Schweitzer Fachinformationen
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Montag, 24. Juli
Ich bin von der Intensivstation auf eine normale Krankenstation verlegt worden. Die Ärzte und Schwestern finden, ich erhole mich gut. Meine Sprechfähigkeit verbessert sich, und mein Blutdruck ist nach unten gegangen, mein Puls ist stabil, und die Gefahr einer Lungenentzündung ist geringer geworden. »Alles gut«, wiederholte Claire ihr Lieblingsmantra, als ich von den Pflegern ins neue Zimmer geschoben wurde.
Alles gut.
Wie kann sie das sagen?
Mein Kind ist tot. Mein Mann ist verschwunden. Gut ist nichts mehr.
Die Frau neben mir hat die Vorhänge rund um ihr Bett zugezogen. Die anderen beiden Patientinnen auf der Station, eine ältere Frau und ein Mädchen im Teenageralter, hatten den ganzen Vormittag über stetig Besuch. Das Mädchen feiert heute Geburtstag, und seine Familie hat sich um das Bett versammelt. Sie halten Ballons umklammert und stoßen mit Limonade aus Plastikbechern auf die Kleine an.
Ich drehe mich auf die Seite und schließe die Augen, versuche, ihre fröhlichen Stimmen auszublenden, aber sie werden immer lauter.
Die Menschen sprechen oft davon, von einer Leere erfüllt zu sein, aber ich glaube, ich habe das eigentlich noch nie empfunden, noch nie so richtig. Früher war Leere ein abstraktes Konzept, eine dahingesagte Phrase, die vom Zustand des Kühlschranks bis zur Stille in einem Haus an einem Vormittag unter der Woche zu allem passte. Nichts konnte mich auf diese Art Leere vorbereiten, auf diesen wunden Zustand des Ausgeliefertseins, den ich gerade durchlebe.
Ich habe nichts. Ich bin nichts. Ich würde sogar bezweifeln, dass ich überhaupt existiere, wenn ich nicht den warmen Atem spüren würde, der in meinen Mund eindringt und ihn wieder verlässt. Ich erinnere mich an den Satz, der bei Seans und meiner Hochzeit vorgelesen wurde: »Die Liebe lässt uns leben.« Ich habe ihn ausgewählt, weil mir der Klang dieser Worte gefallen hat, die romantischen, jugendlichen Untertöne. Ich habe nie darüber nachgedacht, was der Satz wirklich bedeutet, wenn man ihm auf den Grund geht, aber jetzt nähere ich mich ihm an.
Elspeth und Sean ließen mich leben. Sie waren die Hände, die mich hochhielten, die Luft, die mich von einem schlaffen Stück Gummi in einen schwebenden Ballon verwandelte. Ohne sie existiere ich nicht.
Ich liege da, halte mir die Ohren zu, um das fröhliche Schwatzen der Besucher auszublenden, und denke an den Moment zurück, in dem ich Elsbeth geboren habe. Die Hebamme meinte, die Geburt würde sich anfühlen wie ein Verstoßen. »Sie werden dieses Gefühl nie vergessen«, sagte sie danach. »Diese Leere.«
Ich weiß, was sie meinte, aber das war keine Leere, nicht einmal annähernd. Der freie Platz in meiner Gebärmutter war durch ein siebeneinhalb Pfund schweres Bündel von einem Baby ersetzt worden, das sich dauerhaft in meinen Armen niederließ. Die Muskeln meines rechten Armes wurden stark und fest, weil sein Kopf immer darauf ruhte. Meine Brüste waren prallvoll mit Milch und so schwer, dass ich manchmal fürchtete, ich würde umkippen. Das Haus, das mir zu Beginn zu groß vorgekommen war, erwachte zum Leben. Jedes Zimmer wurde mit Säuglingskörbchen, Wickelkommoden, Babysitzen, Kuscheltieren und Windeln ausgestattet. Elspeth erfüllte das Haus bis unters Dach. Ihre Ankunft verwandelte Larkfields in ein Heim. Es gab so viel zu tun in meinem Leben, dass mir zum Nachdenken gar keine Zeit blieb. Sean ging jeden Morgen um sieben aus dem Haus und küsste mich zum Abschied auf die Wangen, während ich Elspeth zum ersten Mal am Tag stillte. Wenn er nach Hause kam, waren wir beide so erschöpft von unseren Tätigkeiten, dass wir, die Teller auf den Knien, im Wohnzimmer aßen. Manchmal sogar im Bett. Mein Gehirn hatte die Form eines Babys angenommen, jeder Zentimeter davon war von Elspeth besetzt, ihren Stillzeiten, ihrer Temperatur, ihren Zielvorgaben. Für alles andere war kein Platz. Mein Leben war ein gutgenährter Bauch, dick und voll und satt.
Wie kann es sein, dass Elspeth einfach nicht mehr da ist? Ich drehe mich auf den Rücken und betrachte die Leuchtröhren an der Decke. Meine schöne Kleine. Wie kann es sein, dass sie tot ist? Es ist unfassbar.
»Sie ist gleich hier.«
Ich blicke nicht auf, als ich höre, wie die Schwester noch einen Besucher ins Zimmer führt, aber dann stoppen die Schritte vor meinem Bett. Ich setze mich auf. Vor mir steht eine Polizistin. Sie ist etwa so alt wie ich, groß, mit rosigen Wangen und dicken kastanienbraunen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden sind. Sie trägt einen schlecht sitzenden schwarzen Hosenanzug und eine hellblaue Bluse. Als sie näher kommt, rieche ich ihr Parfüm: ein bitterer Zitrusduft.
