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Im Mai 1966 veröffentlicht die damals 18-jährige France Gall ein neues Lied. Es stammt aus der Feder von Serge Gainsbourg und heißt »Les Sucettes«, die Lutscher. Gainsbourg hat die junge Sängerin wenige Jahre zuvor durch die gemeinsame Plattenfirma kennengelernt. Seine Karriere liegt zu dem Zeitpunkt am Boden. Doch die Zusammenarbeit mit dem aufstrebenden weiblichen Popstar entpuppt sich für ihn als Adrenalinspritze. Zur Inspiration für das neue Lied befragt Gainsbourg Gall zu ihrem Alltag. France, die eigentlich Isabelle heißt, ihren Namen aber ändern musste, um nicht mit der erfolgreichen Sängerin Isabelle Aubret verwechselt zu werden, erzählt von ihren Ferien. Dass sie Zeit bei ihrer Familie in Noirmoutier verbracht habe und dort nicht viel los gewesen sei. Ein Highlight sei es gewesen, sich im nahegelegenen Drugstore für ein paar Pennies Lutscher zu kaufen - les Sucettes.
In der Aufzeichnung einer französischen Fernsehshow aus dem Jahr 1966 sieht man das kindlich strahlende Gesicht von France Gall, die Gainsbourg zu einer »Lolita française« aufbauen wollte, hinter einer Reihe von Lutschern auftauchen. Mit braver, platinblonder Ponyfrisur singt sie begeistert von der Liebe einer »Annie« zu Anislutschern, deren malziger Saft ihre Kehle hinuntergleite und sie ins Paradies befördere. Im Hintergrund sind erwachsene Frauen zu sehen, die suggestiv an überdimensionierten Lollis saugen. Das choreografische Element bilden vier in gemusterte Stoffsäcke verpackte, unkenntliche Frauenkörper, die sich als menschliche Lutscher wiegen und auch dem letzten Deppen klarmachen: Hier geht es nicht um die kindliche Freude an Süßigkeiten, sondern um Fellatio. Um eine überdeutliche Inszenierung von phallischer Macht in der Musik, garniert mit einem unsubtilen Pimmel-Wimmelbild, in der erwachsene Männer einen Herrenwitz (Pennies = Penis, haha!) auf Kosten eines jungen Mädchens teilen.
France Gall selbst versteht nicht, was sie da singt. Erst als sie kurz darauf auf Tour in Japan ist, fällt es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie habe sich verraten gefühlt von den Erwachsenen, sie habe gelitten, sei wochenlang nicht mehr aus dem Haus gegangen und habe Jungs nur noch mit Abneigung und Ekel betrachtet, erzählt sie später in Interviews. Gainsbourg, der Skandale ebenso sehr liebt wie Sexismen, lacht sich ins Fäustchen. Schon 1965 hatte er für Gall, deren Bühnenname von ihrem musikaffinen Vater ausgewählt wurde und ihr anfangs überhaupt nicht gefiel, einen Hit geschrieben, mit dem sie den 10. Eurovision-Gesangswettbewerb für Luxemburg gewann. Der Name des Songs: »Poupée de cire, poupée de son« - Wachspuppe, Klangpuppe. Auch hier machte sich Gainsbourg bereits über jugendliche Popsängerinnen als identitätslose Püppchen lustig, die das Leben in Bonbonrosa sehen, sich verführen lassen und höchstens als Spiegel für die Welt taugen.1 Noch Jahre später singt das heilige Monster des französischen Chansons den Blowjob-Song feixend und von Lachern unterbrochen im Fernsehen, lässt ihn sogar 1978 vom beseelt lächelnden Männer-Ensemble Garnier im Chor singen.2 In einem Spiegel-Interview mit Gilles Verlant sagt er: »France Gall hat mein Leben gerettet. Denn bevor sie meine Lieder sang, war ich bei den meisten jungen Leuten total abgemeldet. Ich bereue diesen Teil meines Lebens überhaupt nicht.«3 France Gall hingegen ist durch diesen Song bereits als 18-Jährige »fürs Leben blamiert«, wie es im Spiegel heißt. Oder zumindest gezeichnet. Bis heute wird ihre Aussage, dass sie nicht verstanden habe, was die von Gainsbourg geschriebenen Songzeilen auch bedeuten können, dass sie sich von diesem Subtext und dem damit verbundenen Gelächter des gesamten erwachsenen Publikums gedemütigt gefühlt habe, angezweifelt. Sie habe es sehr wohl gewusst und das Spiel nur mitgespielt, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen, so der Tenor. Das, was France Gall damals erlebt hat, ist mitnichten eine traurige Anekdote aus einer grauen Vorvergangenheit, in der sich sexistische Männermonster ungestört im Musikbusiness austoben konnten, einer Zeit, in der sie junge Mädchen straf- und kommentarlos ausbeuten und erniedrigen durften. Denn obwohl er in dieser krassen Unverblümtheit heute wohl nicht mehr einfach so hingenommen würde, steht dieser Vorfall geradezu exemplarisch für alles, was Popkultur und die Musikbranche bis heute prägt: Die gesamte Musikindustrie basiert fast ausnahmslos darauf, dass jugendliche, normschöne Frauenkörper als quasi unendliche Ressource zur Verfügung stehen, an denen sich der öffentliche männliche Blick (den im Übrigen nicht nur Männer, sondern alle kulturell erlernt haben) labt. Männer, die innerhalb des Systems über Macht verfügen, verfügen nicht selten auch ganz physisch über die fetischisierten Körper, während diese Frauenkörper (um Identitäten oder Persönlichkeiten geht es hier selbstverständlich nicht) gleichzeitig dafür gescholten oder verlacht werden, dass sie entsprechende Begehrlichkeiten wecken. Das ist, so traurig und banal es klingt, die Grundvoraussetzung von Pop: Frauen(körper), zwangsläufig jugendlich und sexy aussehend, sind das Rohmaterial, aus dem alles entsteht. Sie werden in Songtexten angeschmachtet und beschimpft, auf der Bühne oder backstage zu Projektionsflächen, sie kaufen die Musik und machen die Stars. Und gleichzeitig wird ihnen keine eigene Agency, keine Handlungsmacht zugestanden. Sie sind gleichzeitig hyperpräsent und eine gähnende Leerstelle. Frauen sind die kreischenden, hirnlosen Fans, die willenlosen Groupies, die, die sich mit raren B-Seiten nicht auskennen und nur die Hits hören, die hübschen Sängerinnen, die von anderen geschriebene Texte trällern. Und auch wenn sie sich, wie so viele Musikerinnen, Branchenmitarbeiterinnen und Fans in der Geschichte und Gegenwart des Pop, diesen sexistischen Deutungsmustern zu entziehen versuchen, können sie dem Male Gaze, der immer zuerst ihr Geschlecht sieht und dessen (Nicht-)Aufführung bewertet, nicht entkommen.
