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Es hatte schon als Kind funktioniert. Ich will! Ich will! Ich will! Dieses Mal hatte ihre Mutter zwar länger widerstanden, hatte es mit Argumenten versucht anstelle eines strikten »Nein!«, was ihre Taktik war, seit Helena Rosenberg dem Kindesalter entwachsen war. Im Ergebnis war es jedoch dasselbe. Helena bekam ihren Willen. Und weil sie auch in diesem Fall ihren Willen bekommen hatte, stand sie nun hier in diesem Bahnhof, in dem alles überdimensioniert war - die Ausmaße, der Lärm, die Masse an Menschen.
Helena umfasste den Griff ihres kleinen Koffers und ging langsam über den Bahnsteig. Der Zug, der sie hergebracht hatte, fuhr mit einem Ruck an. Eisen schob sich kreischend über Eisen, die Luft schmeckte metallen wie Blut auf der Zunge. Schon jetzt summte es in ihren Ohren, waren die Stimmen um sie herum wie ein raunendes Meer, aus dem dann und wann ein Ruf oder ein Lachen aufschwappte.
Da sie keine Ahnung hatte, wo der Ausgang war, folgte sie einfach den Reisenden, die zielsicher auf die Treppe zustrebten. Noch mehr Menschen, noch mehr Größe und Weitläufigkeit. Eine Pfeife tönte in ihrer unmittelbaren Nähe so schrill auf, dass sie zusammenfuhr und in einen älteren Herrn zu ihrer Linken stolperte.
»Na, na, Mädel«, brummte der und eilte weiter.
In der großen Bahnhofshalle blieb Helena stehen und hob den Kopf, um die Kuppel anzusehen, die sich so hoch über ihr wölbte, dass einem allein vom Hinsehen schwindlig werden konnte. Jemand stieß sie an und eilte weiter. Helena hielt ihren Koffer fest umklammert, ihre Geldbörse war dem Rat ihrer Mutter folgend in einer Tasche im Innenfutter ihres Mantels verstaut. Trotzdem tastete sie danach, presste die Hand einen Moment fest dagegen. Wieder rempelte jemand sie an.
»Mädchen, steh da nicht rum und halt Maulaffen feil!«, schimpfte eine Frau.
Helena trat zur Seite und stieß einen Mann an, der einen schweren Koffer schleppte. »Kannste nich uffpasse?«, fuhr er sie an, und sie murmelte hastig eine Entschuldigung.
Kurz darauf schwappte sie mit der Menschenmenge aus dem Bahnhof hinaus, suchte sich einen freien Platz und stellte den Koffer ab. Tief durchatmend sah sie sich um. Wolkenstrahlen tasteten sich behutsam durch verrußt wirkende Wolken, tupften kleine Sprengsel auf den Platz, über die Menschen achtlos hinwegliefen. Sie kramte in ihrer Handtasche, um den Stadtplan hervorzuholen. Den Anhalter Bahnhof, an dem sie ankam, hatte sie markiert und von dort aus den Weg zu ihrem Ziel mit einem Bleistift eingezeichnet. Keine zwei Kilometer, das konnte sie problemlos zu Fuß gehen, so ihr Gedanke, als sie im Zug gesessen und sich sehr gut vorbereitet gewähnt hatte. Jetzt jedoch erschien ihr das, was vor einigen Stunden noch so simpel gewesen war, nahezu unausführbar.
Dies hier war kein überschaubares Konstrukt aus Straßen, es war ein Labyrinth, das sich zwischen viel zu hohen Häusern erstreckte, bevölkert von zu vielen Menschen, zu vielen Automobilen. Bahnen fuhren über Schienen, die ohne jede Ordnung quer über die Straße zu verlaufen schienen. Unmöglich, hier der Karte zu folgen. Helena sah sich noch einmal um, dann nahm sie den Koffer und überquerte den Askanischen Platz, ging auf eine Reihe von Taxis zu. Ein Mann in elegantem Anzug stieg in das erste in der Reihe, und Helena hob das Kinn, bemühte sich, forsch zu wirken, als sei es für sie das Normalste der Welt, weltgewandt in ein Taxi zu steigen. Sie ging auf eines der Taxis zu und öffnete die Tür zum Fond. Der Fahrer, der rauchend an der Tür gelehnt hatte, sah sie verwundert an, während der Mann, dem das nun erste Taxi in der Reihe gehörte, rief: »Bin ick dem Frollein nich jut jenuch?«
Helena bemerkte ihren Fehler, schlug die Tür rasch wieder zu und wandte sich ab.
»Hey, nich so fest zuknallen«, schimpfte der Fahrer. »Dit is keen Traktor.«
»Verzeihung«, antwortete Helena und eilte auf das erste Taxi zu. Der Fahrer verstaute ihren Koffer und ihren Korb im Heck, während Helena einstieg, dann setzte er sich ans Steuer.
»Wo soll's denn hinjehen?«
Sie nannte ihm die Adresse, die sie sich vor ihrer Abfahrt gründlich eingeprägt hatte. Der Fahrer ließ den Wagen an und fädelte sich in den Verkehr ein. Einmal zuckte Helena zusammen, als ein Auto ihnen den Weg abschnitt, der Taxifahrer abrupt abbremste und dann wieder beschleunigte. Langsam stieß sie den angehaltenen Atem aus und lehnte sich zurück, versuchte, die Fahrt zu genießen. Sie war bisher erst einmal mit einem Auto gefahren, als der Verwalter des Gutes, in dem ihre Mutter arbeitete, sie nach Hause gebracht hatte. Das war überwältigend gewesen, wie der Wagen über die leere Chaussee gebraust war. Hier war der Verkehr träge, aber beeindruckend war es dennoch.