»Hallo, Maggie«, sagt sie. »Ich bin Detective Sergeant Grayling. Ich gehöre zu dem Team, das den Unfall untersucht. Darf ich mich setzen?«
Sie hat einen Yorkshire-Akzent. Er erinnert mich an ein Mädchen aus Leeds, das ich kannte, als ich jung war.
»Ja, natürlich«, antworte ich.
Die Polizistin zieht den Stuhl zu mir und setzt sich.
»Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.« Sie rückt mit dem Stuhl näher. »Keine Sorge, nichts allzu Anstrengendes, es geht nur um den Unfall.«
»Den Unfall?«, wiederhole ich und zucke zusammen, als ein Besucher des Mädchens brüllend lacht.
Grayling sieht missbilligend zu ihm hinüber und wendet sich dann wieder mir zu, mit etwas sanfterem Gesichtsausdruck.
»Wäre das in Ordnung?«
Ich nicke.
»Also, ich weiß, dass Dr. Elms Ihnen in groben Zügen schon erzählt hat, was passiert ist«, fährt sie fort. »Aber es gibt noch ein paar Dinge, die ich klären möchte.«
Plötzlich bekomme ich Herzklopfen.
»Gibt es etwas .«
»Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Maggie.« Grayling legt mir die Hand auf den Arm. »Das sind nur Routinefragen.«
Ich ziehe mir die Decke bis ans Kinn. Meine Hände zittern vor Angst.
»Sie müssen mir alles über den Abend des zwölften Mai erzählen, was Sie noch wissen«, erklärt Grayling. »Warum Sie im Auto waren. Wo Sie hinwollten. Jedes noch so kleine Detail, das Ihnen einfällt, wird uns helfen.«
Ich schaue die Polizistin verständnislos an. Sie könnte genauso gut eine fremde Sprache sprechen. In meinem wirren Kopf ist der 12. Mai ein abstraktes Konzept, so fern und fremd wie die körperlosen Stimmen, die vom Korridor aus in das Krankenzimmer dringen.
»Sie waren vor dem Plough Inn«, fährt Grayling fort. »Auf dem Parkplatz neben der Brücke. Entsinnen Sie sich noch, was sie dort wollten?«
Ich kenne den Plough Inn. Das ist der Gastropub gleich außerhalb von Lewes. Ich war einmal dort, vor Jahren, als Sean und ich gerade in Larkfields eingezogen waren. Es gefiel uns nicht sonderlich dort. Das Essen war grauenhaft, und die Stammgäste waren eine ziemlich verschworene Gemeinschaft. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich an jenem Abend dort hingefahren sein sollte. Ich schüttle den Kopf.
»Sie erinnern sich also nicht, das Auto dort geparkt zu haben?« Die Polizistin kneift die Augen zusammen.
»Nein«, flüstere ich. »Ich erinnere mich an gar nichts. Bitte erzählen Sie mir, was passiert ist.«
»Also .« Grayling zögert eine Sekunde. »Offenbar sind Sie aus irgendeinem Grund aus dem Auto ausgestiegen und haben Ihre Tochter auf dem Rücksitz gelassen. Im Bericht der Feuerwehr steht, dass die Handbremse . Sie war nicht ganz angezogen.«
»Soll das heißen . es war meine Schuld? Habe ich den Unfall verursacht?«
»Das will ich damit nicht sagen«, meint Grayling. «Die unsachgemäße Anwendung der Handbremse deutet darauf hin, dass es nur ein Unfall war. Das Auto ist losgerollt, und sie konnten es nicht aufhalten. Nach den Verletzungen an Ihren Händen zu urteilen, scheinen Sie alles in Ihrer Macht Stehende getan zu haben, um Ihr kleines Mädchen zu retten.«
Ich blicke zu ihr auf. Wir wissen beide, was das bedeutet. Ich habe alles getan, aber es war nicht genug.
»Dem Coroner hat das genügt.« Die Polizistin nickt. »Er hat es als Unfalltod eingestuft.«
In meinem Kopf drehen sich die Fakten. Coroner. Unfalltod. Handbremse. Nichts davon leuchtet mir ein. Warum kann ich mich an nichts erinnern?
»Da ist nur eines, was mir keine Ruhe lässt«, sagt Grayling. Ihr Tonfall hat sich verändert.
»Ja?« Mir schnürt sich der Hals zu.
»Die Autotüren waren verschlossen.« Die Frau fixiert mich teilnahmslos. »Gibt es einen Grund, weshalb Sie Ihre Tochter im Auto eingesperrt haben?«
»Nein«, antworte ich. »Ich habe sie nie eingesperrt, niemals. Ich verstehe das nicht. Sind Sie sicher, dass der Wagen zugesperrt war?«
»Ja, das ist dem Bericht der Feuerwehr eindeutig zu entnehmen. Könnte es sein, dass Sie in den Pub wollten?«
»Nein«, rufe ich. »Warum sollte ich alleine in einen Pub gehen? Ich trinke ganz selten etwas. Und es kann unmöglich sein, dass ich Elspeth alleine im Wagen gelassen habe.«
»Wäre es denkbar, dass Sie jemanden treffen wollten?«
»Nein«, sage ich.
»Aber wie können Sie sich dessen so sicher sein, wenn Sie keine Erinnerung an den Abend haben?«
»Ich weiß es einfach«, erwidere ich mit zitternder Stimme. »Ich gehe nicht viel unter Leute, eigentlich kaum. Mein Leben dreht sich um meine Familie - Sean und Elspeth. Also, sie .« Ich spreche nicht weiter, meine Kehle ist wie zugeschnürt.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Maggie.«
»Elspeth hatte Angst vor verschlossenen Türen«, sage ich. »Als sie...
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