Schweitzer Fachinformationen
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Sie fuhren in einem Zug von der ägyptischen Hafenstadt Alexandria durch das Nildelta, Muhammad Eid und Ahmad Samir, zwei junge Straßenverkäufer. Muhammad bot normalerweise selbst gemachte kleine Malereien auf Holz oder Leder in Alexandria feil. Aber an diesem Tag hatte der Regen all seine Objekte zerstört. Er hatte keine Einnahmen. Als die beiden auf dem Weg nach Hause vom Schaffner im Zug kontrolliert wurden, konnten sie keine Fahrkarten vorweisen. Der Schaffner gab ihnen drei Optionen: Sie bezahlen das Ticket, er übergibt sie der Polizei oder sie springen aus dem fahrenden Zug. Da sie nicht genug Geld hatten und Angst, der Willkür der Polizei ausgeliefert zu werden, wählten sie die dritte Option und sprangen. Muhammad starb, als er neben den Gleisen aufschlug, Ahmad verlor ein Bein. Das Ticket hätte umgerechnet vier Euro gekostet.
Es ist eine Begebenheit, die symptomatisch dafür ist, wo die arabische Welt zehn Jahre nach dem sogenannten Arabischen Frühling steht. Wirtschaftliche und soziale Fragen bleiben völlig ungelöst, vielerorts ist es nur ein brutaler Repressionsapparat, der für Ruhe sorgt. Und nun setzt sich auf das Ganze noch die Krise der Corona-Pandemie, deren wirtschaftliche und soziale Auswirkungen alle Widersprüche noch verschärfen werden.
Es ist ein scheinbar düsteres Fazit, das ein Jahrzehnt nach dem Aufstand gegen die arabischen Diktatoren gezogen werden muss. Ägypten wird vom Militär regiert, in Syrien hat der Diktator gewonnen, regiert aber über einen Scherbenhaufen. Libyen versinkt im Chaos der Milizen und in einem blutigen Stellvertreterkrieg, genauso wie der Jemen. Und die ölreichen Golfstaaten werden autokratisch regiert wie eh und je.
Manche proklamieren da fast hämisch, dass nach dem Arabischen Frühling in der Region der politische Winter eingezogen sei. Aber kann man politische Prozesse tatsächlich als Jahreszeiten erklären?
Dieses Buch beschreibt die letzten zehn Jahre eines langfristigen Prozesses. Es schildert, wie das Rad von den alten Systemen zum Teil wieder zurückgedreht wurde. Wie militante islamistische Bewegungen wie der sogenannte "Islamische Staat", der IS, das entstandene Vakuum zu füllen suchten. Wie die Autokraten gemeinsam danach trachten, jede auch noch so kleine Bewegung hin zu Veränderung in der Region zu blockieren und eine regionale Ordnung zu schaffen, die der ägyptische Politologe Amr Hamzawy einmal als "Pax Autocratica" bezeichnet hat. Doch dies ist keine detaillierte Chronik der arabischen Welt der letzten zehn Jahre. Vieles wird nur gestreift, etwa der Bürgerkrieg in Syrien, manches wird ausgelassen, wie der palästinensisch-israelische Konflikt, der eine ganz eigene Erzählung braucht.
Das Buch fasst uns an der eigenen Nase und beschreibt, warum die Politik Europas in der Region mit dem Hashtag #fail charakterisiert werden kann. Die Lektion, dass arabische Autokraten keine Stabilität bringen und nicht die Lösung, sondern ein großer Teil des Problems sind, wurde in Europa immer noch nicht gelernt. Die europäischen Regierungen hofieren sie immer noch als Antiterrorkämpfer und als jene, die die Flüchtlingsströme aufhalten sollen. Derweil sind gerade sie es, die Terror und Flüchtlinge produzieren.
Aber die Pax Autocratica bekommt zunehmend Gegenwind. Gerade in den letzten Jahren formiert sich Widerstand, eine Art Arabellion 2.0. In Algerien und im Sudan haben sie es geschafft, ihre Langzeitautokraten loszuwerden. Nun kämpfen sie nach deren Sturz darum, auch das System Abdelaziz Bouteflika und Omar Al-Baschir umzukrempeln. Es ist ein ermüdender Kampf bergauf. Genauso wie der im Libanon und im Irak, wo die Menschen eines politischen Systems überdrüssig geworden sind, das die Religionszugehörigkeit in den Mittelpunkt der Politik stellt und sie gegeneinander aufhetzt. Hier findet ein grundsätzlicher Wandel statt: Die soziale Identität und nicht die religiöse Identität rückt ins Zentrum. Der junge arbeitslose Schiite hat entdeckt, dass ihn viel weniger von seinem jungen sunnitischen Gefährten unterscheidet, der das gleiche Schicksal teilt, als von seiner eigenen politischen Elite, die sich durch Korruption und Misswirtschaft schamlos bereichert.
Die Art des Regierens, die Misswirtschaft und die Korruption werden in vielen Teilen der arabischen Welt inzwischen infrage gestellt. Repression funktioniert, das haben die Jahre nach der Arabellion bewiesen. Aber sie hat offensichtlich auch ein Ablaufdatum, wenn die drängendsten Probleme der Menschen, vor allem der jüngeren Generation, nicht gelöst werden. Deren völlige Perspektivlosigkeit bedeutet, dass viele von ihnen in den festgefahrenen Strukturen kaum ihren Lebensunterhalt sichern, geschweige denn ihren Träumen nachgehen können.