Knappe fünfzehn Minuten später hielt das Taxi vor einem weißen Haus, das früher einmal gewiss etwas hergemacht hatte. Apotheke Rosenberg stand auf einem Schild über der Eingangstür. Helena zückte ihre Geldbörse und bezahlte den fälligen Betrag. Sie hatte keinerlei Vorstellung davon, wie viel eine Taxifahrt kostete, und hoffte, der Fahrer knüpfte ihr nicht zu viel ab. Dann stieg sie aus, und auch der Fahrer verließ den Wagen, um ihren Koffer auszuladen. Danach tippte er sich an die Mütze, setzte sich wieder hinter das Steuer und ließ den Motor an.
Helena sah an der wenig einladenden Fassade hoch, die dringend einen neuen Anstrich benötigt hätte. An einigen Stellen war sogar der Putz abgesprungen. Die Fenster immerhin schienen geputzt zu sein, wenngleich Gardinen einen Blick in das Innere verhinderten. Das Schild an der Tür wies die Apotheke als geöffnet aus, und so nahm Helena ihren Koffer in die Hand, hängte den Korb über den Arm und schob die Tür auf. Ein leises Glöckchen ertönte.
Das Innere war in dunklem Holz eingerichtet. Porzellantiegel standen auf Regalen, Schränke mit Messinggriffen und unzähligen Schubladen bedeckten die rückwärtige Wand. Eine junge Frau trat aus dem durch einen Vorhang abgetrennten hinteren Bereich des Hauses. Ihr Blick zuckte von Helena zu dem Koffer, dann wieder zurück in Helenas Gesicht. »Sie wünschen bitte?«
Helena holte tief Luft, lächelte. »Ich bin Helena Rosenberg. Ich möchte zu Fräulein Charlotte Rosenberg.«
Die Augen der Frau weiteten sich in flüchtiger Überraschung. »Ich bin Charlotte Rosenberg.«
Helena ging auf sie zu, streckte ihr die Hand entgegen. »Wie schön, dass wir uns kennenlernen.«
Charlotte Rosenberg ignorierte die ausgestreckte Hand. »Warum bist du hier? Hier ist nichts zu holen.«
Zögerlich senkte Helena die Hand wieder. »Ich wurde von dem Testamentsverwalter unseres Vaters angeschrieben.«
»Ich weiß nicht, was meinen Vater geritten hat, dieses Testament aufzusetzen, meine Versuche, es anzufechten, sind jedoch leider gescheitert. Wie gesagt, es gibt hier nichts zu holen. Die Apotheke ist unrentabel, und ich komme kaum allein über die Runden. Undenkbar, das auch noch zu teilen. Wenn du also klug bist, gehst du dorthin, woher du gekommen bist.«
Helena wusste nicht so recht, was sie erwartet hatte, so einen Empfang jedoch nicht. »Mir steht die Hälfte von all dem hier zu«, sagte sie und reckte das Kinn vor. Ihr Widerspruchsgeist war geweckt. Bisher hatte ihr nie jemand das verwehrt, was sie wollte.
»Mein Vater hat in all den Jahren kein Wort über euch verloren. Ich wusste zwar, dass es dich gibt, aber mehr nicht. Er kann nicht bei klarem Verstand gewesen sein, als er dich in seinem Testament bedacht hat.«
»Womöglich das schlechte Gewissen?«
Daraufhin lachte Charlotte nur. »Also, was genau willst du hier tun? In der Apotheke stehen und Medikamente verkaufen?«
Darauf konnte Helena keine Antwort geben, denn sie war tatsächlich aufgebrochen, ohne so recht zu wissen, was sie erwartete und was sie mit dem Ererbten zu tun gedachte. In ihrer Phantasie war es so gewesen, dass sie die Hälfte eines Hauses geerbt hatte und aus dem finanziellen Erbe ihr Leben in der Großstadt bestritt.
»Wenn er mit dem Geld so umgegangen ist wie zu meiner Zeit«, hatte ihre Mutter gesagt, »dürfte das ein böses Erwachen geben.«
Darauf hatte Helena nicht hören wollen, und hier war sie nun. »Wo kann ich meinen Koffer hinbringen?«
»Die Straße runter ist ein Hotel.«
»Ist hier das Treppenhaus?« Helena ging auf eine seitliche Tür zu, und Charlotte beeilte sich, sie zu überholen, und versperrte ihr den Weg. »Du kannst hier nicht einfach herumlaufen und Türen öffnen.«
»Warum nicht? Ich bin hier immerhin geboren.« Wenngleich sie an diesen Umstand keine Erinnerung mehr hatte.
»Das ist mir gleich.«
Helena wollte an ihr vorbei zur Tür, aber Charlotte fasste nun sogar ihre Oberarme an, um sie zurückzuhalten.
»Untersteh dich!«, warnte Helena.
Dann jedoch gab sie das unwürdige Gerangel auf und trat einen Schritt zur Seite. Zögernd zog Charlotte die Hände zurück, blieb jedoch vor der Tür stehen.
»Und was nun? Ich werde in kein Hotel gehen, und wenn du willst, dass ich verschwinde, musst du mich hinauszerren, ich denke jedoch nicht, dass du den Menschen dort draußen dieses Schauspiel bieten möchtest. Ich bin nun einmal hier, finde dich damit ab.«
Charlotte schien widersprechen zu wollen, dann jedoch fiel mit einem Mal aller Kampfgeist von ihr ab. Ihre Schultern sackten leicht nach unten, in die Augen trat ein Ausdruck von resigniertem Überdruss.
»Die Treppe hoch und dann im Flur die letzte Tür rechts ist das Gästezimmer, da kannst du schlafen. Vorerst«, sagte Charlotte schließlich. »Im Schrank im Flur...
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