Schweitzer Fachinformationen
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"Aber ihr seid sicher Kopten", stellte ein flüchtiger Bekannter abends in einem Lokal fest. Es war keine Frage, es war eine Feststellung, im besten Fall eine unausgesprochene Bitte, diese Zuschreibung anzunehmen und uns beiden eine Diskussion und etwaigen Dissens zu ersparen. Um ehrlich zu sein hatte ich damals keine Ahnung, wer oder was Kopten sind, und schon gar nicht, ob wir, also meine Familie, das nun waren oder nicht. "Ja, ja, sicher!" war meine Antwort in der Annahme, dass ich damit safe war, und ich erhielt die Bestätigung umgehend: Zufriedenheit und Erleichterung zeigten sich im Gesicht meines Gesprächspartners. Offensichtlich sah sich mein Gegenüber selbst als großer Experte für Ägypten und die verschiedenen religiösen Gruppen, sodass er sogleich meine Herkunft kontextualisieren und wichtige Entscheidungen für mich treffen konnte: Willst du hier dazugehören, dann seid ihr Kopten.
Wir sind aber Muslime. Und Musliminnen. Eine Zugehörigkeit, die damals schon - und heute, also nach 9/11, noch viel mehr - Projektionsfläche für Ängste und Abwertung bietet. Aber: Wir sind Muslim:innen aus Ägypten. Das heißt, im Grunde sind wir Pharaonen aus der Wiege der Welt. Damit ist mit etwas Glück (und je nach aktueller politischer Lage) das Wohlwollen eventuell wiederhergestellt. Pharaonen welcome!
Fragen nach Heimat, nach Wurzeln, nach Zugehörigkeit sind persönliche und intime Fragen. Danach, was mir wichtig ist und warum. Was mich ausmacht. Nach meiner Identität. Wie sehe ich mich und mit wem fühle ich mich verbunden? Es sind aber auch politische Fragen, und ich meine nicht Identitätspolitik. Es ist eine Illusion zu glauben, nur Menschen wie Mireille und ich, die auf eine bestimmte Art "markiert" werden, brächten ihre Biografien, ihre Erfahrungen oder ihre Überzeugungen in die Politik mit ein. Bei scheinbar "Unmarkierten" bleibt das nur unsichtbar und unbenannt. Wir sind diejenigen, die von dieser verdeckt gehaltenen Norm abweichen, auffallen und uns meist in Bezug dazu erklären müssen.
Meine Herkunft ist ein Märchen. Eines, in das ich gedrängt werde. Aber auch eines, das ich (mir) selbst erzähle. Jedes Mal aufs Neue und bald auch meinem Sohn. Es sind die Bewertungen meiner Geschichte(n) und auch der Motivation, mit der ich sie erzähle, die es zu einer ständigen Prüfung machen. Die Abwertungen und auch die Aufwertungen. Und natürlich die politische Verwertung.
Wo komme ich also her? Ich bin in Ungarn geboren und war bis kurz vor meinem 18. Geburtstag Ungarin. Also: Puszta und Gulasch und Csárdás, Magyaren und Husaren. Aber auch Thermenbesuche, Shoppingtrips und Mehlspeisen. Kurzum: Ungarn ist eigentlich immer noch k.u.k., also eh schon als Teil von Österreich diesem einverleibt. "Aber wie eine Ungarin siehst du nicht aus!" Doch. Schau genau. Aber ja, auch in Ungarn muss ich eine Geschichte erzählen.
"Wo kommst du her?" ist wohl die am meisten aufgeladene Frage für uns. Wir - das sind all jene, denen die Zugehörigkeit zum Wir der Mehrheitsgesellschaft abgesprochen wird. Weil wir nicht "österreichisch" genug seien. Wegen unserer Hautfarbe, dem Geburtsland, der Erstsprache oder der Religion. Die Frage trifft uns regelmäßig wie ein Eintrittstest. Daher kann sie auch vor jeder anderen Frage kommen, vor einer Bekanntschaft oder gar Freundschaft, vor irgendeinem Bezug zueinander oder einer Beziehung. Ein immer wiederkehrender Test, unangekündigt, mit einer Vielzahl selbsternannter Prüfer:innen. In der Schule, auf der Uni, beim Fortgehen, in der Arbeit, bei einem Interview, auf dem Amt, vor der Haustüre, bei der Haltestelle. Eine Prüfung in mein Leben hinein, die zu jedem Zeitpunkt möglich ist - und von mir auch erwartet wird. Nochmal mehr als österreichische Politikerin.
Wo komme ich wirklich her? Ich komme aus Simmering. Geiselbergstraße. Substandardwohnung zwischen Simmeringer Markt und Herderpark. Fremd habe ich mich erst am Land gefühlt, in einem kleinen Dorf in Niederösterreich, wo wir hingezogen sind, als ich ein Teenager war. Deutsch gelernt habe ich im Kindergarten und auch noch in der Volksschule gab es Wörter, die ich nicht kannte. Scheune. Skifahren. Turbine. Und Feiertage. Leopold, zum Beispiel. Da standen wir schon mal vor verschlossenen Schultoren, weil unsere Mutter dachte, dieser österreichische Feiertag wäre nur eine kindliche Erfindung zum Schuleschwänzen.
