Schweitzer Fachinformationen
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Eines Nachmittags öffnet eine Mutter in einer Stadt im Südosten Nigerias ihre Haustür und entdeckt den Körper ihres toten Sohnes, eingewickelt in bunten Stoff. Ihren Sohn, den die eigenen Eltern nie so recht verstanden haben.
Vivek Oji ist schon früh anders als die anderen Kinder und leidet unter Ohnmachtsanfällen. Während der Vater den Militärdienst herbeisehnt, überschüttet die Mutter den Sohn mit Fürsorge. Viveks engste Bezugsperson ist sein Cousin Osita. Kann er Vivek helfen, sein Innerstes zu offenbaren?
Als ich elf war, brach mir Vivek einen Zahn ab. Stehe ich heute mit offenem Mund vor dem Spiegel, muss ich sofort an ihn denken, und eine kriechende Traurigkeit breitet sich in mir aus. Aber als er noch lebte, als es gerade erst passiert war, machte mich der Anblick fuchsteufelswild. Genauso fühlte ich mich nach seinem Tod, erfüllt von einer beißenden Wut, als käme mir Chili hoch.
Als Kinder stritten wir ständig. Nie besonders heftig, ein paar Raufereien hier und da. Aber einmal waren wir beide wegen irgendwas sauer und schubsten uns, hinter seinem Haus unter dem Frangipanibaum, wo unsere Füße im Sand wegrutschten. Vivek stieß mich zurück, ich fiel auf die Betonkante der Sickergrube, meine Lippe platzte auf, und ich brach mir ein Stück Zahn ab. Ich weinte, dann schämte ich mich, weil ich weinte, und sprach ein paar Tage kein Wort mehr mit ihm. Kurz darauf sollte er auf ein Internat im Norden wechseln - irgendeine Militärschule, auf der De Chika bestand, obwohl Aunty Kavita ihn monatelang angefleht hatte, Vivek nicht wegzuschicken. Aber mein Onkel war der Meinung, Vivek müsse abgehärtet werden, dass er zu weich sei und zu sensibel. Ich wollte auch nicht, dass er ging, war aber beleidigt und schwieg deshalb. Er reiste ab, ich blieb allein zurück mit meinem verletzten Stolz und fing jedes Mal, wenn jemand meinen abgebrochenen Zahn erwähnte, eine Prügelei an. In dem Semester prügelte ich mich ziemlich oft.
Gegen Ende des Schuljahrs vermisste ich Vivek so sehr, dass ich es kaum erwarten konnte, bis er endlich zur Regenzeit heim nach Ngwa kam. Während einer dieser langen Sommerferien überredete Aunty Kavita meine Mutter, uns für SAT-Kurse anzumelden.
»Damit die Kinder auf amerikanische Universitäten gehen können«, sagte Aunty Kavita. »Damit sie Stipendien und F1-Visa bekommen. Wir planen sozusagen vor.«
De Chika und sie gingen mit einer Gewissheit davon aus, dass Vivek im Ausland studieren würde, die sich auf ihn übertrug - eine Gewissheit, dass er nur noch eine begrenzte Zeit zu Hause sein und sich für ihn, sobald er seine WAEC-Prüfungen bestanden hätte, eine Tür öffnen würde. Erst später begriff ich, dass diese Überzeugung von dem funkelnden Gold der Mitgift herrührte. Damals aber hielt ich sie einfach alle für sehr optimistisch, was mich ziemlich erstaunte, da meine eigene Mutter, die immerhin an die Macht des Gebets glaubte, ein Auslandsstudium nie auch nur erwähnte. Das Gold war eine Geheimtür, ein Sparkonto, das Amerika für Vivek kaufen konnte.
