Schweitzer Fachinformationen
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"Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt."
William Shakespeare, Hamlet
Ich war kein Wunschkind. Zumindest war ich nicht erwünscht, so wie ich war. Im Jahr 1964 hatten meine Eltern bereits ihren vier Jahre alten Sohn Mathias und die Familienplanung, die ursprünglich mal einen Sohn und eine Tochter vorgesehen hatte, eigentlich zu den Akten gelegt. Als meine Mutter Karen dann doch noch einmal schwanger wurde, hielt sich die Begeisterung entsprechend in Grenzen. Und als mein Vater erfuhr, dass wieder ein Junge unterwegs war, soll er nur mit den Achseln gezuckt und gesagt haben: "Na ja, ich hätte dann wenigstens gern ein Mädchen gehabt."
Was Edgar Ellermann bekam, war ein Pfundskerl. Denn meine Mutter gab mir schon vor meiner Geburt etwas mit auf den Weg, mit dem ich bis heute zu kämpfen habe: viele Kalorien. Das Letzte, was sie aß, bevor ich, Andreas Ellermann, am 15. Juni 1965 im Reinbeker St. Adolf-Stift geboren wurde, war eine mächtige Portion Spaghetti. Ich glaube, daher rührt mein Hang zu allem, was dick macht.
Doch die überschüssigen Pfunde sollten erst Jahre später zum Problem werden. Bei meiner Geburt war ich eher proper als dick. Stattdessen überraschte (und schockierte) ich meine Eltern mit der Tatsache, dass ich das Licht der Welt komplett behaart erblickte. Nicht nur auf dem Kopf, auch an Armen und Beinen, im Gesicht und auf dem Rücken: nichts als Haare. Als die Nonnen meiner Mutter das von einem Handtuch kaum verhüllte, behaarte Bündel reichten, soll sie erschrocken gerufen haben: "Das ist doch nicht mein Kind, der sieht ja aus wie ein Affe!" Nein, ein Wunschkind war ich sicher nicht.
Später lernte ich, dass Neugeborene, die komplett mit einem Haarflaum bedeckt sind, gar nicht so selten sind. Und dass diese sogenannte Lanugobehaarung, die den Säugling im Mutterleib umhüllt und schützt, tatsächlich auf unseren genetischen Verwandten, den Affen, zurückgeht. Je weniger dieser Haare, desto reifer ist das Baby bei der Geburt, lautet die Formel. Ich war damals also alles andere als frühreif, und daran sollte sich auch im Teenageralter nichts ändern, aber davon später mehr. Heute weise ich noch immer eine üppige Körperbehaarung auf, und ich finde, das passt zu mir: groß, stark, behaart - und immer noch ein bisschen unreif.
Neulich bekam meine Partnerin Ilka ein Foto von mir im Kleinkindalter in die Finger und stutzte. "Guck dir diese Augen an", sagte sie und hielt mir den noch klitzekleinen Andreas vor die Nase. "Du wusstest schon zu dem Zeitpunkt, was du wolltest. Dieser Blick sagt, die Kindheit können wir streichen, ich will jetzt gleich loslegen." Ich betrachtete das alte Foto und sah, was sie meinte. Und sie hatte ja recht. Ich durfte mich nicht langsam ins Leben tasten, ich musste mich zurechtfinden. Ich hatte sehr viele Tanten in Reinbek, die alle kinderlos waren. Meine Mutter arbeitete neben ihrer Aufgabe als Hausfrau noch als Haushaltshilfe für ältere Menschen in der Gegend, also wurde ich von Tante zu Tante geschoben. Das war die Art, wie ich aufwuchs und aufgezogen wurde: heute hier, morgen dort.
Die ersten fünf Jahre wohnten wir in Reinbek am Schmiedesberg, später sind wir innerhalb der Stadt umgezogen, und im Grunde bin ich Reinbek und der Umgebung immer treu geblieben. Der Ort, mit dem ich die frühen Jahre aber intensiv verbinde, ist Brunsbüttel. Dort endete bereits im Alter von acht Jahren meine Kindheit, weil ich meinen ersten Job zugewiesen bekam: Spion.
Mein Großvater hatte in Brunsbüttel eine große Entsorgungsfirma aufgebaut, die inzwischen mein Onkel leitete. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten einen Führerschein, und so fuhren mein Bruder und ich in den Ferien mit der Bahn nach Elmshorn oder Pinneberg, wo mein Großvater uns am Bahnhof mit dem Auto, einem in meiner Erinnerung riesengroßen Mercedes, abholte. Genauso groß war die Zigarre, die Opa auf der Fahrt nach Brunsbüttel rauchte. Er ließ die Seitenscheiben stets geschlossen und die Heizung auch bei gutem Wetter großzügig laufen. Ich freute mich immer auf die Fahrt in diesem herrschaftlichen Fahrzeug, aber wenn ich dann drinsaß und im dichten blauen Dunst zu atmen versuchte, ohne mich zu übergeben, dachte ich nur noch: Wenn du diese Tour überlebst, bist du gut!
1 - Kuckuck, da bin ich. Am 15. Juni 1965 kam ich in Reinbek zur Welt. 2 - Der hat gerade noch gefehlt: als Baby im Arm meiner Mutter. 3 - Diese undatierte Aufnahme zeigt die komplette Familie Ellermann auf Tour. Unten links: der kleine Andreas 4 - 2016 machte ich mit meinen Eltern noch einmal Urlaub in Büsum. Im Jahr darauf starb mein Vater. 5 - Kindheit in Reinbek: Michael Peters (r.) war mein enger Schulfreund. Hier nehmen wir seine Schwestern in unsere Mitte.
