Schweitzer Fachinformationen
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Der Østensjøvann ist groß wie ein Meer. Das Ufer ist sumpfig und mit hohem, undurchdringlichem Schilf bewachsen. Die Rohrkolben winken mit ihren braunen Zigarren, Schilfgras türmt sich über Schwertlilien und giftiger Drachenwurz auf.
Schon seit der Eisenzeit steht der Hof Abildsø vornehm und einsam am Hang über dem östlichen Ufer. Am Wasser gibt es keine Bebauung, aber ein Wanderweg führt rund um den See. Sonntags geht man hier spazieren. Hobbyornithologen haken seltene Arten auf ihrer Liste ab, und die verwöhnten Vögel fressen den Kindern aus der Hand.
Heute ist jedoch kein Sonntag, und kaum ein Mensch ist unterwegs. Vater und Söhne tragen hohe Gummistiefel. Die nackten Beine der Jungen sehen dünn und zerbrechlich aus, wie Blumenstäbchen in neuen Töpfen. Arnstein zeigt in die Luft, und alle sehen zwei Libellen bei der Paarung zu. Sie packen einander im Flug, und für wenige, artistische Sekunden verdrehen sie ihre langen Leiber zu bizarren Formen, wie Drachengiebel auf einer Stabkirche oder Hieroglyphen aus einem vergessenen Alphabet, ehe sie sich trennen und wieder zu glänzenden Kampfhubschraubern werden.
»Manche nennen die Libellen Augenbohrer. Das ist Unsinn, die tun keinem was! In Dänemark nennen wir sie Goldschmiede. Faszinierende Wesen!«
»Das sind Drachenfliegen!«, sagt Truls.
»Ja, das passt«, sagt Arnstein und schaut zu ihrem Vater auf. Der Kaiser trägt einen schwarzen Anzug und deutet mit dem Spazierstock auf die davonfliegenden Insekten.
»Ja, von jetzt an nennen wir sie Drachenfliegen«, sagt er und nickt.
Truls schwänzelt wie ein Welpe um die Beine des Vaters. Sie haben den Kaiser heute einen ganzen Tag lang für sich, und das soll er nicht bereuen. Der Vater ist gut gelaunt. Das Dauerlächeln unter dem Preußenschnurrbart wird von schmalen Augen und einer glatten Stirn bekräftigt. Truls fragt ihn Dinge, die er eigentlich schon weiß, nur um das Gespräch in Gang zu halten. Arnstein ist etwas skeptischer. Der Kaiser hat doch bestimmt etwas vor - wozu diese hohen Gummistiefel?
Der Vater hat immer einen Spazierstock dabei. Warum eigentlich, er ist doch noch gar nicht so alt? Fünfzig vielleicht, aber er kommt aus einer anderen Zeit. Er war schon immer ein älterer Herr, obwohl er agil und in guter körperlicher Verfassung ist. Daheim im Kvartsveien springt er mindestens so oft über das Tor, wie er es öffnet. Der Spazierstock berührt selten den Boden, er benutzt ihn zum Zeigen: »Da oben, Arnstein. Weißwangengänse oder Kanadagänse?« Und wenn die Antwort ausbleibt oder der Junge die Aufgabe nicht ernst genug nimmt, kann der Stock auch zur Waffe werden. Die Laune des Kaisers schwingt leicht von geduldigem Schul- zu grobem Polizeimeister um, und die Rillen im Gummiknauf des Spazierstocks hinterlassen rote Abdrücke auf zarter Kinderhaut.
»Der Platz hier ist gut geeignet«, sagt der Kaiser und gibt Truls die Papiertüte mit altem Brot. Sie stehen an einer Lichtung im Schilf, wo ein Bach ein kleines Delta gebildet hat und man gut ans Wasser gelangt. Der Boden ist weich und gibt nach, die Gummistiefel saugen sich im Schlamm fest, und sie müssen die Zehen krümmen, um sie nicht zu verlieren. Verschiedene Wasservögel nähern sich erwartungsvoll. Die Haubentaucher mit ihren Mohikanerkämmen und rostroten Backenbärten sind reservierter als die fast handzahmen Stockenten. Die Jungen haben die Hände voll Brotkrumen, und die Vögel peitschen das Wasser beim Kampf um das Essen auf.