Ich hatte keine Lust auf die Vorbereitungskurse, aber Aunty Kavita flehte mich an. »Ohne dich geht Vivek nicht hin«, sagte sie. »Er sieht zu dir auf. Du bist für ihn wie ein großer Bruder. Er muss diesen Unterricht ernst nehmen.« Sie tätschelte meine Wange, nickte, als hätte ich bereits zugestimmt, ging lächelnd davon. Ich konnte ihr nichts abschlagen, und das wusste sie. Also fuhren Vivek und ich in den Ferien jeden Freitag und Samstag mit dem Bus zum Testzentrum in der Chief Michael Road. Ich gewöhnte mich daran, die Wochenenden bei Vivek zu verbringen, ans samstägliche Frühstück, wenn De Chika uns die Comicseite aus der Zeitung reichte und Aunty Kavita Eier mit Yams machte, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan.
Nigerianisch kochen hatte sie von ihren Freundinnen gelernt - einer Gruppe Frauen, Ausländerinnen wie sie, die mit nigerianischen Männern verheiratet und für ihre jeweiligen Kinder wie Tanten waren. Die Organisation, der sie angehörten, nannte sich Nigerwives und half ihnen, sich ans neue Leben fern der eigenen Heimat zu gewöhnen. Sie waren keine reichen Expats, zumindest nicht unsere Bekannten. Diese Frauen waren nicht hergekommen, um für die Ölfirmen zu arbeiten, sondern wegen ihrer Ehemänner, ihrer Familien. Manche kannten Nigeria bestens, hatten sogar schon vor Jahrzehnten während des Krieges hier gelebt; einige sprachen fließend Igbo. Gemeinsam brachten sie Kavita bei, Ohasuppe, Jollofreis und Ugba zu kochen. Sie veranstalteten Oster- und Geburtstagsfeiern, und als wir klein waren, begleitete ich Vivek oft dorthin. Fürs Gruppenbild stellten wir uns hinter dem Geburtstagskuchen auf, verkleideten uns auf Kostümpartys als Ninjas und verbrachten die Wochenenden mit den Kindern der anderen Nigerwives im Pool des örtlichen Sportklubs.
Als wir etwa dreizehn, vierzehn waren, veranstaltete Aunty Rhatha einmal eine Mitbringparty. Sie stammte aus Thailand und hatte zwei Töchter, Somto und Olunne, mondgesichtige Mädchen, die lachten wie zwei identische Windspiele und schwammen wie flinke Fische. Aunty Rhathas Ehemann arbeitete im Ausland, sie schien aber bestens ohne ihn zurechtzukommen. Sie buk pinke und gelbe Cupcakes, luftig und süß, verziert mit perfekter Zuckerdeko: Vögel und Schmetterlinge in den tollsten Farben. Obwohl Vivek eigentlich alles Süße liebte, hasste er diese Cupcakes und nahm immer nur einen, den er mir sofort weiterreichte. Während Flügel in meinem Mund schmolzen, liefen wir mit nackten Füßen auf den kühlen Marmorplatten ums Haus. Im Hinterzimmer ging Aunty Eloise auf und ab und telefonierte vermutlich mit einem ihrer bereits erwachsenen Söhne, die in Großbritannien studierten. Eloise war klein und pummelig, hatte rotblondes Haar und immer ein Lächeln im Gesicht. Sie und ihr Mann, ein Arzt aus Abiriba, arbeiteten beide im Lehrkrankenhaus, und Aunty Eloise schmiss gern große Abendessen und Partys, damit nach dem Auszug der Kinder wieder etwas Leben ins Haus kam.
»Warum zieht sie nicht einfach zu ihnen?«, überlegte Vivek laut.
Ich zuckte die Schultern und befreite meinen Cupcake aus dem Papier. »Vielleicht lebt sie gern hier? Oder sie mag ihren Mann?«
»Ach bitte. Der Typ ist so dröge.« Vivek sah sich um, blickte zu den anderen Nigerwives, die im Esszimmer am Tisch standen und Pfannen mit Curry, Hühnchen und Reis anrichteten. »Die meisten von denen sind doch nur wegen ihrer Kinder hier. Ohne die wären sie längst weg, zack.« Zur Veranschaulichung schnipste er mit den Fingern.
