Schweitzer Fachinformationen
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Juli 1945
»Oh, verdammt noch mal!« Elisabeth Kant hob ihren Mantel an, dessen Saum über und über mit Dreck bespritzt war. Der Junge, der seinen Karren mit Wucht durch den Matsch gerollt hatte, sah sie ungerührt an.
»Dann geh halt zur Seite, Prinzessin.«
Elisabeth lag eine unflätige Antwort auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter, jeder Zoll eine Dame. Immer noch hallten die Rufe ihrer Eltern ihr in den Ohren. Wo willst du hin? Wir sind noch nicht fertig mit dir. Aber ich mit euch, antwortete sie im Stillen und wünschte, sie hätte ihnen die Worte entgegengeschleudert, anstatt einfach nur zu gehen. Ob sie immer noch dachten, sie kehre reumütig heim? Metze. Soldatenhure.
Die Kölner kehrten zurück in ihre Stadt, und Elisabeth trieb zwischen ihnen wie ein Fremdkörper und fragte sich, ob jemand merkte, dass sie nicht hierher gehörte. Nichts war mehr ganz, die Stadt sah aus wie ein Skelett, und aus den brackigen Resten der Häuser quollen Rauchwolken gleich Geistern verlorener Zuversicht. Aber obschon die einstigen Prachtbauten in Trümmern lagen und die Straßenzüge verschüttet und durch Schuttberge an anderer Stelle neu geformt worden waren, gelang es ihr recht schnell, sich zu orientieren. Niemand nahm Notiz von ihr, niemand sah ihr an, was sie war. Zumindest bis zu dem Moment, als sie die niedrige Kaschemme betrat. Da hob der eine oder andere im Vorbeigehen den Blick. Ah, eine von denen.
»In The Mood« von Glenn Miller drang in kratzigen Tönen aus dem Radio, das vermutlich schon bessere Tage gesehen hatte. Elisabeth zog die Tür hinter sich zu und ließ die Blicke suchend von Tisch zu Tisch gleiten, zur Bar. Hier wollte er sie treffen. Hatte sie sich in der Uhrzeit vertan?
Mit vorgeschobener Selbstsicherheit ging sie durch den gut besuchten Raum zur Bar, setzte sich auf einen der hohen Hocker und lehnte sich leicht gegen den Tresen. Das Licht des frühen Nachmittags drang nur spärlich in den Raum, aber die Blicke der Männer entgingen ihr dennoch nicht. Ob sie so hoffnungslos provinziell wirkte, wie sie sich fühlte? Nigel hatte behauptet, sie sei das Schönste, was ihm seit langem begegnet war, aber er hätte vermutlich alles gesagt, um mit ihr schlafen zu können. Elisabeth hatte sich nicht lange geziert, hätte alles getan, um ihre Eltern zu bestrafen, allen voran ihren Vater.
Sie konnte nicht behaupten, dass es ihr Spaß machte. Nigels Versicherung, es tue nur beim ersten Mal weh, hatte sich nicht bewahrheitet, aber um ihn nicht zu verstimmen, tat sie so, als gefalle es ihr. Dann war Nigel am einundzwanzigsten Juni nach Köln versetzt worden und hatte sie gefragt, ob sie mitkäme. Warum auch das bequeme Arrangement und die willige Geliebte aufgeben? Wieder hatte Elisabeth nicht lange gezögert.
Das Lokal war fast ausschließlich von englischen Soldaten und Offizieren bevölkert, an deren Armen junge deutsche Frauen hingen. Elisabeth stellte ihre Tasche ab, bemerkte die Blicke eines Soldaten, erwiderte sie kurz und wandte sich ab. Hoffentlich fühlte er sich dadurch nicht ermutigt. Offenbar doch, denn er schob sich näher an sie heran.
Die Tür wurde aufgerissen, und ein Mann drang in die Szenerie verzweifelter Vergnügungssucht. Er blieb stehen, sah sich mit wilden Blicken um, das Gesicht rot, der Mund ein zornbebender Strich. »Doris!« Die geborstene und für einen so kräftigen Mann relativ hohe Stimme brach die Stimmung wie ein Missklang. Man verharrte im Tanz und im trägen Wiegen der Körper, sah ihn an. Ein Mädchen von kaum achtzehn kam auf ihn zu, zerbiss sich die Lippen und hob trotzig das Kinn. Ihr blieb keine Zeit, etwas zu sagen, denn im nächsten Augenblick bekam sie eine schallende Ohrfeige, und der Mann umfasste ihr Handgelenk, um sie mit sich zu zerren.
»Moment!«, sagte der sichtlich angetrunkene Soldat, in dessen Begleitung das Mädchen gewesen war, und stellte sich dem Mann in den Weg. Der stieß ihn beiseite und wollte gehen, aber offenbar sah der Jüngere darin eine Aufforderung zur Schlägerei. Er holte zu einem etwas wackligen Schwinger aus, als Nigels Stimme durch den Raum drang, kalt und befehlsgewohnt.
»McArthur!«
Der Soldat stand stramm, soweit es ihm in seinem Zustand möglich war.
Nigel Findlay hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sah den Mann an, der das Handgelenk des Mädchens wieder umfasst hatte. Dann ruckte er mit dem Kinn knapp in Richtung Tür.
»Wie kannst du mich nur so blamieren?«, weinte das Mädchen. »Wir haben nur .« Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss.
Nigel sah zur Bar und bemerkte Elisabeth. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Elisabeth erwiderte das Lächeln ein wenig zurückhaltend. Er sollte nur nicht denken, man könne sie so einfach warten lassen, ohne sie zu verstimmen. Er kam zu ihr, umfasste ihre Mitte und küsste sie auf den Mund, ohne sich um die Blicke der Umstehenden zu scheren.
