SCHWARZ IST WUNDERVOLL
Anfang August. Schon seit 19 Uhr sitzt Freund Richard mitten im Emder Stadtwald auf einem mit frischen Douglasienzweigen verblendeten Erdsitz und wartet auf den alten schwarzen Bock, der seit Längerem genau hier seinen Einstand hat. Ich selbst befinde mich gut 300 Meter entfernt auf einem Hochsitz, von dem aus ich austretendes Rehwild fotografieren will. Im 71 Hektar großen Stadtwald, das muss ich kurz erwähnen, stehen insgesamt 400000 Bäume. Die Länge der Wanderwege beträgt sieben Kilometer.
Wohl wissend, dass es jederzeit knallen kann, zucke ich dennoch zusammen, als kurz vor 21 Uhr laut donnernd ein Schuss bricht. Das kann nur Richard gewesen sein. Genau acht Minuten später klingelt mein Handy, und Richard teilt mir mit lediglich zwei Worten mit, was passiert ist: »Er liegt!«
Großartig! Was für eine Freude! Er liegt. Auch ich fasse mich kurz, benötige jedoch fünf Worte: »Bin in zehn Minuten da.«
Als ich mit Wildwanne und Fotoapparat am Ort des Geschehens ankomme, sitzt Richard, sichtlich ergriffen, immer noch auf dem Erdsitz und zeigt auf den gerade mal zwölf Meter entfernten maulwurfschwarzen Bock am Boden vor einer Schwarzerle.
»Da liegt er!«, sagt er. Und weiter: »15 Minuten dauerte es, bis er sich bei gutem Wind und Kugelfang kaum zehn Meter entfernt in einer schmalen Schneise breitstellte. Ich hab' ganz schön gezittert mit der Büchse im Anschlag, denn ich musste freihändig schießen.«
Begeistert schlage ich Richard auf die Schulter. Und schon stehe ich vor der wundervollen Beute. Hurra! Es ist der abnorme, etwa achtjährige schwarze Bock, der bereits seit mehreren Jahren auf dem linken Licht blind ist. Ein Traumbock. Das über Lauscher hohe, zurückgesetzte lyraförmige Gehörn weist keinerlei Vereckung mehr auf. Ein Juwel! Gut, dass ich die Wildwanne mitgebracht habe. Einen solchen Bock schleifen wir nicht durch den Wald. Der wird getragen! Feierlich getragen.
Richard ist Pächter des Reviers »Zum Wilden Lande«. Dazu gehören ein großer Teil des Emder Stadtwaldes sowie mehrere bis zum Flughafen vorgelagerte Wiesen. Seit vielen Jahren schon helfe ich ihm bei der Betreuung des Reviers. Das Besondere: Neben einem guten Rehwildbestand, Hasen, Fasanen, Enten und Gänsen sowie Raubwild kommt auch schwarzes Rehwild vor. Eine Rarität, die es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weltweit fast ausschließlich nur im nordwestdeutschen Tiefland gibt.
Die genauen Ursachen für die rezessiv (verdeckt) vererbende Farb-Mutation ist umstritten. Es ist wohl nur eine klimabedingte Laune der Natur. Sicher jedoch ist, dass die Veränderung des Erbguts eine starke Vermehrung des schwarzen Pigments bewirkt, das die »normale« Färbung unterdrückt. Es gibt sowohl schwarze Ricken mit roten Kitzen als auch rote Ricken mit schwarzen Kitzen, aber auch welche mit zugleich rotem und schwarzem Nachwuchs.
So gut wie kein weibliches Stück dieser Farbe wird in Richards Revier erlegt, um den Anteil an schwarzen Rehen etwas zu erhöhen. Schwarze Böcke werden in der Regel nur freigegeben, wenn sie über fünf Jahre alt oder abnorm sind.