Für meine Eltern war es nicht einfach. Es waren die 1980er Jahre in Österreich, und was wir erlebt haben, kennen viele Familien mit Migration in ihrer Geschichte nur zu gut. Beleidigungen durch die Kindergärtnerinnen, Beschimpfungen auf der Straße und an der Supermarktkassa. Mein Vater hat jeden Job gemacht. Er war Amateurboxer, Schweißer bei Mercedes Benz, verkaufte Luftballons im Prater, war Geschäftsreisender, vertrieb T-Shirts und Polohemden aus der Türkei in den österreichischen Einzelhandel und belieferte schließlich über seine eigene Firma große Baustellen in Wien mit Fenstern, Türen und Parkettböden. Wir zahlten eine überteuerte Miete für die viel zu kleine Wohnung. Und im Sommer lieferten wir Autoladungen voller Schokolade, Cola, Kaugummi und Bananen bei unseren Verwandten im damals noch kommunistischen Ungarn ab. Viel beschwichtigen und ertragen. Für die Kinder. Meine Mutter war zuvor in Ungarn berufstätig, dann aber mit meinem jüngeren Bruder und mir zu Hause. Irgendwann kamen wir aus dem Kindergarten zurück und sprachen mehr Deutsch als Ungarisch. Meine Mutter lernte dann mit Wörterbuch und Schulfernsehen mit uns Deutsch. Gute Schulnoten wurden als selbstverständlich vorausgesetzt. Alle würden sich anstrengen. Wir würden es hier schaffen. Für weniger gab es kein Verständnis.
"Wo kommst du her?" ist keine neutrale Frage. Es ist eine Kontrollfrage. Eine Bewertung der Ebenen von Zugehörigkeit. Es ist klar, wer Teil dieser österreichischen Gesellschaft ist und wer nicht. Christlich: Ja. Muslimisch: Nein. Deutsch: Ja. Arabisch: Nein. Weiß: Ja. Schwarz: Nein. Wir Anderen stehen unter permanenter Beobachtung und Einordnung. Wo kommen wir her, wer sind wir, was dürfen wir. Wir sind die zu Integrierenden, und ob uns diese Pflichtübung gelungen ist, entscheiden andere für uns. Sie beschreiben uns - faul, fleißig, brav, schlimm - und beurteilen unsere Leistung und unser Leben. Aber was passiert, wenn wir das nicht länger hinnehmen? Wenn wir widersprechen - und selber sprechen?
1994 saßen wir in einem Zimmer auf der Bezirkshauptmannschaft in Gänserndorf und bekamen die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Ich war 17, mein Bruder ein Jahr jünger. Weil wir noch nicht volljährig waren, wurde die Staatsbürgerschaft über unsere Eltern auf uns "erstreckt". Sie mussten dafür ihre ungarische bzw. ägyptische Staatsangehörigkeit abgeben. Für mich war es nur ein Pass, für meine Eltern ein Teil ihrer Lebensgeschichte. Mein Vater musste eine Gelöbnisformel vorlesen und ich verkrampfte innerlich. Mein Vater ist kein großer Leser. Schon gar nicht hochtrabender Gelöbnisformeln. Lesen und Schreiben hat er auf Arabisch gelernt. Er spricht gefühlt ein Dutzend Sprachen - alle gut genug, um das Gegenüber immer zu beeindrucken. Rumänisch, Türkisch, Ungarisch, Englisch. Selbstverständlich Deutsch. Aber als er vor der Beamtin stand, mit diesem Zettel in der Hand und seiner Lesebrille auf der Nase, in diesem Moment zählten nicht seine Erfahrung, sein Können oder sein Wissen. Es zählte nur dieser eine Absatz und das richtige Verlesen von Worten, die uns nun auf magische Weise in ein neues Wir einfügen würden. Ein weiterer Eintrittstest, diesmal mit viel Theater. Die Performance von Integration. Ich war erleichtert, dass ich selbst keine Rolle spielen musste. Ich hätte mich glatt geweigert, so wütend war ich.
Ich hatte Glück. Ich maturierte noch als Ungarin und begann wenige Monate später mein Studium als Österreicherin. Ohne den Stress, meinen Aufenthaltstitel verlängern oder meinen Studienerfolg nachweisen zu müssen. Gleichgestellt mit meinen österreichischen Studienkolleg:innen. Mit derselben Möglichkeit zu reisen und zu wählen. Und gewählt zu werden. Mir überhaupt vorstellen zu können, mich für ein politisches Amt zu bewerben. 25 Jahre, nachdem wir eingebürgert wurden, konnten meine Eltern bei der Nationalratswahl 2019 meinen Namen auf dem Wahlzettel ankreuzen und mich ins Parlament wählen.
Unsere Herkunft ist ein Märchen. Eines, in das uns das Gegenüber drängt. Aber auch eines, das wir (uns) selbst erzählen. Jedes Mal aufs Neue und bald auch unseren Kindern. "Wo kommst du her?" ist keine verbotene Frage. Vor allem dann nicht, wenn die Antwort egal ist. Wenn wir uns kennen. Wenn zuerst ein "Wie geht's dir?" kommt. Wenn wir beide etwas Verbindendes zwischen uns gefunden haben. Wenn wir mehr voneinander wissen wollen. Wenn ich sagen kann, dass ich aus...
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