© Alle Fotos: Andreas Ellermann privat
Ich überlebte und konnte also meine Spionagetätigkeit antreten, die erneut etwas mit Autofahren zu tun hatte. Als acht Jahre alter Bengel fuhr ich einen Sommer lang jeden Tag mit einem der Müllwagen mit. Mein Auftrag: die bei meinem Onkel angestellten Fahrer aushorchen und beobachten und später darüber Bericht erstatten. Wie oft machten sie Pause und wo? Wie sprachen sie über ihre Arbeit und ihre Chefs? Worüber unterhielten sie sich untereinander, was störte und beschäftigte sie? Es war die Zeit des Kalten Krieges, aber ich wurde als westlicher Agent im Westen eingesetzt. Morgens bekam ich von meiner Tante, die auch meine Patentante war, mein Butterbrot mit auf den Weg, und dann bin ich von morgens bis abends als Beifahrer unterwegs gewesen und habe die Augen offen gehalten und die Ohren gespitzt. Und meine Eltern waren mich den Sommer über los.
Meine erste eigene Geschäftsidee hatte gleich etwas mit Showbusiness und Schaustellerei zu tun. Ich hatte eine Katze namens Minka, die ungewöhnlich zutraulich war. So zutraulich, dass ich sie dressieren und ihr das Tanzen beibringen konnte. Wenn ich mit einem Stock bestimmte Bewegungen vollführte, stellte sie sich auf die Hinterbeine und begann, "Katzentango" zu tanzen, wie ich es nannte. Mit dieser Nummer sind wir auf dem Reinbeker Wochenmarkt aufgetreten. Für 20 Pfennig konnte man dort meine Minka Tango tanzen sehen. Zwei, drei Mark kamen da an einem Nachmittag zusammen - nicht schlecht für einen Achtjährigen Anfang der 1970er-Jahre.
Ich bezeichne mich selbst noch heute gern als "Zirkuspferd" und würde behaupten, dass diese Karriere damals ihren Anfang nahm. Allerdings endete die Berufslaufbahn als Katzendompteur schlagartig und tragisch. Minka wurde ihre Zutraulichkeit zum Verhängnis. Sie kam dem Nachbarshund, einem Boxer, zu nah und wurde von ihm totgebissen. Mir wurde nicht nur ein geliebtes Haustier genommen, sondern auch der Lebensunterhalt. Aber im Ernst: Als die Nachbarn uns die tote Katze in einem Schuhkarton brachten, war das für mich ein riesiger Schock.
Meine erste regelmäßige bezahlte Tätigkeit war moralisch weit weniger heikel als meine Spionageeinsätze an der Westküste, aber auch deutlich langweiliger als die Auftritte mit Minka. Ich wurde Zeitungsjunge und verteilte täglich tausend Exemplare des "Hamburger Abendblatts". Einmal pro Woche kam noch das "Bille-Wochenblatt" dazu, das war dann immer besonders anstrengend, eine stundenlange Plackerei. Zeitungen hatten damals noch riesige Auflagen, das "Abendblatt" gehörte auch am Hamburger Stadtrand zur Pflichtlektüre. Das hatte zur Folge, dass ich mir an den schweren Paketen mit den verschnürten Zeitungen beinah einen Bruch hob.
Auf meiner Runde lag das Reinbeker Altersheim. Es dauerte nicht lange, und ich kannte "meine" betagten Kunden alle beim Namen. Bei einer alten Dame namens Kellermeyer wurde ich sogar zum Vorleser. Sie konnte kaum noch etwas sehen, wollte aber auf ihre Zeitungslektüre nicht verzichten. Meine Aufgabe bestand also darin, ihr täglich alle Überschriften vorzulesen und die ein, zwei Geschichten, die sie besonders interessierten. Dafür gab Frau Kellermeyer mir jeden Tag zwei Mark, die wollte ich natürlich mitnehmen.
Dass es mich trotzdem jedes Mal Überwindung kostete, die 15 Minuten mit der netten Frau zu verbringen, lag an den zwei Bananen, die ich außerdem schälen musste. Eine war für mich, die andere landete im zahnlosen Mund meiner Gastgeberin. Ich weiß nicht, warum Frau Kellermeyer immer ihr Gebiss herausnahm, wenn sie eine Banane aß. Jedenfalls zerdrückte sie die Frucht stets mit einer Gabel und schob sich das Mus in den Mund, oft genug ging auch etwas daneben. Heute esse ich wieder sehr gern Bananen, zu meiner Zeit als Zeitungsjunge konnte man mich damit jagen.
Zwischen Reinbek und Brunsbüttel liegen rund 100 Kilometer, für mich lagen als Kind Welten dazwischen. Während ich mir zu Hause mit harter Arbeit und stoischer Geduld das erste eigene Einkommen verdiente, flog mir das Geld bei meinem Großvater einmal im Jahr sprichwörtlich zu. Zu Weihnachten scharte er seine Enkelkinder - insgesamt hatte ich zehn Cousins und eine Cousine - in der guten Stube um sich und ließ "die Tasche" holen. "Hol mal die Tasche", sagte er zu meiner Großmutter, die von einem sächsischen Rittergut stammte. Bei Oma und Opa in Brunsbüttel gab es zu Weihnachten keine Geschenke, sondern Geld. Mehrere Zehntausend Mark ließ mein Großvater sich das Fest der Liebe Jahr für Jahr kosten. 2.000 Mark bekam jeder Elternteil der anwesenden Enkelinnen und Enkel, und die Enkelkinder selbst erhielten einmal sogar 3.000 Mark.
Was mich mindestens so sehr beeindruckte wie die ungeheure Summe an sich, war das markante Gesicht mit dem Rauschebart auf dem großen braunen Geldschein. Trotzdem machte ich mir lange nicht die Mühe herauszufinden, wer der ernst...
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