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Etwa einen Monat später warf de Kanteres kleine Tochter beim Spielen einen Reifen über die Mauer. De Kantere machte sich persönlich auf den Weg, ihn zu holen, und als er die Gartentür offen fand, trat er ein, ohne zu klingeln.
Anna, die zufällig von einem der hinteren Fenster aus den Reifen über die Mauer hatte fliegen sehen und hinausgegangen war, um ihn wieder zurückzuwerfen, suchte ihn gerade unter dem Laub einiger Rhododendren, als der Pastor plötzlich neben ihr stand.
Ich hörte die Geschichte erst beim Dejeuner35. Obwohl Anna wusste, dass ich oben auf meinem Kanapee lag und mit der Katze spielte, hatte sie mich nicht rufen lassen. Als ich mich darüber beschwerte, erwiderte sie: «Du willst den Mann doch sowieso nicht sehen.»
Am nächsten Morgen kam de Kantere wieder, diesmal mit seiner Tochter, offensichtlich also auf Annas Bitte hin, und wieder erzählte sie mir beim Dejeuner, dass sie nun auch das Kind kennengelernt habe. Das Mädchen war zwölf Jahre alt und ebenso artig wie hübsch. Die Mutter war an Tuberkulose gestorben, und da de Kantere in seiner Jugend auch Blut gespuckt hatte, gab es für ihn mehr als genug Gründe, sich um die Gesundheit seiner kleinen Sofie zu sorgen. Er dachte deshalb darüber nach, sich für einige Jahre in der kräftigenden Luft von Davos niederzulassen. Natürlich hatte auch Anna ausführlich von ihrem eigenen verstorbenen Liebling berichtet, und am Ende hatte de Kantere ihr Angebot, für seine Tochter ein wenig Mutter zu spielen, dankbar angenommen!
«Alle Liebe eines Vaters», hatte er gesagt, «kann die weibliche Fürsorge niemals ersetzen.»
Wahrscheinlich hätte jeder andere Mann unter diesen Umständen nun doch die Bekanntschaft mit de Kantere gewünscht und gesucht. Mir wurde dies mit jedem Tag unmöglicher. Sowohl meine Sturheit Anna gegenüber als auch meine Scheu vor de Kantere wuchsen durch meine Vermutung, ja die Gewissheit, dass ihr Beisammensein in der Nachbarschaft nicht unbemerkt geblieben war. Von meinem Zimmer aus sah ich den Pastor fast täglich stundenlang mit Anna und Sofie durch meinen Garten schlendern. Ich beobachtete seine gekünstelte Gestik, hörte das Hallen seiner klangvollen Stimme, und dennoch wechselten wir nicht einmal einen wortlosen Gruß, wenn wir einander auf der Straße begegneten.
Schließlich störte mich die Idiotie dieser Situation derart, dass ich sie, nachdem wir uns in der Stadt wieder einmal beinahe gestreift hatten, beim Tee zur Sprache brachte. Kein böses Wort kam mir dabei über die Lippen. Ich sagte nur: «Herr de Kantere scheint zu glauben, dass ich in meinem Haus zur Untermiete wohne.»
Dennoch reagierte Anna sofort giftig: «Wenn du willst, werde ich ihm morgen sagen, dass Sofie nicht mehr herkommen darf, weil alles hier dir gehört und mir nichts! Das arme Kind, das keine Mutter mehr hat, spielt gerne mit mir im Garten. Aber wenn das für dich ein Grund ist, seinen Vater unhöflich zu behandeln, dann können wir ebenso gut im Wald spazieren gehen.»
Darauf erwiderte ich nichts, doch mir fiel auf, dass sie in ihrer Antwort auch jetzt wieder von Sofie sprach, obwohl meine Bemerkung de Kantere betraf.
Wie sie über ihn dachte, erzählte sie mir nie. Erwähnte sie seinen Namen, dann ausschließlich im Zusammenhang mit seiner großen Vaterliebe, über die sie sich - nicht ohne beleidigende Absicht im Hinblick auf mich - oft genug bewundernd äußerte. Ich hatte also eigentlich nicht einen einzigen vernünftigen Grund, negativ über ihn zu urteilen, und dennoch tat ich es, sooft es nur irgend möglich war.
Es verbarg sich zweifellos Eifersucht in dieser Verbissenheit.
Ich beneidete ihn wegen seines kräftigen Körperbaus, wegen seiner gleichmäßigen Gesichtszüge, die durch einen dichten, schwarzen Haarschopf gekrönt wurden, und nicht zuletzt wegen seiner pastorenhaft glänzenden Erscheinung und der ausgezeichneten Manieren; lauter Eigenschaften, die, meinem Gefühl nach, Frauen verzauberten und in seinem Fall so manches an Taktgefühl ersetzen konnten. Ich erinnere mich auch daran, bei einem Spaziergang folgende Formulierung gleichsam auf meinen Lippen gefunden zu haben: «Eine Frau, die Geheimnisse vor ihrem Mann hat, stellt immer jemand anderen, und sei es sich selbst, über ihn.» Andererseits muss ich zugeben, dass im Grunde meiner Seele ein Wunsch lauerte: «Hoffentlich begeht diese kühle, pflichtbewusste Frau einmal einen Fehltritt, verführt von diesem Mann.» Ich war mir also sicher, dass sie sich in ihm irrte, und diese Gewissheit konnte keine andere Ursache haben als meine unbegründete Überzeugung, dass in diesem de Kantere ein Heuchler steckte. Ob er als Kleinbürger fürchtete, seine Herkunft zu verraten, oder als Lehrer wusste, dass sein Verhalten im Widerspruch zu seinen Lehrmeinungen stand, wagte ich noch nicht zu sagen, doch es schien ausgeschlossen, dass sein gesenkt umherspähender Blick und seine affektierte Sprechweise zu jemandem gehören konnte, der sich einfach so zeigt, wie er ist. Nun sind mir Heuchler umso unausstehlicher, je deutlicher ich erkenne, dass sie ihre Rolle besser spielen als ich. Nur in zwei Fällen kann ich Personen dulden, die mir ähnlich sind, nämlich wenn sie unter mir stehen oder wenn sie sich ebenso gut kennen und folglich ebenso geringschätzen wie ich mich. Von de Kantere nahm ich an, dass er sich mir nicht nur in jeder Hinsicht überlegen fühlte, sondern zugleich auch blind genug war, sein eigenes Komödienspiel für veredelte Natur zu halten. Und da Anna ihn nicht in gleicher Weise durchschaute, sondern mehr und mehr auf mich herabsah, je mehr sie zu ihm aufblickte, ärgerte mich ihre Verehrung ebenso sehr, wie ich dem Moment entgegenfieberte, in dem sich herausstellte, dass sie die Betrogene war und ich der Hellsichtige. Mit welchem Vergnügen würde dann auch ich einmal auf sie herabschauen und mich zu den Taten berechtigt fühlen, die ich, wie ich jetzt schon spürte, auf jeden Fall begehen würde!
