DOMESTIKATION
Bevor wir uns der Frage nähern, worin die Motivation zur Domestikation des Wolfes bestanden haben mag, sollten noch einige Unklarheiten ausgeräumt werden, die häufig den Begriff "Domestikation" begleiten.
VOM WOLF ZUM HUND
Der Vorgang der Domestikation ist eine Einbahnstraße, also nicht umkehrbar! Am Anfang steht eine wie auch immer geartete Annährung zwischen Mensch und Tier. Der Mensch übernimmt das Tier in seinen Hausstand und er bestimmt dessen Fortpflanzungsgeschehen, wobei es vor allem darauf ankommt, neuerliche Verpaarungen mit Wildtieren zu vermeiden.
Der langwierige Vorgang der Domestikation hat zwangsläufig Veränderungen bezüglich der genetischen Information des domestizierten Tieres zur Folge. Störende oder im Hausstand nicht notwendige Gene können mutieren und die nun neue Erbinformation an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden. Die ursprüngliche Merkmalsausprägung wird also durch andere, für die neue Lebensführung nützliche Merkmale ersetzt. Hält diese Entwicklung lange genug an, so ist eine Umkehr ausgeschlossen, weil bestimmte genetische Informationen nicht mehr vorhanden sind. In der Regel ist diese Umkehr aber auch nicht erstrebenswert, denn das Domestikationsgeschehen hat ja gerade die Eigenschaften gefördert, die für das Zusammenleben von Mensch und Tier von Nutzen sind.
Beim Wildtier ist es die natürliche Selektion, die zur perfekten Anpassung an die Umwelt führt, beim Haustier ist es der Mensch mit seinen Zuchtzielen.
SIND VERÄNDERTE GENE NACHTEILIG?
Mutationen, also nachhaltige Veränderungen von Genen in einem funktionierenden Organismus, sind in den weitaus meisten Fällen nachteilig. Das überrascht nicht, denn wenn sich in einem optimierten System zufällig etwas ändert, dann wird dies in den meisten Fällen von Nachteil sein. Vergleichen wir den Organismus mit einem Gedicht: Wenn in einem Gedicht zufällig ein Buchstabe verändert wird, dann ist es auch eher unwahrscheinlich, dass das Gedicht dadurch schöner wird.
Dennoch gibt es Mutationen, die für das Individuum von Vorteil sind. Ohne sie wäre jede Evolution, aber auch jede Domestikation undenkbar. Auch für den langen Weg vom Wolf zum Hund waren genetische Veränderungen grundlegende Voraussetzungen für den Erfolg. Sowohl anatomische Merkmale als auch solche, die das Verhalten betrafen, mussten sich ändern. So braucht der Wolf zum Überleben Zurückhaltung und eine gesunde Portion Ängstlichkeit. Der Hund braucht dagegen Zutrauen und Bindungsfähigkeit an den Menschen. Gleiches gilt auch für anatomische Merkmale, die dem jeweiligen Verwendungszweck angepasst werden mussten. Hierzu zählen die Kurzbeinigkeit als Eignung für die Baujagd, andererseits die Hochbeinigkeit der mit den Augen jagenden Windhunde oder die Stämmigkeit der Zughunde.
Hieraus aber abzuleiten, dass die Veränderung vom Wildtier zum Haustier eine Veränderung von "gesund" zu "schwächelnd" sei, ist falsch. Haustiere sind keine Mängeltiere, sie sind nur anders als die Wildform. Aber "anders sein" ist kein Synonym für "schlechter sein". Objekte der Biologie verändern sich stetig mit dem Ziel der Anpassung.
Die menschlichen Zuchtziele sind entweder auf die Nützlichkeit unserer Bedürfnisse ausgerichtet oder sie führen zur Befriedigung unserer Kreativität. Das muss für das Haustier keineswegs von Schaden sein. Eine Grenze wird erst dann überschritten, wenn das gesunde Augenmaß für ein tiergerechtes Leben verloren geht.
Domestikation hat also keine zwangsläufigen Nachteile zur Folge. Ganz im Gegenteil, sie verändert im Sinne einer Anpassung an das neue Umfeld mit neuen Aufgaben.
KÜNSTLICHE ZUCHTWAHL
Das Instrument der Domestikation ist die künstliche Zuchtwahl. Der Mensch unterbricht die evolutionäre Entwicklung des Tieres und ersetzt sie durch Fortpflanzung nach seinen Regeln, die vor allem eine Steigerung der Nutzbarkeit zum Ziel haben.
Häufig verschwindet im Sprachgebrauch der Unterschied zwischen Domestikation und Zähmung. Die Zähmung bezieht sich auf ein Individuum, die Domestikation dagegen auf die gesamte Art. Das verwaiste Rehkitz, das der Mensch aufzieht, wird gezähmt. Es verliert seine Scheu und wird anhänglich. Seine Nachkommen verhalten sich aber so, als hätte die Episode mit dem Menschen nie stattgefunden. Die Domestikation greift dagegen in den genetischen Ablauf ein. Bei entsprechender Zuchtwahl verändern sich die Nachkommen immer mehr dem angestrebten Ziel entgegen.
DOMESTIKATION
Es ist die nachhaltige Veränderung einer Wildform zur Nutzform, wobei der Mensch der Nutznießer ist. Die Domestikation ist wohl das großartigste und bedeutungsvollste biologische Experiment, das sich je abgespielt hat, denn die kulturelle Entwicklung der Menschheit ist ohne Domestikation nicht denkbar.
