Schweitzer Fachinformationen
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Ein Geräusch. Sie wachte davon auf. Es war vier Uhr morgens. Auf der Digitalanzeige des Radioweckers 4:02. Im Zimmer war es dämmergrau. Regentropfen zeichneten ein Streifenmuster auf die Fensterscheiben, und draußen dampfte die Feuchtigkeit aus dem üppig wuchernden Gras.
Sie bekam keine Angst. Wurde aber wachsam. Jetzt hörte sie, was es war: ein Automotor auf niedrigen Touren. So früh konnte niemand zu ihr wollen. Saddie lag auf dem Schaffell vor dem Bett und schlief weiter. Die Hündin war dreizehn und ziemlich taub.
Eine Autotür knallte. Noch eine. Also mindestens zwei Leute. Und dann diese Stille. Keine Stimmen.
Sie schlief mit einer Schrotflinte neben sich. Das Bett stand ein Stück von der Wand entfernt, und in dem Zwischenraum befand sich das Gewehr. Eine recht hübsche Waffe, spanisch. Eine Sabela. Die Patronen lagen hinter dem Radiowecker. Sie brauchte genau zweiundzwanzig Sekunden, um das Gewehr aufzuklappen und die Patronen hineinzustecken. Das hatte sie geübt und dabei die Zeit gestoppt. Tatsächlich hatte sie es jedoch nie laden müssen.
Die Tür war abgeschlossen. Sie hatte noch nie vergessen, ihr Haus zuzusperren. Seit achtzehn Jahren nicht.
Jetzt lag sie da, hatte die Hand auf dem sauber gearbeiteten Kolben der Sabela und befühlte die mattfette Oberfläche. Steif und fröstelnd.
Sie wollte nicht in die Küche gehen und hinausschauen, denn da wäre sie selbst durchs Fenster zu sehen gewesen. Statt dessen stand sie auf, stellte sich an den Türpfosten und lauschte. Saddie kam mit, sackte aber auf dem Teppich unterm Couchtisch zusammen und fing wieder zu schnarchen an. Stimmen waren nicht zu hören.
Schließlich ging sie doch in die Küche. Ohne Gewehr. So macht man das nun mal. Man glaubt, daß es gutgehen wird.
Der Regen rann jetzt lautlos über die Fensterscheiben. Hinter dem Film aus Glas und Wasser stand Mia vor dem Auto.
Ihr Körper war mit einem anderen verschmolzen.
Die beiden waren ganz naß. Mias Jacke war auf den Schultern und am Rücken völlig durchnäßt. Das Haar klebte ihr strähnig am Kopf und wirkte dunkler, als es war. Er hatte richtig dunkles Haar, braunschwarz und glatt. Es steckte Laub darin. Zwergbirkenzweige und Farnblätter. Mia mußte sie hineingesteckt haben. Sie hatte mit ihm gespielt. Die beiden waren so eng miteinander verschlungen, daß es aussah, als wäre er dort draußen im Regen in sie eingedrungen. Dem war aber nicht so. Sie sah etwas ebenso Uraltes. So als ob sich in der Zeit eine Wunde öffnete. Und sich schlösse, verschwunden wäre. Als sich die Gesichter voneinander lösten, erkannte sie ihn.
Sie stützte sich auf die Spüle. Stand in ihrem alten Nachthemd da und vergaß ganz, daß sie sie entdecken konnten. Ihr Herz bewegte sich wie ein Tier in ihrem Brustkorb. Nach einer Weile verspürte sie einen Brechreiz, der sie zum Schlucken zwang. Der Speichel war ihr im Mund zusammengelaufen.
Dasselbe Gesicht. Fester und gröber nach achtzehn Jahren. Aber das war er. Der Regen rann wie über ein Fenster in der Zeit, und da war er, ein Körper, Fleisch.
Sie trat zurück, vom Fenster weg. Sie hatten sie nicht entdeckt. Als Mia den Schlüssel ins Schloß steckte, lag sie schon wieder im Bett. Sie hörte, wie Saddie in den Flur tappte und sich leise freute; sie schlug mit dem Schwanz gegen die Mäntel in der Diele, so daß die Kleiderbügel klapperten. Mia ging in die Küche, und der Automotor sprang an. Wahrscheinlich winkte sie ihm. Dann stieg sie, Saddie auf den Fersen, die Treppe hinauf. Sie ging sich nicht waschen. Und es war ja nicht schwer zu verstehen, weshalb.
Annie hatte kalte Füße bekommen, und die Kälte kroch nun nach oben. Sie traute sich jedoch nicht, in die Küche zu gehen und im Herd Feuer zu machen oder auch nur einen warmen Morgenrock zu suchen. Mia sollte nicht hören, daß sie wach war.
Sie hatten miteinander geschlafen. Vielleicht im Freien, im Regen. Er war jener Junge. Wenn auch viel älter. Mit dem knospenden Laub im nassen Haar glich er auch etwas anderem. Etwas, was sie gesehen hatte. Einem Bild vielleicht. Sie sah ein Messer, obwohl sie das nicht wollte. Sie sah das Messer in den kräftigen, jungen Körpern.
Jetzt lag Mia dort oben in seinem Duft und wollte sich nicht einmal waschen. Sie wollte ihn sich bewahren.
Was sollte sie sagen, wenn Mia herunterkam?
