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Victoria Dormbachs tiefem gesellschaftlichem Fall ging ein »Ja« zur falschen Zeit voraus. Dies und den buchstäblichen Schritt über eine Schwelle hatte es gebraucht, damit aus dem Debüt einer begehrten jungen Dame der Skandal der Saison wurde. Ihre Mutter geriet darüber so außer sich, dass man einige Tage lang mehr um ihre Gesundheit als um Victorias Ruf bangte. »Sie muss fort!«, rief Victorias Mutter immerzu, als sei ihre Tochter mit einer ansteckenden Krankheit behaftet. Ihr Vater reagierte besonnener. Er schrieb verschiedene Verwandte an und entschied nach dem Prinzip der Schnelligkeit. Der Erste, der antwortete, würde Victoria unter seine Fittiche nehmen. Wie bei jenem Pferd, das er damals unbedingt hatte loswerden wollen, das hatte auch der Erste, der Interesse signalisierte, gekriegt. Aber für das Pferd hatte Wilhelm Dormbach wenigstens noch Geld erhalten.
Und nun saß Victoria im Zug, der sie aus dem mondänen München nach Bonn bringen würde. Nach Victorias Dafürhalten tiefste Provinz, und somit verbrachte sie die ganze Zugfahrt damit, Fluchtgedanken zu schmieden, nur um diese kurz vor Einfahrt in den Bahnhof zu verwerfen. Wo sollte sie denn hin? Nach Hause? Ihr Vater würde sie umgehend zurückschicken.
Da man ihr Gepäck vorausgeschickt hatte, reiste sie nur mit einer kleinen Tasche und brauchte sich nicht um einen Kofferträger zu bemühen, als sie auf den Bahnsteig trat. Der den Lokomotiven so eigene Geruch von Qualm und Eisen lag in der Luft, etwas, das Victoria an Bahnhöfen liebte und das stets ihre Reiselust entfachte. Jetzt jedoch verursachte er ihr geradezu Übelkeit, indes ihr Herz das Wort Exil in stetem Takt gegen die Rippen hämmerte. Ihr Blickfeld zersplitterte in Tränen, die ihr der Qualm in die Augen trieb. Sie zog ein Taschentuch hervor und betupfte sich die Lider, dann sah sie sich um.
Menschen hasteten vorbei, fielen wartenden Freunden und Angehörigen um den Hals. Ein kleiner Junge schrie »Papa!« und rannte Victoria fast um, als er auf einen Mann zustürmte, der ihn hochhob und im Kreis wirbelte, ehe er die Frau, die dem Jungen gefolgt war, küsste. Victoria wandte sich ab.
Fahrgäste stiegen in den Zug, Gepäckträger eilten vorbei, Koffer wurden gereicht, Fenster gesenkt, um noch letzte Abschiedsworte zu wechseln. Im nächsten Moment ertönte unmittelbar neben Victoria ein schriller Pfiff, und sie fuhr heftig zusammen.
Der Schaffner stand in der offenen Zugtür und zwinkerte Victoria, deren Erschrecken ihm nicht entgangen sein konnte, frech zu. Dann brüllte er: »Einsteigen! Türen schließen!«
Kräftige Dampfwolken speiend, setzte sich die Lok ächzend und ratternd in Bewegung, und kurz darauf rollte der Zug aus dem Bahnhof. Der im Übrigen klein war. Sehr klein. Und wieder fühlte Victoria sich, als habe man sie in die hinterste Provinz verbannt. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse, suchte mit Blicken den Bahnsteig ab, der sich langsam leerte. Da war niemand, der zu warten schien. Kein Schild mit ihrem Namen wurde in die Luft gehalten. Dieses Mal waren die Tränen nicht dem Qualm geschuldet.
Eine Frau betrat den Bahnsteig, hochgewachsen und mit resoluten Schritten, das dunkle, von Silber durchwirkte Haar hochgesteckt. Ein durchdringender Blick traf Victoria, dann kam die Frau näher.
»Victoria Dormbach?«
Das »Ja« kam Victoria erst nach dreimaligem Räuspern über die Lippen.
»Entschuldige bitte, ich wurde aufgehalten.« Die Frau taxierte Victoria aus leicht zusammengekniffenen Augen. »Heulst du etwa?«
Irritiert tupfte Victoria sich erneut die Augen ab. »Nein, ich vertrage nur den Qualm nicht.«
Die Frau wirkte skeptisch, nickte jedoch. »Dann ist ja gut. Ich kann Heulsusen nicht ausstehen.« Sie streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin deine Großtante Josefa.«
Immer noch verwirrt reichte Victoria ihr die Hand. Die Frau war jünger als erwartet, zwar durchaus alt - mindestens Mitte vierzig -, aber eben nicht so, wie sie sich die Schwester ihrer Großmutter vorgestellt hatte.
»Du erinnerst mich an deine Mutter«, sagte Josefa, während sie in die Bahnhalle gingen. Es klang nicht so, als sei es ein Kompliment, und so entgegnete Victoria nichts, sondern hielt nur den Griff ihrer Handtasche umklammert, während sie ihrer Großtante aus dem Bahnhof folgte. Hier würde sie nicht bleiben, das wusste sie jetzt schon. Sie würde zurück zu ihrem Vater fahren und ihn anbetteln, sie woanders hinzuschicken. Egal wer und wohin, schlimmer konnte es nicht sein.
Vor dem Bahnhof stand am Fuß der Treppe ein Automobil, schwarz und glänzend im Licht der Märzsonne. Zielstrebig hielt Josefa darauf zu und beugte sich zu der Kurbel hinunter, dann blickte sie zu Victoria hoch, die stehen geblieben war.
