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Mit raschen Schritten, den Kopf leicht eingezogen, überquerte Sophie Möller den Münchner Viktualienmarkt. Dabei merkte sie kaum, dass ihr durch den immer stärker werdenden Regen bereits das Wasser von der Nasenspitze tropfte. Normalerweise hätte sie sich darüber amüsiert, wie eben noch die Sonne frühsommerlich warm geschienen hatte und es jetzt, keine zwei Minuten später, vom dicht bewölkten Himmel goss. Wie hatte sie vorhin mit den Kindern aus ihrer Wichtelgruppe gesungen: »April, April, der weiß nicht, was er will .« Total niedlich hatten auch die Kleinsten mit Begeisterung mitgekräht. Doch daran dachte sie jetzt nicht. Auch die vielen Stände auf dem Markt, an denen äußerst dekorativ Obst, Gemüse und Käse ausgelegt waren, würdigte sie mit keinem einzigen Blick. Nicht mal eine duftende Brezn vom Bäckerstand konnte sie heute aufhalten, sie wollte einfach nur nach Hause. Schnell huschte sie mit aufgestelltem Mantelkragen weiter, entgegenkommenden Fußgängern ängstlich ausweichend. Diese Hektik entsprach eigentlich gar nicht ihrer Art - gerade sie, die es doch immer so geliebt hatte, gemütlich über den Markt zu schlendern und Leckereien fürs Abendessen zu besorgen. Wie aus einem früheren Leben kam ihr nun diese Zeit vor, in der sie sich unbeschwert und frei gefühlt hatte. War diese fröhliche Frau, die oft und herzhaft gelacht hatte, so, dass andere meist auch nicht umhin konnten, als einfach mitzulachen, tatsächlich sie selbst gewesen? Kaum zu glauben . Mit einer fahrigen Bewegung schob sie sich eine lange hellblonde Strähne hinters Ohr, die vollen Lippen fast zu einem Strich zusammengepresst. Oh, sie keuchte ja wie eine alte Dampflok, nur noch stoßweise ging ihr Atem. Fast so, als ob sie einen immens hohen Berg erklimmen würde. So stellte sie, die das letzte Mal in ihrer Kindheit wandern war, sich das zumindest vor. Ja, sie würde tatsächlich lieber jeden Gipfel stürmen, als noch länger diese Angst auszustehen. Eine Panik, die langsam ihren Rücken hochkroch, um dann wie mit eiserner Riesenfaust ihren Brustkorb zusammenzudrücken. Auch jetzt, obwohl doch längst alles gut sein sollte . Doch die Furcht, dass Sven heimlich hinter ihr herlief, jede Bewegung, jede Mimik von ihr beobachtete, ließ sie einfach nicht los. Vielleicht sah er ja gerade in diesem Augenblick, wie sie sich mit der Hand über die Augen fuhr, den Tränen nahe.
»Ihr Exfreund Sven Hohlbaum darf Ihnen nicht näher kommen als bis auf fünfzig Meter«, hatte ihr drei Wochen zuvor ein Kriminalbeamter versichert. »Wir haben ihn aufgeklärt, dass er, falls er mit seinem bisherigen Verhalten weitermacht, eine längere Gefängnisstrafe riskiert.« Der freundlich wirkende Endvierziger mit dem kleinen Bauchansatz hatte Sophie aufmunternd den Arm getätschelt. »Glauben Sie mir, heutzutage nimmt man Stalking nicht mehr auf die leichte Schulter .«
»Wie? .«, stammelte Sophie. »Was er bis jetzt getan hat, wird nicht bestraft?«
Mit ihren großen hellblauen Augen starrte sie den Polizisten entgeistert an. Dabei musste sie wieder und wieder an die schrecklichen Situationen denken, in denen Sven sie bedrängt und beschimpft hatte. Einmal war es besonders schlimm gewesen: Unten in ihrem Hausflur hatte er ihr aufgelauert, sie dann mit seinem Körpergewicht an die Wand gepresst. Eine Hand an ihrem Hals, während die andere ihre verzweifelt rudernden Arme herunterzudrücken versucht hatte. »Merk dir das, Fräulein«, waren seine Worte fast zärtlich an ihr Ohr gedrungen, was die Situation noch gespenstischer gemacht hatte. »Einen Sven Hohlbaum verlässt man nicht, das ist absolut keine gute Idee, die für dich nur schlecht ausgehen kann .«
Danach irres Gelächter, das sie auch auf dem Polizeirevier noch zu hören glaubte. So laut, dass sie die letzten Worte des Polizisten zuerst gar nicht richtig wahrnehmen konnte. »Entschuldigung, was haben Sie bitte gesagt?«
»Die Anzeige gegen Ihren Exfreund läuft, aber da im Moment keine Gefahr im Verzug ist, kann er nicht festgehalten werden, so einfach geht's dann leider auch nicht .« Danach wieder ein offenbar mitfühlend gemeintes Tätscheln, das ihr jedoch mittlerweile gehörig auf die Nerven ging. »Glauben Sie mir, Kindchen, Hohlbaum war sehr einsichtig. Als ihm klar geworden ist, was für einen Schrecken er ihnen eingejagt hat, sind ihm die Tränen gekommen.«
Sophie holte tief Luft. Einen Schrecken eingejagt! So, als ob er mal im Spiel hinter einem Baum hervorgesprungen wäre und übermütig »Buh!« geschrien hätte.