Auch im folgenden Jahr ziehen in Richards Revier mehrere schwarze Rehe ihre Fährten. Außer zwei Ricken und einem Schmalreh ebenfalls ein weiterer »Blacky«. Ein alter, abnormer Bock, der sich jedoch immer wieder längere Zeit ausgesprochen rar macht. Hat wohl einen zweiten Wohnsitz, der Herr.
Eines Tages, es muss Mitte Juni gewesen sein, bin ich gerade dabei, die Speicherkarte einer Wildkamera zu wechseln, als ... Hallo, war da nicht was? Aus den Augenwinkeln nehme ich etwa 100 Meter entfernt im Unterholz eine Bewegung wahr. Oh mein Gott! Ein schwarzes Reh. Ein Bock! Weil ich, wie immer, das Doppelglas und meine Nikon-Kamera mit dem 300er Tele am Hals baumeln habe, schaue ich zunächst durchs Fernglas und bin sicher:?Es ist der »Geist«, den ich in der Vergangenheit nur wenige Male kurz in Anblick hatte.
Mein Puls schnellt in die Höhe. Ich fühle die Herzschläge bis in den Hals. Die Haare an meinen Armen stellen sich auf, sehen im gleißenden Sonnenlicht aus wie ein im Wind wogendes Miniatur-Kornfeld.?Wundervoll glänzend die lackschwarze Decke des Heimlichen. Beeindruckend die?dicken, weit über Lauscher hohen, krummen, kaum vereckten Stangen.
Weil der Wind und das Licht gut sind, erfasse ich den Bock im Zeitlupentempo mit dem Teleobjektiv der Kamera und drücke den Auslöser.? Immer näher kommt er, der Methusalem. Intuitiv drehe ich das Objektiv auf 55 Millimeter herunter und fotografiere, was das Zeug hält. Genau in diesem Moment biegen auf dem nicht weit entfernten Wanderweg drei kichernde Joggerinnen um die Ecke, und der Bock springt laut schreckend ab. Puh! Der Blick aufs Display der Kamera beweist: ein faszinierender Bock. Uralt.
»Jetzt bist du dran«, sagt Richard, als ich ihm die Bilder zeige, und gibt mir den Schwarzen frei.?»Ich habe meinen ja bereits«, fügt er beschwörend hinzu.
27. August. Nach zwei erfolglosen Ansitzen versuche ich zum dritten Mal, den Alten zu überlisten. Etwa 15 Minuten, nachdem ich mich gegen 18 Uhr inmitten des Waldes auf einem erst kürzlich gebauten Erdsitz eingerichtet habe, starte ich mit meinem geliebten Rottumtaler Rehblatter die erste Arie. Leider ohne Erfolg. Zehn Minuten später der nächste Versuch: wieder nichts. Aber dann, nach 20-minütiger Pause, tut sich was. Urplötzlich erscheint in einer Entfernung von höchstens 50 Metern der Methusalem, stellt sich breit und verharrt wie ausgestopft in dieser Position.
Im Zeitlupentempo mache ich mich fertig. Verdammt. Kein Kugelfang.? Und da ist es wieder: Schüttelfrost, Herzklopfen, zitternde Hände ...?Genau wie 2012, als es mir im Teufelsmoor zwischen Hamburg und Bremen gelang, einen fünfjährigen schwarzen Bock zu erlegen. Unvergesslich!
Ob es auch heute klappt? Kontinuierlich tropfen die Sekunden ins Meer der Ewigkeit. Endlich: Vorsichtig zieht der Schwarze weiter. Mein Zeigefinger schleicht zum Abzug, und als er zum zweiten Mal verhofft ... bedeckt der dicke Stamm einer alten Eiche das Blatt, den »Motorraum«. Kann nicht wahr sein.? Nein, und nochmal nein!
Urplötzlich?brettert ein Jugendlicher abseits des Wanderweges mit seinem Mountainbike?durchs Unterholz. »Himmel, Arsch und Zwirn.« Es sind keine frommen Psalmen, die meinen Lippen entweichen. Blitzartig, ohne zu schrecken, springt der Alte ab. Weg ist er. Aus und vorbei! Wäre ich ein bisschen gelenkiger, ich hätte mir in den Spiegel gebissen.