»Was ist los? Soll ich dich die Treppe hinuntertragen?«
Victoria beeilte sich, die letzten Stufen zu nehmen, und trat an die Beifahrerseite des Wagens. »Hast du keinen Chauffeur?«, wagte sie zu fragen.
»Doch, aber es macht zu großen Spaß, um es jemand anderem zu überlassen.«
Zögernd öffnete Victoria die Tür und ließ sich in dem bequemen ledernen Sitz nieder. Sie war noch nie mit einem Automobil gefahren, ihr Vater hielt nicht viel von dieser Art Neuerung.
»Wir bleiben bei der Kutsche«, sagte er stets. »Ein Pferd kann man wenigstens unter Kontrolle halten.« Er glaubte nicht, dass sich diese Karossen durchsetzen würden. »Allein der Gedanke, dass hier jeder mit halsbrecherischen zwanzig oder gar dreißig Kilometern pro Stunde über die Straßen fährt - unvorstellbar! Man käme kaum mehr sicher von einer Straßenseite auf die andere!«
Sicherheitshalber legte Victoria die Hand um den Griff auf der Türinnenseite. Ein wenig Angst hatte sie schon. Josefa betätigte die Kurbel, dann stieg sie ein und drückte einen Knopf. »Der Anlasser«, erklärte sie, als habe Victoria Interesse bekundet. Der Wagen machte hustende Geräusche, die zu einem gleichförmigen Brummen wurden, dann legte Josefa einen Schalter um, griff nach dem Lenkrad und fuhr los.
Die Geschwindigkeit war in der Tat berauschend, und Victoria stellte fest, dass es ihr gefiel, wie ihr der Fahrtwind ins Gesicht wehte. Natürlich musste sie ihren Hut festhalten, damit er ihr nicht vom Kopf geweht wurde, aber dennoch - es hatte was.
Nach gut zehn Minuten fuhren sie durch eine Allee, die schnurgerade zwischen hochherrschaftlichen Villen verlief, und der Wagen ruckelte über das Kopfsteinpflaster. Schließlich verlangsamte Josefa das Tempo und drückte auf etwas, das wie ein Ball mit einem Trichter aussah und einen hohen, lauten Ton von sich gab, unter dem Victoria zusammenzuckte. Zu ihrer Rechten befand sich eine hohe Backsteinmauer, die durchbrochen war von einem schwarzen schmiedeeisernen Portal, und dahinter verlief ein gepflasterter Weg zu einem Hof, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Wiederum dahinter erhob sich eine weiße, säulenbestandene Villa, deren schwarze Tür sich nun öffnete. Ein Mann in Dienstbotenuniform verließ das Haus und eilte zum Portal, dessen beide Flügel er rasch öffnete.
Josefa lenkte den Wagen in den Hof hinein, umkreiste den Brunnen und fuhr in eine Remise, die früher wohl einmal Kutschen beherbergt hatte und in der ein weiterer Wagen stand, cremeweiß mit schwarzen Kotflügeln.
»So, da wären wir«, sagte sie und schaltete den Motor aus. »Herzlich willkommen in der Villa Arndt.«
Victoria stellte fest, dass es gar nicht so einfach war, den Wagen zu verlassen, ohne zu viel Bein zu zeigen, was ein junger Mann, den sie erst jetzt am offenen Fenster lehnend bemerkte, interessiert beobachtete. Rasch stieg sie aus und zupfte ihr Kleid zurecht. Der junge Mann grinste.
»Der Flegel dort«, erklärte Josefa, »ist dein Vetter Rudolf.«
Der Genannte neigte höflich den Kopf. »Es ist mir eine Freude und ein großes Vergnügen.«
»Das glaube ich dir aufs Wort«, antwortete Josefa. »Wo ist dein Bruder?«
»Zur Stelle, Mutter.« Ein Mann, ein wenig älter als jener am Fenster, kam aus dem Haus und lief die Treppe hinunter in den Hof. Er streckte Victoria die Hand entgegen. »Constantin, zu deinen Diensten, Cousinchen. Gepäck hast du nicht?«
»Nein«, antwortete Victoria. »Nur meine Handtasche.«
»Ist die Kaffeetafel schon gedeckt?«
»Wie gewünscht, Mutter. Ich sage Alice Bescheid, dass sie den Kuchen jetzt auftragen kann.« Der Mann nickte ihnen freundlich zu, dann eilte er ihnen voran ins Haus.
»Das sind deine Söhne?« Konnte die Frau denn schon so alt sein?
Offenbar deutete sie Victorias Blick richtig, denn um ihren Mund zeigte sich ein Zug unverhohlener Erheiterung. »Ich habe früh angefangen, genau wie du. Nur habe ich da bereits jung geheiratet.«
Victoria spürte, wie ihr die Wärme vom Hals ins Gesicht kroch. Wieder zuckte es amüsiert um Josefas Mund, während sie die breite Treppe zum Haupteingang hochgingen. Da Victoria selbst einem hochherrschaftlichen Haus entstammte, war es schwer, sie diesbezüglich zu beeindrucken. Die Eingangshalle gefiel ihr jedoch durchaus, sie war zwar nicht groß, wirkte aber durch geschickt platzierte Spiegel so, als wäre sie es. Der Boden war in schwarz-weißem Mosaikmuster gefliest, und eine breite Treppe führte hoch zu einer Galerie.
»Ich nehme an, du möchtest dich frisch machen, ehe wir uns zum Kaffee setzen«, sagte Josefa. »Henriette wird dir dein Zimmer zeigen.«
Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine junge Frau in Dienstbotenuniform vor Victoria und knickste höflich. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen, gnädiges Fräulein«, sagte sie und ging voran zur Treppe. Auf der Galerie warf Victoria einen Blick in die...
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