Denn ein Mann, der mit einer Gitarre um den Hals auf der Bühne steht, ist für das Publikum in erster Linie ein Gitarrist; eine Frau, die dasselbe tut, ist zuerst eine Frau und erst dann eine Frau mit Gitarre. Das bedeutet nicht, dass es keine Gegenmodelle, keinen Widerstand gegen dieses ursexistische Grundprinzip gäbe, denn auch diese sind ein integraler Teil der Popgeschichte. Doch die Möglichkeit, aus einem quasi neutralen Raum die Bühne zu betreten, ist Frauen in diesem System verwehrt: sie müssen sich immer a priori zu dieser Grunddisposition von Pop verhalten. Christiane Rösinger, deutsche Songwriterin, Autorin und Theatermacherin, hat es einmal so beschrieben: »Ich wollte einfach Songs machen, in denen ich über die Liebe, das Leben und meine Sicht der Dinge singe und die Welt erkläre. So wie es viele Männerbands machen! Ohne eine Show zu machen oder mich ausziehen zu müssen. Das funktioniert aber irgendwie nicht! Außerdem lässt sich der junge Plattenkäufer nicht gerne von einer älteren Frau sagen, wie die Welt aussieht.«4 Ein solches System auszuhalten oder dagegen zu rebellieren, ist mühsam und kostet Kraft - zusätzlich zu der, die dafür aufgewandt werden muss, überhaupt erst Zugang zu dieser Männerdomäne zu erhalten. Junge Frauen sind die Quintessenz von Pop, und gleichzeitig sind sie sein Gegenteil. Sie verkörpern objekthaft alles, was es im Pop zu begehren gilt - Jugendlichkeit, Sexiness, Unschuld, Freshness, Neugierde, Nowness, Hoffnung. Und andererseits sind sie der Gegenpol von allem, was im Pop für Coolness und Macht steht: keine Erfahrung, keine Expertise, kein Einfluss. Es ist, als zeige sich der jahrtausendalte Dichotomie-Gassenhauer hier besonders aggressiv: Körper vs. Geist, Natur vs. Kultur, Objekt vs. Subjekt, unten vs. oben. Junge Mädchen sind die vulnerabelsten Akteur*innen in der Musikindustrie, und in ihrer zwangsläufigen gleichzeitigen Verkörperung vom Hure-Heilige-Schema (noch so eine Uralt-Dichotomie) werden sie für das, wofür sie gefeiert werden, gleichzeitig bestraft - als hätten sie sich die sexy Schulmädchen-Inszenierungen aus jugendlich-weiblicher Perversität selbst ausgedacht, statt raffinierte Marketingschemata (oder eben Altherren-Perversionen) zu bedienen.
Denn die Geschichte von France Gall war natürlich kein Sonderfall oder gar ein Ausrutscher, sondern eine kalkulierte Strategie, die sich noch vielfach wiederholen sollte. Eine der bis heute bekanntesten Repräsentantinnen des »verführerischen Schulmädchens« ist Britney Spears mit ihrem Video zu ». Baby One More Time«. Dort tanzt die bei den Videoaufnahmen erst 16-jährige Sängerin als Schülerin einer katholischen Privatschule mit kindlichen Zöpfen, Overkneestrümpfen, Minifaltenrock und bauchfrei geknoteter weißer Bluse zu einem Songtext, den manche als Anspielung auf BDSM-Sexpraktiken deuteten. Es wurde zwar im Nachgang erklärt, dass die Zeile »Hit me baby one more time« rein metaphorisch als emotionales oder telefonisches Anstupsen gemeint gewesen sei und der schwedische Songschreiber Max Martin einfach zu schlecht Englisch gekonnt habe.5 Doch die Assoziation zu gewalttätigen Handlungen ist durch die primäre Bedeutung von »to hit« als »schlagen« omnipräsent. Wie bei Gall geht es hier wieder um ein Spiel doppelter Lesarten, das vor allem die erfahrenere Perspektive privilegiert, die sich an der Kink-Konnotation entweder aufgeilen oder sich darüber amüsieren kann, dass die junge Interpretin vielleicht gar nicht darum weiß. Während bei France Gall öffentlich darüber spekuliert wurde, ob sie doch »in the know« sei und man ihr dadurch implizit auch eigene sexuelle Erfahrungen...
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