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Valery Tscheplanowa, Sie kommen gerade aus Salzburg, wo Sie bei den Festspielen im diesjährigen Jedermann die Buhlschaft spielen. Hugo von Hofmannsthal sagte vor einhundert Jahren über diese Stadt: Das mittlere Europa habe keinen schöneren Raum. Der ewige Salzburg-Hasser Thomas Bernhard hingegen sprach von einer perfiden Fassade, derer man so schnell wie möglich entfliehen solle. Steht Ihr Fluchtauto auch schon bereit?
Beides trifft zu! Ich empfinde die Stadt aber als sehr angenehm. Die Leute haben, vor allem, was den Jedermann betrifft, teils ein enormes Wissen .
. und können wahrscheinlich die ganze Rezeptionsgeschichte herunterbeten.
Oh ja! Letztens nahm ich zwei Zuschauer in meinem Taxi mit, die standen da so am Straßenrand herum. Der Mann erzählte, dass man früher die Buhlschaft nach der Qualität ihres Schreis beurteilt habe. Anders als in unserer Stückfassung gab es damals noch keinen dritten Auftritt für die Buhlschaft, keine Szene, in der sie sich, kurz bevor der Jedermann stirbt, von ihm verabschiedet. Daher habe sie, wenn der Tod kam, einfach nur geschrien. Und dieser Schrei war das Wichtigste.
Das ist interessant. Denn tatsächlich ist das Erste, wenn ich an Valery Tscheplanowa auf der Bühne denke, ihr Schrei. Als Zuschauer der Hamletmaschine von Heiner Müller, Ihrer ersten großen Arbeit am Deutschen Theater Berlin 2007 in der Regie von Dimiter Gotscheff, wurde man von Ihrem Schlussschrei als Ophelia, "Im Namen der Opfer!", förmlich vom Sitzplatz gefegt. Ein Jahr zuvor hatten Sie mit Gotscheff Die Perser geprobt, eine Inszenierung, in der Sie letztlich nicht mitspielten. Mark Lammert, der für diese Produktion die berühmte gelbe Wand geschaffen hatte, berichtete 2018 in seiner Laudatio zur Verleihung des Ulrich-Wildgruber-Preises an Sie, dass die Proben mit Ihnen größtenteils aus zwei Elementen bestanden: einem "elfenhaften Drehen der Wand" und einem "wesenhaften Schreien".
Ja! Das war der Anfang!
Wie entdeckt man diesen Schrei? Diesen eigenen Ton? Sicherlich nicht auf der Schauspielschule.
Ich habe mal eine Kritik über Edith Clever gelesen, in der stand, sie habe ein Antlitz und einen Schrei. Diese Beschreibung hat mich so getroffen! Ich dachte: Ja, das ist es! Man muss als Schauspieler ein Antlitz und einen Schrei haben. Diesen Schrei zu finden, ist für mich wie das Zentrum des Bühnendaseins. Es gibt eine lustige Geschichte aus der Schauspielschule. Ich spielte Anna Petrowna aus Iwanow und sollte in einer Szene jemanden rufen. Einer meiner Dozenten sagte: "Du rufst so, dass man mitschreien will." Angeblich ist er hinterher in seinen Schuppen gegangen und hat es ausprobiert.
Den Schrei?
Ja! (lacht) Also so zu schreien, dass es einen mit dem Schrei wegträgt.
Nachdem ich mit den beiden Zuschauern in Salzburg im Taxi gesessen hatte, dachte ich: Komisch, warum ist der Schrei weg? Ich würde gerne mal recherchieren, wer zuletzt geschrien hat.
Und was bedeutet Antlitz?
Auf jeden Fall nicht bloß ein Gesicht. Es ist eher das Wesen, das einem innewohnt. Und das auch nicht damit beschrieben ist, dass ich eine Frau bin, dass ich 39 Jahre alt bin, dass ich aus Russland stamme. Der Schrei wiederum hat für mich auch damit zu tun, noch zu wissen, wie man als Kind geschrien hat.
Valery Tscheplanowa und Tobias Moretti in Jedermann, Regie: Michael Sturminger, Salzburger Festspiele 2019
Er hat etwas Ursprüngliches.
Genau. Es gibt ein Schreien, das einen nicht heiser macht.
Das ist aber Technik.
Nicht nur. Es ist eine Art von Zustand. Denn das Kind schreit aus einem Gefühl des Vertrauens heraus. Und zwar zur Mutter, zur Welt, zum eigenen Körper. Wenn es mir gelingt, so zu schreien, ist das etwas sehr Angenehmes, ich glaube, auch für den Zuschauer.
Wobei es auch den Angstschrei gibt. Etwa wenn einem, wie im Jedermann, der Tod begegnet. Auch den Schrei der Empörung, den Verzweiflungsschrei. Ein Kind schreit aus einer Not heraus, weil es sich noch nicht anders artikulieren kann.
