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Liebe Frau Blauensteiner, unser diesjähriger Urlaub bei Ihnen war so schön, dass wir - gestern erst nach Stuttgart zurückgekehrt - bereits wieder Heimweh nach den traumhaften Tiroler Bergen haben! Deshalb (und da wir wissen, wie schnell die entzückenden zehn Zimmer Ihrer Pension ausgebucht sind) wollen mein Mann und ich für dieses Jahr in den ersten drei Juliwochen »unser« Zimmer »Glücksgefühl« reservieren. Übrigens, dass eine so umwerfend hübsche und sympathische Frau wie Sie Single ist, kann ich nicht länger hinnehmen! Ich werde alle verfügbaren attraktiven Männer in meiner Bekanntschaft durchgehen und nach Kirchberg in Tirol schicken! Machen Sie sich auf etwas gefasst!
Herzliche Grüße
Ihre treuen Gäste und Wahl-Tiroler Bernd und Grit Jakobs
Huch, bei so viel Überschwänglichkeit wurde einem ja ganz schwindelig! Als Rosa bei den letzten Sätzen der E-Mail angelangt war, konnte sie nicht anders, als laut loszuprusten. Vom gegenüberliegenden Schreibtisch streckte Kathi ihren Kopf mit dem schicken kupferroten Kurzhaarschnitt hinterm Bildschirm hervor. »Was gibt's denn bei dir Lustiges, das dich so zum Lachen bringt?«
Ihr breites Grinsen ließ kaum einen Zweifel daran, dass sie für eine kleine Abwechslung äußerst dankbar war. Bereits seit einer Stunde mühte sie sich durch die aktuelle Buchhaltung von Rosas Ferienpension, kam bis jetzt aber auch nicht so richtig weiter. Einigermaßen seltsam das Ganze . »Irgendwas stimmt nicht mit der Abrechnung«, hatte ihr die alte Schulfreundin zwei Tage zuvor bei einer Tasse Kaffee erzählt. Rosa hatte nicht den blassesten Schimmer, warum sich eine Summe von fast zweitausend Euro scheinbar in Luft aufgelöst hatte.
»Ich schau's mir an«, hatte sie, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, erwidert.
Dafür war ihr Rosa mehr als dankbar. Nun ja, im Grunde war es ihr auch total unangenehm, denn Kathi ließ sich dafür keinen Cent zahlen, höchstens mit frischem Strudel belohnen. Als Besitzerin eines gut besuchten Friseursalons im Nachbarort Kitzbühel hatte sie an ihrem freien Montag bestimmt weitaus Besseres zu tun, als vor der Abrechnung der »Willkommen im Glück«-Pension zu versauern. Aber das war eben Kathi, wie sie leibte und lebte: Wenn sie von etwas überzeugt war, ließ sich die zarte Powerfrau nur sehr selten davon abbringen. »Du weißt ja, ich kann nicht nur gut mit Haaren, sondern auch ganz passabel mit Zahlen - und außerdem krieg ich bei dir den besten Apfelstrudel von ganz Tirol«, war ihr abschließender Kommentar dazu gewesen.
Der im Übrigen keinen Widerspruch duldete.
Jetzt schaute sie ihre Freundin wissbegierig an, musste aber warten, bis die sich einigermaßen beruhigt hatte. »Die Leute machen sich einfach ganz schön viele Gedanken um meinen - wie sagt man heute so schön - >Beziehungsstatus< .«, erklärte die schließlich.
Beim letzten Wort malte sie grinsend Gänsefüßchen in die Luft. Die andere verzog fast enttäuscht den Mund. »Geht's auch ein bisserl genauer?«
Rosa nickte und las die nett gemeinte »Drohung« von Grit Jakobs laut vor. »Oh . na, dann mach dich mal auf was gefasst!«, lachte Kathi derartig schallend, dass ihre kupferroten Fransen geradezu vibrierten.
»Ist dann wohl bald endgültig vorbei mit deinem ruhigen Mauerblümchendasein .«
Und mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: »Vielleicht schafft diese Frau Jakobs das schier Unmögliche und holt dich mit einem feschen Prinzen raus aus dem Dornröschenschloss . hinter der dichten, dichten Dornenhecke . mir ist das ja bis jetzt nicht gelungen.«
Die andere verdrehte ihre großen braunen Augen. Jetzt kam das schon wieder! Kathi, die seit fast sechs Jahren mit ihrem Johann in einer zwar turbulenten, aber nichtsdestotrotz, davon war sie fest überzeugt, ausnehmend glücklichen Beziehung lebte, konnte einfach nicht begreifen, dass ihre Freundin auch alleine recht zufrieden war. Insgeheim vermutete Rosa sogar, dass sie in ihrem Kitzbüheler Friseursalon heimlich eine Liste führte, welcher Kunde für ihre Single-Freundin in Betracht kam - vielleicht sogar mit Sternchen-Bewertung wie bei den Hotels, das wäre ihr durchaus zuzutrauen. Und wofür Kathi die meisten Sternchen vergab, wollte sie gar nicht wissen . Wäre sie jetzt Frau Jakobs, hätte sie hinter diesem Gedanken bestimmt mindestens ein Smiley platziert. Apropos Frau Jakobs: Die resolute Stuttgarterin war höchstwahrscheinlich die leidenschaftlichste Kupplerin, aber beileibe nicht die einzige. Auch andere Feriengäste, Freunde und Bekannte wollten genau den »Richtigen« für Rosa an der Angel haben. Es war zum Verzweifeln - oder einfach nur zum Totlachen. Tja, augenscheinlich gab sie ein ziemlich jämmerliches Bild vor ihren Mitmenschen ab, da brauchte sie sich gar nichts vorzumachen. Dabei hatte sie sich bereits seit einiger Zeit heimlich geschworen: Noch ein einziges arrangiertes Date von irgendwem, und sie würde mindestens einen mittleren Schreikrampf kriegen! »Brauchst dir keine Sorgen um mich machen. Irgendwann lerne ich bestimmt jemanden kennen, bei dem's >Zoom< macht - so wie in >Tausendmal berührt< oder wie das Lied auch immer heißen mag«, erklärte sie jetzt bemüht locker und vertiefte sich scheinbar wieder in ihre E-Mails. »Passt ja für dich wie die Faust aufs Auge«, ließ sich Kathi jetzt vom anderen Schreibtisch halblaut vernehmen.
