bringen. Dieser Prozess kulminiert schließlich in Bildbeschreibung (1984), wo Müller, angeregt durch den Surrealismus von Ernst oder Magritte und den theoretischen Überlegungen Erwin Panofskys, einen unbekannten Bildraum betritt. Die Auseinandersetzung mit Bildern ist keine Spezialdisziplin der Kunstgeschichte, sondern findet auch auf anderen geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Feldern statt. Daraus resultiert eine Komplexität, die es kaum erlaubt, Müllers bildnerischen Reflexionshorizont vollständig zu erschließen. Dennoch gilt es, unentdeckte Bildspuren in seinem Werk zu erspähen. Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Beitrag, diese Spuren nachzuzeichnen und Müllers künstlerischem Blick aufgeschlossen zu folgen. Der Zugang des Kunsthistorikers ist dabei der eines Flaneurs zwischen den Feldern des Theaters, der Literatur und der bildenden Kunst. Das von Johann Gustav Droysen formulierte Diktum "Das wahre Faktum steht nicht in den Quellen"4 dient ihm als Hinweis, auch die Kraft der Imagination für die Analyse einzusetzen. Die induktive Vorgehensweise ist ein Wagnis, erweist sich aber als Bedingung für eine andere Perspektivierung von Müllers Werk. Im ersten Teil wird sein Vorhaben vorgestellt, Bertolt Brecht mit Picasso zu widerlegen. Anhand der lebenslangen Auseinandersetzung mit Brechts Werk wird deutlich, dass sich Müller insbesondere dessen Materialwert-Theorie zu eigen macht, um seine eigene künstlerische Verfahrensweise zu konturieren. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, welche Funktionen Müller und Brecht der Kunst zuschreiben und wo sich ihre Bildspuren trennen. Dies wird in Zusammenhang mit Müllers Frühwerk analysiert und es wird gezeigt, dass sich Müllers spezifische künstlerische Grammatik im Verweis auf Künstler wie Cranach d. Ä., Dürer oder Bosch von Brecht absetzt und entwickelt. Im zweiten Teil wird dargelegt, wie sich Müllers künstlerische Vorgehensweise zu Beginn der 1970er Jahre durch die Auseinandersetzung mit den Radierungen Goyas, den Kupferstichen Hogarths, den Mythenbildern Beckmanns, dem Frühwerk Rauschenbergs und insbesondere den Werken der Surrealisten entscheidend verändert.
Im Vordergrund stehen die spezifischen Interpretationen der genannten Künstler und Epochen, die Müller in einen doppelten, subjektiven Blick überführt. Ein objektivierender Gestus wird durch einen subjektivierenden ersetzt. Sicherlich wurde Müller durch bestimmte Kunstpublikationen sensibilisiert, doch es ist an dieser Stelle wesentlich, darauf zu verweisen, dass es nicht darum geht, ob Müller den Künstlern im kunstgeschichtlichen Sinne gerecht werden kann. Als Künstler interessiert sich Müller für die Verfahren der bildenden Kunst; er eignet sich deren Verfahren teilweise an und greift bestimmte Aspekte heraus, die für ihn brauchbar oder wichtig sind und somit in seine Ikonographie einfließen können. So zieht er keine Grenzen entlang kunsthistorischer Epochen; vielmehr transferiert Müller unerwartete, nicht kausale, sondern analytische Zusammenhänge in die Bildräume seiner Texte, die er als lebendige Bildquellen auslegt. Wie kohärent Müller dabei vorgeht, zeigt sein wiederholter Verweis auf Friedrich Schlegel, der eine kurze Skizze von Schlegels Theorie der Kunstbetrachtung notwendig macht, zumal sie auch für Müllers Hinwendung zum Surrealismus und zur Technik der Collage eine wesentliche Rolle spielt. Neben den Werkanalysen, die den Kern dieser Arbeit bilden, richtet sich das Augenmerk der Analyse auf die Konvergenz von bildender Kunst und Theater sowie auf Müllers subjektiven Blick, der mit seinem...