»Ich brauche eine Bleibe«, sagte sie, als er ihre Lippen schließlich freigab.
Er lächelte und zog einen Zettel hervor, hielt ihn hoch und raubte ihr noch einen Kuss, ehe er ihn ihr gab. »Darauf bin ich vorhin auf dem Weg hierher gestoßen.« Sie mochte es, wenn er Deutsch sprach mit seinem britischen Akzent.
Elisabeth nahm das zerknitterte Blatt entgegen und warf einen Blick darauf. »Ich befürchte, wir werden uns dort nicht treffen können. Das klingt grundanständig.«
»Oh, dafür haben wir bisher immer einen Platz gefunden.«
Mit einem kleinen Lächeln las Elisabeth den Aushang erneut. Zimmer zu vermieten bei der Witwe Antonia von Brelow. Dann sah sie Nigel an. »Weißt du, wo die Lindenallee ist?«
Antonia beugte sich über das Beet mit den Karotten und zupfte Unkraut. Die Amerikaner hatten Hilfe zur Selbsthilfe organisiert und Saatgut ausgegeben. Den Garten hatte vor dem Krieg ein Gärtner gehegt und gepflegt, und sie hatten mehr Partys hier gegeben, als Antonia zählen konnte. Ihr Ehemann Friedrich hatte das mondäne Leben geliebt, mit Geld jedoch nicht umgehen können, und so war eine sinnlose Ausgabe zur nächsten gekommen, so dass Antonia nur eine kleine Rente geblieben war. Und da nichts funktionierte, war an eine geregelte Auszahlung derzeit nicht zu denken. Abgesehen davon würde sie nicht reichen, das ahnte sie jetzt schon.
Antonia setzte sich auf die Fersen und strich sich das Haar mit dem Handrücken aus der Stirn. Neben ihr im Gras lag Marie auf einer Decke und wirkte zufrieden, wie sie mit den Händchen nach einem langen Grashalm griff, der außerhalb ihrer Reichweite war. Seit einigen Tagen pürierte Antonia ihr das Essen, und die Kleine aß widerspruchslos, was sie ihr reinlöffelte. Ihre Mieterin, Katharina, war Krankenschwester, was ein Glücksfall war, denn sonst gäbe es niemanden, den Antonia hätte fragen können, ob man Kindern in dem Alter überhaupt dergleichen geben durfte. Antonias Mutter war schon zu Beginn des Krieges an einer Lungenentzündung gestorben, und die Nachbarinnen mieden sie, denn jeder, der bis neun zählen konnte, wusste, dass dies nicht das Kind ihres Ehemanns war. Katharina hatte sie ermutigt, es mit pürierter Nahrung zu versuchen, denn sie hatte während des Kriegs mit ausreichend Frauen und Kindern zu tun gehabt und ihr gesagt, sie habe noch von keinem Kind gehört, das mit einem halben Jahr an Gemüsebrei gestorben sei.
Der Entschluss, Zimmer zu vermieten, war aus der Not heraus geboren, aber nun fand Antonia, es war die beste Entscheidung, die sie seit langem getroffen hatte. Sie und Katharina sahen sich nur im Vorbeigehen, mal in der Küche, mal im Korridor, wenn eine von ihnen kam und die andere ging, und es war ganz sicher nicht so, dass sie dies eine Freundschaft nennen konnte. Aber dennoch tat ihr die Anwesenheit der anderen gut, das Gefühl, nicht mehr allein zu sein.
Während sie das Beet mit den Steckrüben harkte, kribbelte es in ihrem Rücken, als ob jemand sie beobachtete. Und für einen Moment waren sie wieder da, die Schreie, der Schnee. Sieh dich nicht um. Ihre Bewegung stockte, und der Atem kam in einem Stoß aus ihren geöffneten Lippen, ehe sie die Luft hastig wieder einsog, den Blick über die Schulter wagte. Und vor Erleichterung beinahe aufgelacht hätte, als sie die junge Frau sah, die am halb geöffneten Gartentor stand, das in die hohe Mauer eingelassen war. Im Lächeln der Frau bemerkte Antonia etwas Unsicheres, Befangenes unter einer dünnen Tünche von Selbstsicherheit.
»Verzeihung, aber ich habe mehrmals geläutet. Und als ich gesehen habe, dass das Tor offen steht, dachte ich, ich schaue mal rein, ob wirklich niemand da ist.«
Antonia legte die Harke beiseite und erhob sich, strich mit einer raschen Bewegung Erde von ihrem Kleid. »Ich höre die Glocke hier draußen nicht. Was kann ich für Sie tun?«
Die junge Frau hielt ein zerknittertes, schmutzig weißes Blatt in der Hand und kam einige Schritte in den Garten hinein. »Sind Sie Antonia von Brelow? Ich komme wegen der Anzeige. Sie vermieten Zimmer?«
Jetzt erwiderte Antonia das Lächeln. »In der Tat.«
Nun kam die Frau zu ihr und streckte ihr die Hand entgegen. »Elisabeth Kant. Ich bin erst seit einigen Stunden in Köln und suche eine Bleibe.«
»Ich vermiete die Zimmer aber nur längerfristig.«
»Ja, das ist mir recht.«
»Gut. Dann lassen Sie uns im Haus weitersprechen.« Mit einer Handbewegung deutete Antonia auf die geöffnete Verandatür und ging voraus. Sie hob Marie hoch und trug sie mit sich in den Salon, in dem sie und Friedrich früher die Sommerabende hatten ausklingen lassen.
Nachdem Antonia sie aufgefordert hatte,...
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