Unwillkürlich musste sie schlucken. Mist, sie war ja selbst schuld, dass sie ausgerechnet mit diesem Lied dahergekommen war . geradezu eine Einladung an Kathi, um auf Rosas äußerst peinliche Verliebtheit in Christian anzuspielen, den sie beide seit der Schulzeit kannten. Die Unmengen von kitschigen Herzchen, die in ihren Augen jahrelang wie betrunken auf und ab getanzt hatten, waren ja für jeden offensichtlich. Und absolut jämmerlich, wie sie sich nun selbst eingestehen musste. Obwohl sie sich dagegen wehrte, schob sich wieder einmal das Bild des großen, schlaksigen Mannes vor ihr inneres Auge. Warum nur, warum, stöhnte sie innerlich auf. Langsam reichte es wirklich! Aber nein, da war er! Dunkelblond, mit dem charakteristischen Wirbel über der Stirn, wodurch seine Haare immer ein wenig widerspenstig wirkten, sah sie den Gynäkologen aus Kitzbühel vor sich stehen. Mit dummerweise wahnsinnig schönen grüngrauen Augen und diesem ehrlichen und doch so verheißungsvollen Lächeln, das wie auf Knopfdruck Gänsehaut auf ihre Arme zauberte. »Für immer und ewig bleiben wir die besten Freunde der Welt«, hatte er als Sechzehnjähriger zu ihr gesagt, wie sie nebeneinander auf einer Kitzbüheler Alm im Gras gesessen hatten.
Und sie? Sie hatte eifrig genickt, wie so ein belämmerter Wackeldackel, obwohl sie doch schon damals längst bis über beide Ohren in den feschen Burschen verknallt gewesen war. Danach hatte er sie ganz seltsam angeschaut, während sie mit eher bescheidenem Erfolg versucht hatte, die rasant aufsteigenden Tränen wegzublinzeln. »Die Sonne blendet total stark«, hatte sie schließlich hektisch erklärt und war aufgesprungen. Danach hatte sie sich besser im Griff gehabt, jahrelang nichts anderes behauptet, als dass sie in ihm wirklich nur einen guten Kumpel sah. Also offiziell rein gar nix mit »Zoom gemacht« . Sogar Kathi, vor der sie sonst keine Geheimnisse hatte, wollte sie nichts von ihren Gefühlen erzählen. Und insgeheim - wie dusselig war das denn? - hatte sie nichtsdestoweniger immer auf ein Zeichen von Christian gewartet. Auch als er in München Medizin studiert hatte. Und dann - trara! - als er im letzten Jahr nach Kitzbühel zurückgekommen war, hatte dieses Zeichen direkt vor ihrer Nase auf endlos langen Giraffenbeinen gestanden: In Gestalt von Ines, Christians ehemaliger Studienkollegin und aktueller Lebensgefährtin, die sich nun im Krankenhaus von Kitzbühel zur Kinderärztin ausbilden ließ. »Es war nur eine dumme, kleine Schwärmerei«, hatte sich Rosa bestimmt tausendmal wie ein Mantra im Stillen vorgebetet.
Und es irgendwann sogar selbst ein wenig geglaubt. Ja, sie konnte eigentlich recht zufrieden sein, denn mit jedem Tag tat es ein bisschen weniger weh. Kleine Rückschritte gab es nur, wenn Christian ihr begegnete. Der hatte ja zum Glück immer noch keine Ahnung, streute ihr so aber auch unwissentlich bei jeder seiner innigen Umarmungen so richtig schön Salz in die Wunden. Und danach spürte sie immer einen seltsamen Druck auf der Brust, der sich erst nach Stunden verflüchtigte. Kein Wunder, dass sie ihrem »Kumpel« inzwischen so weit wie möglich aus dem Weg ging. Und dass er, wenn sie ihm wieder mal absagte, darüber ziemlich niedergeschlagen zu sein schien, das war ausnahmsweise einmal nicht ihr Problem.
Sie atmete tief durch, spürte verärgert, wie sich ihr Puls gehörig beschleunigt hatte. Auch jetzt, obwohl sie die Sache mit Christian endlich überwunden hatte, tat es ihr nicht gut, an ihn zu denken. Schnell schaute sie aus dem geöffneten Fenster, atmete einige Male tief durch, konzentrierte sich auf den Ausblick . ja, viel, viel besser. Immer wieder herrlich war es für sie, ihre idyllische Heimat zu betrachten, die Berge und Almen, die einfach wunderschön, geradezu wie eine Postkartenidylle aussahen. Und wieder mal freute sie sich darüber, was für einen fantastischen Ausblick sie von ihrem Bürofenster im ersten Stock hatte. Die kleine Pfarrkirche mit dem schlanken, hohen Kirchturm vor ihr, dahinter der Gaisberg mit seinen jetzt im Mai besonders frischen grünen Wiesen. Und darüber thronte eine strahlende Sonne am nahezu wolkenlosen blauen Himmel. Nach den letzten Regentagen meinte sie es nun endlich gut mit den Urlaubern, die zum Wandern nach Tirol gekommen waren und bereits ein wenig...