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Die einstmals goldene Zeit merkte man der ehemaligen Amüsiermeile auf der Friedrichstraße nicht mehr an, und Helena verspürte jedes Mal beim Besuch ihres Schönheitssalons diesen Stich des Bedauerns. Als sie in den Zwanzigern hier angekommen war, hatte das Leben pulsiert mit Autos, Bussen, Bahnen, Fußgängern, Radfahrern und noch vereinzelten Droschken. Die Kreuzung an der Leipziger Straße war ein so verkehrsreicher Knotenpunkt gewesen, dass es für die aus der Provinz stammende Helena anfangs schon eine Herausforderung gewesen war, lebend von einer Straßenseite auf die andere zu gelangen.
Nach dem Krieg war die Straße eine von Ruinen gesäumte Schuttwüste geworden, und auch wenn die Trümmer in weiten Teilen fortgeräumt waren, so erinnerte doch nur wenig an früher. Helena hatte mehrfach überlegt, den Schönheitssalon einfach aufzugeben, aber das brachte sie nicht über sich. Vielleicht normalisierte sich hier ja alles irgendwann wieder, das konnte doch nicht ewig so bleiben. Ihr Schönheitssalon in der Friedrichstraße befand sich im Amerikanischen Sektor, der in Berlin-Mitte gehörte nun zur DDR, ihr Werk wiederum zum Französischen Sektor, Dominiks sowie ihr Wohnsitz lagen im Britischen Sektor. Das war doch auf Dauer kein Zustand. Den Salon in Berlin-Mitte hatte sie aufgeben müssen, und sie sah sich bereits nach Alternativen um.
Als Helena in den Salon trat, kam ihr Ida - früher Wagner, jetzt Zeller - entgegen. »Kaffee?«
»Unbedingt.« Helena hängte ihren Mantel an die Garderobe und betrat den Salon. Es war noch früh, und sie würden erst in einer halben Stunde öffnen. Ida hatte schon in den Dreißigern die Leitung des Salons übernommen, als Helena damit beschäftigt gewesen war, einen weiteren in Berlin-Mitte zu eröffnen.
»Wie geht es den Mädchen?«
Helena setzte sich in einen der bequemen Besucherstühle, wo die Frauen sich bei einer Tasse Kaffee oder Tee und etwas Gebäck entspannen konnten. »Marion fängt bei mir im Werk an, der Termin steht jetzt.« Das war Schock und freudige Überraschung zugleich gewesen, und Helena wusste selbst nicht, ob ihre Bestürzung oder ihre Freude überwog. Natürlich hatte sie gehofft, dass Marion als Ärztin praktizierte, immerhin hatte sie studiert und damit ein klares Ziel vor Augen gehabt. Andererseits freute es sie, dass ihre Tochter Interesse an ihrem Unternehmen zeigte - und nicht an Dominiks, wie eine kleine, nicht zu unterdrückende Stimme des Triumphs in ihr betonte. »Und Fanny schließt das Schuljahr mit sehr guten Noten ab.«
»Mathematik macht ihr wieder Spaß?«
»Nachdem Ferdinands Ehefrau es ihr erklärt hat, was ihr unfähiger Lehrer offenbar nicht hinbekommt.« Ferdinand war der Patenonkel beider Töchter und seine Frau eine begabte Mathematikerin.
Die Schwangerschaft mit Fanny hatte Helena seinerzeit einen gehörigen Schrecken eingejagt. All die Jahre hatte sie es erfolgreich vermieden zu empfangen, und dann, als die Welt am Abgrund stand, kündigte sich neues Leben an. Schlimm genug mitanzusehen, wie Marion bereits in der Schule darauf vorbereitet wurde, in den BDM einzutreten, da wollte sie diesem System nicht noch ein Kind schenken. Es war Rudolf Liliengrund gewesen, dem Fanny es zu verdanken hatte, dass Helena keinen Abbruch hatte vornehmen lassen.
»Gerade in diesen Zeiten sollten die Anständigen sich vermehren.«
Ihr lieber Rudolf, der seine gesamte Familie verloren und selbst nur knapp und unter Entbehrungen die Flucht geschafft hatte, weil er zu lange gezögert, geglaubt hatte, es würde alles gut werden. Und so hatte Helena Fanny ausgetragen, hatte schon in der Schwangerschaft eine so innige Beziehung zu dem Kind gehabt, wie sie es sich nicht hatte vorstellen können. Es war ganz anders als mit Marion, zu der sie erst eine enge Bindung hatte aufbauen können, als diese bereits ein Kleinkind gewesen war. Während Marion von Geburt an ein Papakind war, so war Fanny von Geburt an ganz und gar ihre Tochter. Helena hatte sie sogar mit zur Arbeit genommen, weil sie sich nicht von ihr trennen mochte, hatte sie im Büro gestillt und in der Wiege neben sich schlafen lassen. Undenkbar, dieses Baby jemand anderem anzuvertrauen. Dabei liebte sie Marion nicht weniger, und sie verstand auch im Nachhinein nicht, warum sie bei beiden Kindern schon in der Schwangerschaft so unterschiedlich empfunden hatte.
»Du solltest endlich aufhören, das zu hinterfragen«, hatte ihre beste Freundin Irene Danelius gesagt. »Es ist jetzt, wie es ist. Freu dich einfach. Gerade jetzt haben wir alle wahrhaftig Probleme genug, da muss man nicht auch noch welche hinzureden.«
Als im November 1938 die Synagogen brannten, hatte Irene das Land verlassen. »Ich komme zurück, wenn der Irrsinn vorbei ist«, hatte sie gesagt und war nach Amerika gegangen. Dort war sie zur Filmgröße geworden, hatte einen bekannten Produzenten geheiratet und lebte nach wie vor in den Vereinigten Staaten. Helena vermisste sie immer noch sehr und war auch schon einmal mit ihrer Familie in New York gewesen, um sie zu besuchen.