Woher kommt die Unruhe in der arabischen Welt? Hat sie ihre Wurzeln in den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, in denen die Mehrheit der Araber und Araberinnen lebt, oder in der Art und Weise, wie sie regiert werden und kein Mitspracherecht haben? Oder ist die Religion, der Islam, an allem schuld? Letztere Antwort ist in Mode gekommen und hat eine ganze Reihe deutschsprachiger Bestseller hervorgebracht, die die arabische Welt und deren Misere mit Koran-Zitaten zu erklären suchen. Dieses Buch soll ein Gegengewicht dazu bieten. Statt des Koran wird hier das unselige arabische Dreigespann Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit analysiert, das Menschen zu stillschweigenden Besiegten, brutalen Terroristen oder verzweifelten Flüchtlingen macht, oder sie, wie in letzter Zeit wieder vermehrt, voller Wut und Leidenschaft mutig auf die Barrikaden steigen lässt.
Warum dieses Buch? In meiner Arbeit als Korrespondent für den arabischen Raum versuche ich zu verstehen, was um mich herum geschieht, in Kairo oder bei meinen Reisen in die Region, in den Irak, den Libanon oder nach Saudi-Arabien. Vieles von dem, was ich sehe, ist frustrierend, einiges traurig, anderes macht mich wütend, aber manches ist auch sehr ermutigend. Es ist ein Prozess, in dem sich Repression und Rebellion abwechseln und gegenseitig bedingen, in dem das Alte nicht mehr nachhaltig ist, das Neue sich aber noch nicht oder nur sehr schwer durchsetzen kann. Aber am Ende wird eine andere arabische Welt stehen. Der Weg dorthin ist blutig, chaotisch, verlustreich, aber auch kreativ und aufmüpfig, und er ist mit vielen Hoffnungen und Enttäuschungen gepflastert. Dieses Buch ist der Versuch, das große Ganze dieses Wandels zu erfassen.
Doch manchmal sind es auch kleine Geschichten, die einen die Zusammenhänge besser verstehen lassen. Viele habe ich hautnah miterlebt. Deshalb beschreibe ich diesen Prozess mal aus dem analytischen Weitwinkel, mal anhand von Reportagen, die in die Lebenswelt der Menschen hineinzoomen. Etwa, wenn ein Straßenkehrer in Kairo ein Jahr nach dem Aufstand gegen Mubarak seine Hoffnungen beschreibt, oder wenn ich eine Visite in einem Waisenhaus in Bagdad schildere, in dem Kinder von gefallenen IS-Eltern spielen, deren kleine Seelen nach Heilung schreien - vielleicht die wichtigste Front des Antiterrorkampfes. Auch die jungen Demonstranten in Bagdad haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, wie sie nach jedem Angriff der Sicherheitskräfte immer wieder ihre Protestlager aufbauen, jeden Tag neue Tote beerdigen und trotzdem weitermachen.
Wegen der Corona-Krise mussten sie ihre Proteste dann doch vorerst abbrechen und ich mit meinem Buchmanuskript innehalten. Die ersten Kapitel waren geschrieben, da geschah etwas fundamental Einschneidendes: Ein unsichtbares Virus veränderte nicht nur die arabische, sondern die ganze Welt. Wir stecken mittendrin in dieser Krise, von der niemand genau zu sagen vermag, wie lange sie dauern wird und wie groß die Auswirkungen am Ende sein werden. Es ist schwer, da einen Ausblick zu geben, wohin sich die arabische Welt entwickeln wird. Im letzten Kapitel versuche ich es trotzdem. Denn eines ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche oder der fünfmal tägliche Gebetsruf von den Minaretten: Alle Ursachen, die in diesem Buch beschrieben werden, die die Menschen vor der Pandemie auf die Straße getrieben haben, werden mit ihr nur verschärft. Sie wird vielen Arabern und Araberinnen endgültig die Luft zum Atmen nehmen, nicht nur als Krankheit, sondern noch mehr wegen der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. George Floyds Hilferuf "I can't breathe" ist eine tägliche arabische Erfahrung der Repression, aber auch der sozialen Machtlosigkeit. Die große Explosion im Hafen von Beirut, wenige Tage bevor dieses Buch in den Druck geht, ist hier vielleicht ein Kulminationspunkt. Die staatliche Fahrlässigkeit und die Inkompetenz hinterlassen die Libanesen fassungslos. Es ist ein Sinnbild für die Krise der gesamten Region.
Im Januar 2016 besuchte ich die entlegene Stadt Sidi Bouzid im Südwesten Tunesiens, dort, wo sich etwas mehr als fünf Jahre zuvor der Straßenhändler Muhammad Bouazizi selbst angezündet hatte. Seine Verzweiflungstat war der traurige Flügelschlag eines Schmetterlings, der den Orkan der ersten Arabellion auslösen sollte. Am Rand des Ortes lag neben einer...
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