»Nicht so weit rauswerfen!«, befiehlt der Kaiser. »Füttert sie so nahe wie möglich.«
Arnstein erschrickt und wirft einen Blick auf den Spazierstock. Er ist nicht auf sie gerichtet. Es ist auch nicht der übliche Spazierstock, wie er nun sieht, sondern ein längerer mit einem soliden, T-förmigen Griff. An seiner Seite verläuft ein Stahldraht durch Ösen im Abstand von zehn Zentimetern. Am Ende des Stocks bildet er eine Schlinge, ehe er durch dieselben Ösen an der Seite nach oben verläuft und in einem Ring endet. Der Vater hat zwei Finger durch den Ring gesteckt und öffnet die Schlinge bis zur Größe eines Tennisschlägers.
Ein großer Enterich dominiert das Festmahl. Er schnattert und kämpft, und anstatt Brotkrumen fangen seine Konkurrenten sich Ohrfeigen von seinen starken Flügeln ein. Der Kaiser hält den Stock mit ausgestreckten Armen und taucht die Drahtschlinge flach ins Wasser. Er nickt Arnstein zu, der den Zweck des neuen Stocks erkannt hat. Der Junge wirft ein großes Stück Brot mitten in die Schlinge. Der Enterich paddelt wild und verscheucht die anderen Enten. Sein Kopf funkelt elektrisch grün, als er den Schnabel über dem Brot öffnet.
In diesem Moment zieht der Kaiser mit der linken Hand die Schlinge um den Entenhals zu. Das Brot ploppt aus dem Schnabel wie der Korken einer Sektflasche. Ohne auch nur ein Mal zu gackern, versucht der Enterich wegzufliegen. Der Arm des Vaters und der Stock schnellen in die Luft, ebenso die anderen Enten. Sie flüchten in kollektiver Panik, das Schilf wird vom Luftdruck der vielen Flügel platt gedrückt. Truls heult laut. Er trifft den Kammerton des Entenschwarms in einem Chor, der weder nach Kind noch nach Vogel klingt. Er steigt rückwärts aus den Gummistiefeln, plumpst im Bach auf den Hintern und starrt mit großen, runden Augen auf den Todeskampf am Stock des Vaters.
Der Enterich ist stark und gibt nicht auf. Er flattert wild und haut dem Kaiser den Hut vom Kopf. Der Stock wackelt hin und her. Der Vogel ist zum Drachen am Himmel geworden. Truls hat alle Luft aus sich herausgeheult und vergisst, wieder einzuatmen. Klatschnass sitzt er im Bach und glotzt.
Dann ist es vorbei. Der Enterich hängt schlaff in der Schlinge. Der Kaiser wirft ihn mit dem Stock an Land und versucht, seine Stiefel aus dem Schlamm zu ziehen. Arnstein betrachtet die spitze Zunge, die aus dem Schnabel des Tieres hängt, und die Augen, die ihren Glanz verloren haben und wie kaltes Fett erstarren.
Die Augen des Kaisers hingegen strahlen vor Freude. Er blickt seine Jungen an und sagt etwas Unverständliches, vielleicht irgendeinen Artennamen auf Dänisch, das bei ihm mehr wie Deutsch klingt. Truls hat wieder Luft geholt und sieht aus, als wolle er sie gleich wieder mit einem Schluchzen ausstoßen, aber Arnstein sieht dem kleinen Bruder vorwurfsvoll in die Augen, worauf er sich zusammenreißt.