Trotzdem hatte ich gleichzeitig Lust, Anna einfach zu befehlen, diesen Mann nicht mehr zu empfangen.
Ganz unerwartet wurde mir eines Morgens de Kantere angekündigt. Das Mädchen hatte gesagt, ich sei zu Hause, und ich fand in der Eile keinen Entschuldigungsgrund, sodass mir nicht viel anderes übrigblieb, als ihn zu empfangen.
Wie üblich verblüffte mich das Unerwartete vollkommen. Das Gefühl, noch nicht korrekt angezogen zu sein, machte mich doppelt verlegen, und die Trägheit meines Hirns, die ich vor allem an warmen, regnerischen Tagen wie einen Nebel empfand, ließ meine Gedanken verblassen, wie die Vorboten des Wahnsinns meiner Vorstellung nach einen werdenden Geisteskranken beklemmen müssen. Die Fragen «Was will der Kerl? Hat Anna ihn aufgehetzt? Kommt er nur ihretwillen? Was weiß er über mich? Wie soll ich mich verhalten?» wirbelten mir durch den Kopf und verstörten mich. Doch nicht eine einzige Antwort dämmerte mir, und de Kantere stand bereits im Zimmer, ehe ich eine klare Vorstellung von der Rolle hatte, die ich spielen wollte.
Wie immer war er ganz in Schwarz gekleidet, den langen, schimmernden Mantel sorgfältig geschlossen, einen glänzenden Zylinder in der dunkel behandschuhten linken Hand.
An ihm war keine Spur von Schüchternheit zu bemerken. Es kam mir so vor, als wäre das Lächeln auf seinen elfenbeinfarbenen Wangen und der Blick aus seinen pechschwarzen Augen, die ungeachtet der Größe des Mannes von weit unten emporzublitzen schienen, ebenso einstudiert freundlich, wie der Klang seiner Stimme einstudiert sonor, das Wedeln seiner blassen Händen einstudiert schön, die Aneinanderreihung seiner Worte einstudiert zierlich. Was für eine traurige Figur musste im Vergleich dazu mein unbeholfenes Sprechen und Gestikulieren machen!
Er begann damit, sich für seine Unhöflichkeit zu entschuldigen.
Ein Aufeinandertreffen von allerlei Umständen habe dazu geführt, dass er meine Frau kennengelernt habe; schon seit Langem habe er mir seine Aufwartung machen wollen, doch sei er jeden Vormittag verhindert gewesen; auch habe er gewusst, dass ich die Nachmittagsstunden mit langen Spaziergängen verbrachte und am Abend häufiger ins Konzert oder ins Theater ging.
Ich musste fast lachen, fand mich selbst ebenso albern wie seine Höflichkeit übertrieben, hielt mich aber bedeckt. Gegen Geistliche habe ich immer eine Abneigung gehabt. Es war mir zeitlebens unmöglich, in diesen Erklärern des mit dem Verstand nicht Fassbaren, diesen offiziellen Wahrheitsverkündern und Trostverabreichern etwas anderes zu sehen als herrschsüchtige Tölpel und Betrüger. Nun hätte diese Ansicht mir zweifellos ein Gefühl der Überlegenheit verleihen können, doch das war nicht der Fall. Ist dies eine Folge der Tatsache, dass ich mich unwillkürlich der Übermacht beuge, die sie auf die Masse ausüben, oder verbirgt sich dahinter wieder dieselbe unangenehme Vermutung, durchschaut zu werden, die mich auch dem Arzt gegenüber so kindlich schwach macht? Ich erinnere mich, dass ich de Kantere eine Zigarre angeboten habe und rot geworden bin, als er sagte, er rauche nicht.
«Du hast natürlich kein einziges Laster», erklang es in meinem Kopf, und unwillkürlich schlug ich die Augen nieder, fürchtend, er könne diesen Gedanken darin lesen.
Bei diesem ersten Treffen redeten wir nur über Belangloses. Weitschweifig sprach de Kantere über die sonnige Lage unserer Häuser, über Annas besondere Freundlichkeit dem Kind gegenüber, über Sofiechens plötzlich erwachte Zuneigung zu Frau Termeer, und ich erwiderte nicht mehr, als unbedingt notwenig war. Was mir von diesem Besuch im Gedächtnis blieb, ist, dass, während doch fast alle anderen Menschen ihre...
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