Du bist dreiundzwanzig. Ihr müßt fünfzehn Jahre auseinander sein. Laß die Finger von ihm. Er ist gefährlich.
Es war achtzehn Jahre her, daß sie dieses Gesicht gesehen hatte. Damals war es jung gewesen und die Erregung darin von anderer Art. Aber es war dasselbe Gesicht.
Das Bett über ihr knackte. Mia konnte oder wollte nicht schlafen. Seine Anwesenheit pulsierte ihn ihr. In den Schenkeln, im Bauch, in der Scheide und in den zerküßten Lippen. Und Annie lag steifgefroren und starr ausgestreckt in ihrem Bett.
Sie streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus. Es war noch nicht halb fünf. Sie wollte seine Stimme hören, selbst wenn sie vielleicht nicht lange reden konnte. Es bestand die Gefahr, daß man es oben hörte.
Er mußte jetzt verschlossen sein, im Schlaf verklebt wie ein Kuvert. Er meldete sich jedoch nach dem ersten Klingeln, und ihr ging durch den Kopf, wie gewohnt er es war, geweckt zu werden, und daß er an diesem Samstagmorgen eigentlich sollte ausschlafen können.
»Ich bin es nur. Entschuldige. Ich habe dich geweckt.«
»Das macht nichts. Fehlt dir was?«
Seine Stimme war undeutlich.
»Nein, nein.«
»Was ist dann?«
Was sollte sie sagen? Er wartete.
»Ich habe ihn gesehen. Du weißt schon. Den ich in jener Nacht gesehen habe.«
Er schwieg. Er mußte jedoch wissen, wen sie meinte, denn er fragte nicht nach.
»Das ist doch nicht möglich«, sagte er schließlich.
»Doch, ich habe ihn gesehen.«
»Du erkennst ihn doch unmöglich wieder.«
»Ich habe ihn aber erkannt.«
Sie hörte ihn schwer durch den Mund atmen.
»Ich weiß nicht, wer er ist«, sagte sie. »Ich werde es aber bald erfahren. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Ich ruf dich später an.«
Er wollte nicht auflegen. Sie verstand, daß er sie beruhigen wollte, ihr womöglich einreden wollte, daß sie sich getäuscht habe. Doch sie verabschiedete sich. Als sie den Hörer auflegte, hörte sie seinen Atem immer noch.
Seine Stimme blieb bei ihr. So als hätte er mit den Lippen an ihrem Ohr gesprochen. Die Wärme darin. Die Feuchtigkeit in den Wirbeln auf seiner Brust. Ein Tal mit nächtlichem Dunst, Vögel im Laub.
Jetzt hieß es lediglich warten.
Mia schlief nicht sehr lange. Annie saß da und trank Tee, als sie herunterkam. Ihre Lippen waren zerbissen, und sie wirkte abwesend. Sie hätte eigentlich verlegen sein müssen, weil sie nicht angerufen und gesagt hatte, daß sie kommen werde.
Aber sie hatte wohl nicht vorgehabt, sie zu besuchen. Sie war im Auto dieses Mannes gekommen. Man sah, daß sie unablässig an ihn dachte. Er würde nicht wie die Regenwolken überm Fjäll an diesem kühlen Morgen verschwinden. Sie mußten über ihn reden.
»So viele Blumen«, sagte sie schließlich. Sie dachte wohl nicht daran, daß der letzte Schultag gewesen war.
»Ich hab nicht angerufen. Es hat sich einfach so ergeben, daß wir raufgefahren sind.«
Wir, sagte sie, völlig selbstverständlich.
»Wir wollten in Nirsbuan übernachten.«
»Habt ihr es euch anders überlegt?«
»Es ist zu kalt geworden. Da ist nur dieser kleine Herd, und dann gibt es kaum Brennholz. Wir haben aber die Birkhähne gesehen. Die haben im Moor ihr Spiel gemacht.«
»Immer noch?«
»Da oben liegt Schnee. An einigen Stellen jedenfalls.«
Sie hatte sich Annie gegenübergesetzt und hielt den warmen Teebecher zwischen den Händen. Ihr Haar war wieder trocken und kraus und schimmerte rot. Auf dem Dachboden hatte sie einen alten Trainingsanzug gefunden. Er war verwaschen blau, und auf der Brust stand COUP DU MONDE.
»Johan Brandberg hat mich hergebracht«, sagte sie. »Du weißt, wer das ist?«
»Nein.«
»Nein, natürlich nicht, er wohnt ja nicht mehr zu Hause. Schon viele Jahre nicht mehr.«
»Achtzehn.«
Sie blickte auf.
»Dann weißt du also, wer er ist?«
»Ich habe ihn gesehen.«
Mia konnte nicht wissen, was ihre Mutter damals gesehen hatte. Sie hatte tief im Gras gelegen und das Gesicht so fest auf den Boden gedrückt, daß sich hinterher ein Muster von Grashalmen und Moos in der zarten Haut abgezeichnet hatte.
Das Telefon klingelte. Annie nahm ab und hörte, daß von einem Münzfernsprecher aus angerufen wurde. Die Stimme, die nach Mia fragte, war hell. Viel zu hell für sein Alter. Hatte er sie gesehen, war er in die Zeit hinabgeglitten?
Mia ging nach dem Gespräch. Annie brauche sie nicht zu fahren, sagte sie. Er habe aus der Telefonzelle unten beim Laden angerufen und warte dort mit dem Auto.
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