WARUM WURDEN WILDTIERE DOMESTIZIERT?
Ein offenes Feld für Spekulationen ist die ganz allgemeine Frage nach der Motivation zur Domestikation von Wildtieren. Die Antwort scheint zunächst auf der Hand zu liegen: Die Menschen brauchten Schafe, um an Wolle zu kommen, Kühe sollten Milch liefern, Hühner Eier legen und Hunde sollten bei der Jagd helfen und Haus und Hof bewachen. Diese Erklärungsversuche sind aber nicht richtig, denn hier werden die Anfänge der Domestikation mit ihrem Ergebnis erklärt. Weder besaß der Wildtyp des Schafes einen wolligen Pelz, noch legte der Wildtyp heutiger Hühner mehr Eier, als bebrütet werden konnten. Und gewiss hatte auch der Wolf anfänglich keinerlei Neigung zu gemeinschaftlicher Jagd. Die Motivation zur Domestikation von Tieren, die schließlich zu unseren Haustieren wurden, ist ein ungelöstes Rätsel und sie wird es wahrscheinlich auch bleiben, denn Belege sind nicht zu erwarten. Sicher ist nur, dass die heutige Nutzung der Tiere nicht die Ausgangsposition für ihre Domestikation gewesen sein kann.
Und so bleiben auch die Beweggründe für die Domestikation des Wolfes im Dunkeln. Dass es überhaupt dazu kam, wirkt auf uns umso geheimnisvoller, als wir in Mensch und Wolf Nahrungskonkurrenten sehen müssen, und das führt erfahrungsgemäß nicht zur Annäherung, sondern zu Problemen. Doch dürfte dieser Gedanke keine wirklich entscheidende Rolle gespielt haben, weil der Konkurrenzdruck nur aus heutiger Sicht groß ist. Wahrscheinlich gab es vor Tausenden von Jahren genügend Raum und Nahrung für beide - für Mensch und Wolf.
Auf der Suche nach Erklärungen für die Domestikation hilft die Vorstellung, dass die Wölfe damaliger Zeit sicher anders waren, als sie sich heute darstellen, denn nicht nur der Hund, sondern auch der Wolf hat Jahrtausende für seine Evolution zur Verfügung gehabt. Es ist wahrscheinlich, dass damalige Wölfe bei Weitem nicht so scheu waren, wie dies heute der Fall ist, denn sie wurden nicht bejagt. Durch Selektion konnten sich aus vermutlichen Ausgangstieren zwei Extreme entwickeln: In der freien Wildbahn überlebte nur das besonders vorsichtige Tier, das zum heutigen Wolf führte, und im Haus wurden Nachkommen mit möglichst großer Zutraulichkeit bevorzugt, die dann schließlich unsere Hunde wurden.
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Auch der Wolf hatte Jahrtausende Zeit, sich zu verändern.
ANNÄHERUNG ZWISCHEN MENSCH UND HUND
Für die erste Annäherung zwischen Mensch und Hund kommen wahrscheinlich weniger romantische Begebenheiten infrage, sondern eher banal oder sogar brutal erscheinende Vorgänge. So sieht Herre (1990) den Start der Domestikation des Wolfes in einer Art "Kühlschrankfunktion". Wenn Menschen sehr ergiebige Beute machten, könnten sie das, was sie selbst nicht verzehren konnten, den Wölfen überlassen haben, um diese dann wohlgenährt in nahrungsknapper Zeit zu verspeisen. Auf diesen Gedanken kam Herre durch typische und immer wiederkehrende Kopfverletzungen, die er an Wolfs- bzw. frühen Hundeschädeln fand. Sie sahen wie gezielte Schlagverletzungen aus. Auch der bekannte Wolfsforscher Erik Zimen geht bei der ersten Nutzung des Hundes von einer Abfallbeseitigung aus. Er stützt seine These auf Studien des Zusammenlebens der Turkana, eines afrikanischen Volksstamms, mit ihren Hunden. Dort spielen die Hunde bis zum heutigen Tag eine wichtige Rolle bei der Abfallbeseitigung jedweder Art. Diese Aufgabe erscheint nur uns als Nutznießer komfortabler Mülldeponien banal und zweitrangig. In Zeiten einfacher Lebensformen kann sie aber lebenswichtig gewesen sein.
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Bei vielen Naturvölkern spielen die Hunde auch heute noch eine Rolle bei der Abfallbeseitigung.
SOZIALE KOEVOLUTION
Doch so ganz zufriedenstellend sind diese Erklärungsversuche nicht. Natürlich sind stammesgeschichtliche Vorgänge schwierig nachzuvollziehen, denn es fehlen stets Dokumente oder gar Zeitzeugen. So ist man neben wissenschaftlichen Untersuchungen wie etwa DNA-Analysen vor allem auf Plausibilität angewiesen. Doch genau daran fehlt es im Falle des Hundes. Deshalb erwägen Wissenschaftler in neuerer Zeit immer ernsthafter, die Idee von der Domestikation des Wolfes ganz aufzugeben und die Annäherung beider Arten vielmehr als das Ergebnis einer Koevolution anzusehen.
KOEVOLUTION
Evolutionsbiologen sprechen von einer Koevolution, wenn zwei Arten während eines langen Zeitraumes sehr eng miteinander verknüpft waren und sich aus entstandenen Interaktionen Anpassungen ergeben...