Das Jagdjahr vergeht, ohne dass ich den Schwarzen noch einmal in Anblick bekomme. Verendet? Vom Nachbarn erlegt? Abgewandert? Keine Ahnung. Vielleicht hat er auch gemerkt, dass ich ihm nachstelle, oder es wurde ihm wegen der vielen Radfahrer und Spaziergänger mit Hunden zu unruhig im Stadtwald. Möglich, mutmaße ich, dass er deshalb in ruhigere Bereiche mit guter Deckung und Äsung zog. Oder er ist nur noch nachts unterwegs, der Schlaumeier? Auf den Speicherkarten der Wildkameras allerdings erscheint er nie.
Hurra??- er lebt! Mitte April sehe ich ihn im letzten Licht am Rand des Stadtwaldes auf einer Freifläche und freue mich riesig. Mit Aufgang der Rehwildjagd allerdings, damals war es noch der 1. Mai, hat ihn wieder der Erdboden verschluckt. Dann jedoch, nach der Blattzeit Ende Oktober, passt alles. Bei bestem Wind steht der Alte urplötzlich 60 Meter entfernt scheibenbreit vor mir. In aller Seelenruhe setze ich den Zielstachel aufs Blatt und ziehe in Gedanken den Abzug. In Gedanken? Ja! Einen struppigen schwarzen Bock, der gerade dabei ist, seinen »Sommermantel« auszuziehen, erlege ich nicht.
»Richtig so«, sagt Richard, als ich ihm die Story erzähle und ergänzt: »Die nächste Blattzeit kommt bestimmt. Nächstes Jahr kriegst du ihn.« Er sollte recht behalten.
Es ist Anfang August, und ich sitze drei Stunden vor Beginn der Abenddämmerung auf der Kanzel am Rand einer Wiese und beginne zu blatten. Aber die Bühne bleibt leer. 20 Minuten später folgt die zweite Arie, und dann, fast bin ich überrascht, erscheint neben einer Dickung in einer Entfernung von etwa 90 Schritt der Schwarze. Der mit der »Sonderlackierung«. An Schießen jedoch ist noch nicht zu denken, denn er äugt halbspitz stehend, wie zur Salzsäule erstarrt, in meine Richtung.
Hat er mich mitbekommen? Ich glaube nicht. Dennoch: bloß nicht bewegen. Ein kurzes Scheinäsen, und das Spiel geht in die Verlängerung. Mücken! Die verfluchten Blutsauger um mich herum nerven. Aber sie haben Narrenfreiheit. Ich ignoriere sie, wenn es auch schwerfällt. Für diesen Bock leide ich gern.
Nach mehreren Minuten beruhigt sich der Alte und ... steht auf mich zu. Langsam, mit erhobenem Haupt, trabend wie ein Zirkuspferd, kommt er näher. Jetzt sind es nur noch 70 Schritt. Ich habe ihn im Absehen, aber spitz von vorn will ich immer noch nicht schießen. Ich halte mich im Zaum und bin erstaunlich ruhig. Die richtige Taktik, denn als der Bock kaum mehr als 60 Meter entfernt ist, steht er plötzlich wannenbreit im kurzen Gras. Die Auflage ist perfekt, und als der Zielstachel auf dem Blatt steht, schicke ich das 7?x?57-Teilmantelgeschoss auf die Reise.
Nein. Sie werden nie verblassen, die Details dieser Sekunden, sicher nicht im Nebel der Erinnerung verschwinden: Nach dem Schuss scheinen die Läufe des Schwarzen den Boden nicht mehr zu berühren. Unglaublich schnell schießt er förmlich in die nahe Dickung. Gleich darauf höre ich lautes Knacken und bin sicher, dass er zusammengebrochen...