Jetzt blinzelte sie wie verrückt, versuchte die aufsteigenden Tränen herunterzuschlucken. Falls Sven tatsächlich hier irgendwo in der Nähe war, sollte er sie nicht auch noch heulen sehen - und sich darüber scheckig lachen. Sie konnte sich wirklich lebhaft vorstellen, wie ihr Exfreund auf der Polizeiwache den reumütigen, unglücklich verliebten Mann markiert hatte. Einen von der Sorte, der einfach ein bisschen länger braucht, um zu verstehen, dass die Frau, die er doch so abgöttisch liebt, ihn tatsächlich in die Wüste geschickt hat . Dass hinter der Maske des zerknirschten Häufchen Elends ein gefährlicher Psychopath steckte, war den Polizeibeamten offenbar verborgen geblieben. Nur sie hörte sie wohl ticken - diese Zeitbombe, von der man nicht wusste, wann sie hochging. Und dennoch, vielleicht hatte sie sich vorhin beim Verlassen des Kindergartens ja wirklich eingebildet, ihn an der Straßenecke zu sehen. Den großen schlaksigen Mann mit den hellbraunen Haaren, ein bisschen lang im Nacken, aber ihm stand das. In seiner typischen lässigen Körperhaltung an einen Fahrradständer gelehnt. Dabei den leichten Anflug eines Grinsens im Gesicht . »He, das kannst du doch auf die Entfernung gar nicht erkannt haben!«, redete sie sich selbst ins Gewissen.
Ganz bestimmt musste es sich um einen Fremden gehandelt haben. Nachdem sie jedenfalls einige Male panisch nach Luft geschnappt und sich dabei hilfesuchend nach einer Kollegin umgesehen hatte, war dort nur noch der Fahrradständer gewesen - und der Mann einfach verschwunden . Vermutlich sah sie wirklich schon Gespenster .
In der nächsten Sekunde, gerade nachdem sie sich ein wenig entspannt hatte, spürte sie eine schwere Hand auf der Schulter. »Jetzt ist es soweit«, durchfuhr es sie, während ihr Herzschlag aussetzte. Zumindest kam ihr das so vor. »Renn weg! So schnell, du kannst!«, befahl eine innere Stimme.
Ja, das allein wäre die richtige Reaktion gewesen. Doch was tat sie? Wie ein Kaninchen in der Falle, unfähig zur Flucht sich nur noch tot stellend, verharrte sie.
»Sophie .«, hörte sie hinter sich eine männliche Stimme, die gleichzeitig fragend und auch ein wenig verwirrt klang.
Langsam drehte sie sich um, versuchte sogar ein Lächeln, als sie Johannes Reichelt, den Vater der kleinen Hanna aus ihrer Wichtelgruppe, vor sich stehen sah. Ein gut aussehender mittelgroßer Mann im dunklen Anzug, der fast ein bisschen wirkte, als sei er eine Figur aus dem US-Film Wall Street mit Michael Douglas und just der Leinwand entstiegen. Dabei war Reichelt weder Schauspieler noch Banker, sondern Lebensmittelchemiker. Ob er wohl den Felsbrocken gehört hatte, der gerade von ihrer Brust gekullert war? »Hallo .«, murmelte sie, noch immer um ein Lächeln bemüht, das nicht so richtig gelingen wollte.
Johannes Reichelt sah sie besorgt an. »Jetzt habe ich Sie wohl erschreckt, tut mir leid.«
»Alles gut, ich war nur völlig in Gedanken versunken .«
Okay, das hatte zumindest schon mal recht locker geklungen. Einfach entspannen und nicht mehr an Sven denken, der in ihrem Leben keine Rolle mehr spielte.
»Ich habe Sie zufällig gesehen und wollte mich noch mal bei Ihnen bedanken. Echt entzückend, wie besonders lieb Sie gestern zu unserer Hanna waren, als die Kleine im Kindergarten Fieber bekommen hat.« Er warf ihr einen warmherzigen Blick zu. »Meine Frau hat es mir erzählt .«
»Danke .« Sie war ehrlich gerührt. Natürlich erachtete sie es als selbstverständlich, sich fürsorglich um »ihre Wichtel« zu kümmern, aber es gefiel ihr auch sehr, wenn ihre Arbeit anerkannt wurde. Denn direktes Lob erntete man bei den doch recht anspruchsvollen Eltern, die ihre Kinder in den kleinen Privatkindergarten schickten, nicht allzu häufig. »Keine Ursache, ich hatte gestern einfach das Gefühl, der Hanna tut es gut, wenn ich ihr in der Kuschelecke ihr Lieblingsmärchen vorlese.«
Als sie Johannes Reichelt nun zuzwinkerte, blitzte ihr sogar der Schalk aus den Augen. »Und Sie können mir glauben, beim >Schneewittchen< macht mir jetzt niemand mehr so leicht etwas vor.«
»Glaube ich Ihnen! Bei mir ist es aber auch nicht anders .« Johannes Reichelt lachte laut auf, wirkte nun gar nicht mehr wie ein kühler Banker von der New Yorker Wall Street, sondern fast jungenhaft. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie er daheim hingebungsvoll mit Hanna und ihren Puppen spielte. Oder - Hannas neuestes Lieblingsspiel - sich von ihr als Ärztin unzählige Male die Lunge abhören und die Hand verbinden ließ. Oh, hoffentlich hatte sie ihn jetzt nicht zu lange angestarrt.
»Geht es Hanna wieder besser?«, fragte sie rasch, einigermaßen verärgert darüber, dass ihr diese Frage nicht gleich zu Beginn ihrer Begegnung eingefallen war. Offenbar hatte ihre Angst nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Gehirn gelähmt.
»Ja, nur noch ein bisschen erhöhte Temperatur, morgen bleibt sie noch zu Hause, auch wenn sie unbedingt zu >ihrer Sophie< will.«
Verlegen verzog die Kindergärtnerin das Gesicht. Ein wenig Lob tat ja gut, jedoch allzu viel Honig ums Maul geschmiert zu bekommen, da wurde es zunehmend...