»Und was ist mit deiner Mutter?«
»Mba, bei ihr war's anders. Sie hat schon vor der Hochzeit hier gelebt.«
Wir hörten die Haustür aufgehen und wie sich Aunty Rhathas hohe Stimme beim Begrüßen des Neuankömmlings fast überschlug. Vivek neigte den Kopf, um zu horchen, wer da gekommen war, und lächelte mir verschmitzt zu. »Ich glaub, es ist Aunty Ruby«, sagte er und wackelte bedeutungsvoll mit den Augenbrauen. »Du weißt, was das heißt - dein Schwarm ist da.« Zwar verriet meine Haut zum Glück nicht, dass ich errötete, aber in Viveks Blick lag Spott. Aunty Ruby war eine große Texanerin, die eine Kindertagesstätte leitete; ihrem Mann gehörte ein Teppichladen, und ihre Tochter Elizabeth war eines der schönsten Mädchen, die ich in meinem kurzen Leben bisher gesehen hatte. Sie war Läuferin, schlank und hochgewachsen, mit einem elegant geschwungenen Hals. Einmal hatte ich sie zum Wettrennen herausgefordert, aber es war sinnlos, sie bewegte sich, als bräche der Boden unter ihren Füßen weg, als rase die Zukunft auf sie zu. Also blieb ich stehen und sah mit an, wie sie sämtliche Jungs aus der Gegend schlug, die gedacht hatten, sie könnten es mit ihr aufnehmen. Elizabeth gewann jedes verflixte Rennen. Sie streckte die Brust raus und hinterließ Staubwolken. Die meisten Jungs trauten sich nicht mal, mit ihr zu sprechen; mit einem Mädchen, das schneller war als sie, konnten sie nichts anfangen, während ich immer versuchte, ein bisschen mit ihr zu plaudern. Das überraschte sie, glaube ich, aber sie schien mich nicht auf dieselbe Art zu mögen wie ich sie. Dennoch war sie in ihrer stillen Art immer nett zu mir.
»Ach, lass mich in Ruhe, jo«, sagte ich zu Vivek. »Bist du so, weil Juju nicht da ist?«
Sofort lief er dunkelrot an. Während ich ihn laut auslachte, bogen Somto und Olunne mit einer Schüssel Süßigkeiten um die Ecke.
»Wollt ihr?«, fragte Somto gelangweilt und hielt uns die Schüssel hin. Sie hasste es, wenn ihre Mutter Gäste einlud, weil sie dann beim Tischdecken, Servieren und Aufräumen helfen mussten. Vivek schüttelte den Kopf, aber ich griff hinein und suchte wühlend meine geliebten Cadbury-Schokoladen-Eclairs.
Neben Somto stand ihre Schwester Olunne und drehte ihren Lutscher im Mund hin und her. »Worüber habt ihr geredet?«, fragte sie.
»Über seine Frau«, sagte ich grinsend. »Juju.«
Somto schnalzte abfällig. »Ts, bitte. Für die ist mir meine Energie zu schade.«
»Ah-Ahn«, antwortete Vivek, »was ist eigentlich euer Problem?«
»Sie kommt nie zu diesen Treffen«, meckerte Somto. »Wir anderen müssen immer hin, aber die begleitet ihre Mutter nie. Wer glaubt sie eigentlich, wer sie ist, abeg?« Somto hatte recht: Jukwase, die wir nur Juju nannten, kam ungern mit zu den Nigerwives-Treffen. Ihre Mutter, Aunty Maja, stammte von den Philippinen, war Krankenschwester und mit einem wesentlich älteren Geschäftsmann verheiratet. Seit Jahren sah ich mit an, wie Vivek Juju hinterherschmachtete, aber das Mädchen war eben irgendwie seltsam.
»Hält uns wohl für zu hinterwäldlerisch, um sich mit uns abzugeben«, sagte Olunne schulterzuckend. Juju war im Ausland geboren und hatte in England ein paar Jahre die Schule besucht, bevor ihre Eltern nach Nigeria zurückkehrten. Auch wenn sie da noch sehr jung gewesen war, sprach sie mit einem britischen Akzent. Über sie zu lästern war leicht, vor allem, wenn sie uns andere mied.
»Kümmre dich nicht um sie. Die hält sich für was Besseres, wegen ihrer Haare«, sagte Somto und zog eine Schnute. Ich biss mir auf die Zunge. Diese...
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