»Fahrt ihr diesen Sommer weg?«, fragte Ida und setzte sich nun ebenfalls.
»Auf jeden Fall für zwei Wochen zu meiner Mutter. Und von da aus vielleicht weiter in Richtung Schweiz.« Vor allem auf die Zeit bei ihrer Mutter freute sich Helena, das waren jedes Mal schöne Tage mit all den früheren Freunden und Bekannten sowie mit der Baronin, für die sie und ihre Mutter früher gearbeitet hatten und bei der ihre Mutter nun den Altersruhesitz hatte. Für Helenas Familie standen immer Gästezimmer bereit. Ein wenig behandelte man sie dort wie eine Prominente, die Dienstbotentochter, die es in der Weltmetropole zu etwas gebracht hatte, mit einem reichen Mann verheiratet war und mit Filmstars verkehrte.
Kurz darauf trafen die übrigen Mitarbeiterinnen ein, und dann kamen auch schon die ersten Kundinnen. Helena unterhielt sich mit einigen der Damen, beriet hier und da persönlich und machte sich dann auf den Weg ins Werk. Unmittelbar nach dem Krieg war es schwierig gewesen, die Rohstoffe für die Produktion von Kosmetik aufzutreiben, vielfach waren sie nur zu Schwarzmarktpreisen zu bekommen. Viele Rohstoffe wurden in der Pharmaindustrie dringender benötigt, und natürlich hatte die medizinische Versorgung Vorrang vor der kosmetischen. Gerade nach dem Krieg hatten sie alle andere Sorgen gehabt, weshalb Helenas Werk vorübergehend die Produktion umstellte und der chemischen Industrie zuarbeitete, während die Schönheitssalons Obdachlosen offenstanden. Erst vier Jahre nach Kriegsende, als der Hungerwinter vorbei war und die Menschen durch die Währungsreform wieder über Geld verfügten, hatte Helena Kosmetikherstellung und Schönheitsbehandlungen wieder aufgenommen.
Im Werk ging Helena direkt in ihr Büro und sah sich Werbeentwürfe an. Sie liebte ihre Arbeit, und sie machte ihr nach wie vor Spaß, allerdings fehlte ihr die Herausforderung. Die Kosmetik entwickelte sich stetig weiter, und mittlerweile war Forschung und Entwicklung eine eigene Abteilung in ihrem Unternehmen. Natürlich freute sie sich darüber, aber sie vermisste die Zeiten, in denen sie selbst in ihrer Fertigung gesessen und experimentiert hatte. Vielleicht war es wirklich gut, dass Marion hier demnächst etwas frischen Wind hereinbringen würde. Wie wohl Charlotte darauf reagierte, dass Helena ihr nun Konkurrenz machen würde?
Emma hörte den Streit bis ins Wohnzimmer. Ihre Mutter hielt Leopold vor, er nähme die Arbeit nicht ausreichend ernst und bringe sich zu wenig ein. Wie er bei dem Geschäftstermin am Vortag nur dagesessen und auf einmal zu zittern begonnen habe. Wenn es nicht anders ging, dann solle er eben seine Medikamente wieder nehmen. Und - verdammt noch mal! - endlich mehr Nervenstärke zeigen.
Auch an diesem Morgen hatte es schon wieder damit begonnen, dass Leopold beim Frühstück sehr still gewesen war, was für Emma immer ein Zeichen für schlimme Träume war. Auf Ausführungen ihrer Mutter zu dem heutigen Arbeitstag hatte er nur genickt, was diese wiederum zu dem Schluss kommen ließ, dass er sich nur unzureichend interessierte. Überhaupt habe er keine innovativen Ideen, arbeite den Tag ab, ohne echtes Interesse zu zeigen an dem, was er tat. Irgendwann war ein handfester Streit ausgebrochen, der auch dann noch anhielt, als Emma das Esszimmer verlassen hatte und nun in der Küche den Abwasch machte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, lief ins Esszimmer zurück.
»Was willst du eigentlich?«, fuhr sie ihre Mutter an. »Er tut doch alles, was er soll.«
»Emma, lass nur«, sagte Leopold. »Ich mache .«
»Nein, ich lasse es nicht. Können wir nicht mal einen Morgen friedlich verbringen, wie andere Familien auch? Muss hier immer den ganzen Tag über Streit herrschen, und abends gehen wir dann versöhnt schlafen? Wozu? Um am nächsten Tag wieder loszulegen? Das ist doch nicht mehr auszuhalten.«
»Wie redest du eigentlich mit mir?« Die Stimme ihrer Mutter war ganz kalt geworden, bar jeder Emotion.
»Ich .« Die aufbrausende Wut fiel von Emma ab, und sie wusste nicht mehr, was sie nun sagen sollte. »Ich . ich habe heute keine Uni und wollte ohnehin fragen, ob ich mit ins Werk kann.« Der Einfall war ihr gerade erst gekommen. »Ich könnte Leo zuarbeiten und so schon einmal Einblicke bekommen.«
Die frostglitzernde Wut im Blick ihrer Mutter schmolz zu Überraschung. »Ach was?«
»Ich habe mir lange überlegt, was ich mit meinem Chemiestudium mache.«
»Heißt das, es steht nicht zu erwarten, dass du dich nun nach einer passenden Partie umsiehst?« Für jemanden, der selbst glücklich verheiratet gewesen war,...
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