Ja, der Ort, von dem der Schrei kommt, ist für mich entscheidend. Ich glaube, wer den Schrei in sich findet, hat auch den Zugang, um emotionale Räume zu gestalten. Viele Stücke handeln von Zuständen, von Sackgassen oder von Figuren, die in Not geraten. Diese Not zu beschreiben, erfordert in der Regel viel Sprache - und die will geführt sein, will zum Klingen gebracht sein. In der Suche nach einem Schrei liegt der Ursprung, diesen ausdeklinieren zu können, davon erzählen zu können.
Eine Art Kristallisationspunkt für alles.
Genau. Und Djadja Mitja, also Onkel Mitja - so nannte ich Dimiter Gotscheff -, suchte diesen Schrei von Anfang an. Er ließ mich wochenlang nur schreien. (lacht) Daraus entstand später Die Hamletmaschine.
Gotscheff soll gesagt haben: "Ein Ton ist wichtig in unser Gewässer Raum". Mir kam es zunächst seltsam vor, ein Gespräch über ein Schauspielerleben mit einem Stück zu beginnen, das wie der Jedermann von den letzten Dingen handelt. Aber für Sie ist es möglicherweise gar nicht seltsam.
Ja, das stimmt.
Denn das steckt für mich auch in diesem Schrei: Ich habe das Gefühl, da steht jemand auf der Bühne, der über ein größeres Weltwissen verfügt als andere.
Was für ein Wort! Weltwissen!
Ja, ein Wissen um das Leben und eben auch um den Tod. Für mich hat Ihre Präsenz auf der Bühne - und das mag an einer Erfahrung liegen, die ich selbst einmal in Sibirien gemacht habe - etwas Schamanisches. Ich will nicht in die Folklore-Kiste greifen, aber könnte dieser Eindruck auch etwas mit der Landschaft zu tun haben, aus der Sie kommen? Sie sind in Kasan geboren, Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan in Russland.
Das ist wirklich verrückt, dass wir hier anfangen. Ich habe in Vorbereitung auf dieses Gespräch festgestellt, dass ich eine Menge steiler Thesen habe, und gedacht: Jetzt mal langsam. Wo verorte ich den Ursprung meiner Gedankenwelt? Hatte ich erzählt, dass ich jetzt zum ersten Mal bei einem Schamanen war?
Nein!
Tatsächlich. Seit zehn Jahren habe ich davon geträumt. Und diesen Winter sagte einer meiner Freunde, ein sechzigjähriger Professor, plötzlich: "Komm, wir machen eine Spritztour in die Wälder!" Ich fragte ihn, wohin es denn gehe. Und er sagte: "Zum Schamanen!" Ich bin auf dieser Fahrt für zweieinhalb Stunden eingeschlafen vor Aufregung. Es hätte ja auch sein können, dass es ganz doof wird und gar nicht das, was ich mir erhoffte. Und dann kamen wir an. Es waren Minus 25 Grad, in der Nähe gab es eine heiße Quelle.
Die Praxis des Schamanen in der Nähe von Marijnka
Wo war das genau?
In der Nähe von Marijnka, das ist dreieinhalb Stunden von Kasan entfernt. Diesen Ort kennen nur diejenigen, die den Schamanen kennen und einen Termin haben. Wobei es nie klar ist, ob er einen dann auch empfängt. Uns hat ein Chemiker mitgenommen, der ihn seit Jahren aufsucht, weil er beruflich mit giftigen Chemikalien arbeiten muss. Als wir in diesen Wald kamen . Moment! Ich zeige Ihnen ein Bild! Sie müssen sehen, wie es dort aussieht. (zeigt ein Foto auf ihrem Handy) Dort ist die heiße Quelle und hier ein kleines Häuschen.
Das sieht gar nicht nach Wohnhaus aus.
Das ist auch kein Wohnhaus, das ist seine Praxis. Mitten im Wald. Er wohnt irgendwo anders. Ich zeige Ihnen auch ein Bild von ihm.
(Auf dem Foto ist ein Mann mit halblangen schwarzen Haaren und schwarzer Lederjacke zu sehen.)
Der sieht ja aus wie ein Rockstar!
Als wir ankamen, lachte es uns aus diesem Häuschen entgegen. Plötzlich kam er herausgerannt und bremste direkt vor meinem Gesicht. "Wer bist du?", fragte er. Ich sagte: "Vica." Das ist mein Spitzname. Er sagte: "Okay. Du kannst gleich rein." Alle anderen mussten draußen bleiben. Er ließ mich eineinhalb Stunden in diesem Häuschen sitzen, während er nach und nach die anderen hereinholte, um sie zu behandeln. Er hat mir sozusagen gezeigt, wie er arbeitet. Dann war ich an der Reihe.
Wie läuft eine Behandlung bei ihm ab?
Er führt ganz praktische Dinge durch und Dinge, die nicht erklärbar sind. Praktische Dinge sind: Er gibt einem Ameisensäure zu schnupfen, sodass einem die Plörre aus allen Öffnungen schießt, Augen, Nase, Ohren, das pustet alles frei .
. als Reinigung .
Ja. Danach gibt er...
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