Auf dem Heimweg, im Gänsemarsch mit der Sonne im Rücken, redet der Kaiser enthusiastisch ins Leere, während er mit dem Stock auf alle möglichen Pflanzen zeigt oder Bemerkungen über die Vogellaute in den Bäumen macht.
»Hört euch den Buchfink an! Der sagt schönes Wetter voraus! Ist das nicht lustig?«
Die Brüder schweigen. Arnstein trägt die Ente im Rucksack. Sie fühlt sich schwer und warm an. Hinter ihm geht Truls, dessen Stiefel bei jedem Schritt nass quatschen.
Sie gehen das letzte, steile Stück zum Kvartsveien hinauf. Der Kaiser hält ihnen das Tor auf, und sie betreten den Garten, wo Mutti zusammen mit Totem wartet. Sie sieht wütend aus. Totem überragt sie um einen Kopf. Auch er trägt Gummistiefel, und zwar beide.
Die Ente liegt im Rucksack und ist tot. Der Kaiser kniet sich vor Truls hin, dessen Gesicht ganz verschmiert ist. Der Vater umfasst das Gesicht seines jüngsten Sohnes mit beiden Händen und will ihm mit den Daumen den Schmutz von den Wangen reiben, aber er hinterlässt nur zwei braune Streifen. Truls wird zum Apachen. Arnstein fährt sich mit den Fingern übers Gesicht, er braucht auch Kriegsbemalung, denn es wird einen Rüffel geben. Die Frage ist nur, ob man die Karten gleich auf den Tisch legen oder so lange wie möglich den Unschuldigen spielen soll.
Totem steht wie eine Salzsäule da. Ein Fremder, obwohl er der Älteste von ihnen ist. Die Jungen beobachten, wie Mutti und der Kaiser ein paar Worte wechseln. Sie ist ganz rot im Gesicht. Er neigt den Kopf zur Seite und deutet mit dem Spazierstock auf die Jungen, die verlegen zu Totem hinüberschielen. Der Vater zieht die Ente aus dem Rucksack und gibt sie Mutti, die sie so fest am Hals packt, dass sie spätestens jetzt sterben würde, wenn sie nicht schon tot wäre. Dann trampelt sie die Treppe hinauf. Sie hören ein Hämmern, und als sie hereinkommen, hängt die Ente an einem Nagel im Windfang. Dort soll sie hängen, bis das Fleisch gereift ist, erklärt der Vater. Die Jungen nicken, als würden sie es verstehen. Reifen, wie ein Apfel. Oder wie das schlechte Gewissen.
Nach der Bettzeit, aber bevor Arnstein ins obere Etagenbett geklettert ist, sitzen die Brüder in ihrem Zimmer auf dem Boden und flüstern miteinander. Sie kommen zu dem Schluss, dass sie aus Notwendigkeit, ja fast schon aus Notwehr handelten, als sie einen von Totems Gummistiefeln hinter dem Badezuber in der Waschküche versteckten. Dieser Tag war einfach zu wichtig. Nur sie und der Kaiser auf Expedition, ohne ihn. Die Treppe knarrt, und sie verstummen. Erst als die Gefahr vorüber ist, flüstern sie weiter. Um sie herum liegen drei aufgeschlagene Bände von Brehms Tierleben. Bei den Amphibien ist der Salamander aufgeblättert, bei den Säugetieren der Biber und bei den Vögeln Cuculus canorus. Sie betrachten das Bild des jungen Kuckucks, der grau und fett mitten im Nest sitzt und einen Platz einnimmt, der nicht ihm gehört. Die Eier mit den echten Kindern hat er hinausgeworfen. Der Text ist auf Deutsch und für sie unlesbar, aber der Kaiser hat ihnen alles erklärt, und was der sagt, merken sie sich. Der Kuckuck ist ein Fremder im eigenen Haus.
»Der Kuckuck ist gaga«, sagt Truls.
Filip starrt auf das Birkenparkett, während der Alte erzählt. Die Holzmaserung...
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