Schweitzer Fachinformationen
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Norderney
»Mein Kind, wo haben wir denn bloß das Blei? Ich kann es nirgends finden.«
Daniela Prinzen ließ den Kochlöffel zurück in die Mitternachtssuppe gleiten, die auf dem Herd köchelte, und drehte sich um.
»Blei?«
»Ach Gottchen, was ist denn mit dir? Da stelle ich eine ganz normale Frage, und du siehst mich an, als hätten mich alle guten Geister verlassen. Nimm die Fäuste wieder aus den Hüften, du machst mir Angst mit deinem grimmigen Gesichtsausdruck. Was habe ich denn Falsches gesagt?«
»Blei.«
»Ja, genau. Nach Blei habe ich gefragt. Ich verstehe nicht, warum du so harsch reagierst.«
»Meine liebe Frau Dirkens.« Daniela stockte und ließ ihre Hände sinken. Ob die alte Dame sich wirklich nicht mehr erinnerte? Sanfter als bisher fuhr sie fort: »Das hat einen guten Grund. Es ist gerade ein paar Wochen her, dass wir über Blei in Heinrich Heines Haaren diskutiert haben, und wo das hingeführt hat, da will ich gar nicht dran denken.«
»Ach herrje. Jetzt, wo du es sagst.« Marthe Dirkens schlug sich die Hand vor den Mund. Aber Daniela sah genau, wie ihre Augen aufblitzten. Und das war der Grund, dass sie sofort Strenge in ihre Stimme legte. »Ich kann nur hoffen, dass Sie uns nicht schon wieder in Situationen bringen, die dramatisch enden könnten.«
»Ich?«, quiekte Frau Dirkens. »Weil ich nach Blei frage? Wo denkst du hin, mein Kind.«
Daniela zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht so sicher, was ich denken soll. Also raus mit der Sprache. Was hat es diesmal mit dem Blei auf sich?«
Marthe Dirkens drückte sich an ihr vorbei. Mit dem Kochlöffel rührte sie in dem großen Topf, während sie sich mit der anderen Hand den aufsteigenden Duft zuwedelte. »Köstlich. Wirklich hervorragend, deine Suppe.«
»Frau Dirkens!«
»Jaja, ist schon gut. Ich verstehe nur nicht, wie du so auf der Leitung stehen kannst, mein Kind. Man könnte meinen, du wirst alt.«
Daniela holte tief Luft. Das war ja wohl die Höhe. Sie war halb so alt wie Frau Dirkens, die auf die 80 zusteuerte und immer mehr Anzeichen von Wunderlichkeit und Vergesslichkeit zeigte. Doch dann hörte Daniela das leise Kichern. Sah die schmalen Schultern zucken, den Kopf beben. Verdammt. Frau Dirkens führte sie mal wieder an der Nase herum und hatte sichtlich Spaß daran.
»Beruhige dich mal, Kind. Nicht, dass ich schon am frühen Morgen etwas zur Stärkung aus dem Giftschrank holen muss.«
Daniela brach in Gelächter aus. »Daher weht der Wind.«
Es war unglaublich. Marthe Dirkens, früh verwitwet, hatte dieses Haus lange Jahre als Pensionswirtin betrieben und es erst vor einiger Zeit auf Daniela und ihren Mann Frank übertragen. Dafür war sie ins Dachgeschoss gezogen, wo sie lebenslanges Wohnrecht genoss, während Daniela aus der etwas altbackenen Unterkunft ein kleines, modernes Hostel gemacht hatte. Wer auch immer mit der alten Dame zu tun hatte, kam unweigerlich in den Genuss ihres »Giftschranks«, in dem sie eine stattliche Sammlung exquisiter Whiskeys verwahrte, mit denen sie ihre täglichen Teezeremonien aufwertete. So jedenfalls würde Marthe es beschreiben.
Zu dumm für sie, dachte Daniela, dass zuletzt die Ärzte den Verzicht auf Alkohol anmahnten. Doch Marthe Dirkens, Liebhaberin des englischen Adels, verwies gerne auf das hohe Alter der Queen und beharrte darauf, dass Elisabeth im Buckingham Palace ähnlichen Gewohnheiten nachginge. Und immer wieder fand sie Gründe, den Giftschrank öffnen zu müssen.
»Der Wind, der Wind, das himmlische Kind«, äffte Frau Dirkens derweil ihre Stimme nach. »Dann eben nicht.«
»Genau. Eben nicht. Bestimmt nicht heute am helllichten Tag. Ich für meinen Teil möchte Mitternacht noch gern erleben.«
»Aha!« Marthe Dirkens streckte den Zeigefinger in die Luft, pustete ihre lilafarbene Strähne im silbrigen Haar aus dem Gesicht und ruckelte an ihrer Brille. »Jetzt sorgst du für kriminelle Fantasien.«
»Was?« Daniela schüttelte den Kopf. »Blödsinn. Sagt man doch so. Raus mit der Sprache. Was ist mit dem Blei?«
»Kindchen, Kindchen, bist du immer noch nicht darauf gekommen? Zähl doch mal zwei und zwei zusammen. Silvester. Mitternachtssuppe. Ekel Alfred im Fernsehen. Na, was fehlt da noch?«
»Der Kandidat hat 100 Punkte. Womit sonst sollen wir denn das Bleigießen machen?«
»Ähm.«
»Was ähm? Weißt wohl auch nicht mehr, wo wir das Blei haben. Ich bin mir sicher, wir haben noch Reste vom letzten Jahr.«
Daniela biss sich auf die Lippen und wandte sich geschäftig der Suppe zu. Bäng. Da war es wieder. Sie hatten damals kein Blei gegossen. Weil es verboten worden war. Und sie hatten eine lange Diskussion darüber mit Frau Dirkens geführt. Bis jemand die Idee mit dem Wachs gehabt hatte. Was so schlecht funktioniert hatte, dass sie alle miteinander beschlossen hatten, die alte Tradition zu begraben. »Wat mutt, dat mutt«, hatte Marthe Dirkens gesagt und einen Whiskey darauf getrunken.
Und nun wusste sie nichts mehr davon. Wie manch anderes nicht. Am Anfang hatte Daniela es für normale Vergesslichkeit gehalten, aber zuletzt hatte sie sich zunehmend gesorgt. Nun gab es Hinweise, dass ganz grundsätzlich etwas nicht stimmte. Sie alle warteten auf Untersuchungen, die Anfang Januar stattfinden sollten. Danielas Augen wurden feucht, als sie daran dachte.
»So schlimm ist das nun auch nicht, dass du nicht weißt, wo du das Blei gelassen hast. Das ist doch keine Träne wert.«
Daniela lächelte. Frau Dirkens vergaß vielleicht vieles, aber sie war eine gute Beobachterin. Sie konnte ihr nur schlecht etwas vormachen. Doch die Wahrheit, die konnte sie ihr nicht sagen. Wenn für Marthe Dirkens Bleigießen zu Silvester dazugehörte, dann war das so. Und das konnte kein Gesetz und keine EU ändern. Auch sie, Daniela, nicht.
»Stimmt, Frau Dirkens«, sagte sie munterer, als ihr zumute war. »Ich habe das Blei bestimmt verbummelt. Wissen Sie was? Sie setzen sich jetzt hier auf den Stuhl, ich koche Ihnen einen Tee und dann laufe ich schnell und besorge noch etwas Blei für heute Abend. Einverstanden?«
Marthe Dirkens strahlte. »Hört sich nach einem guten Plan an. Wenn du mir dazu noch eben den Whiskey aus dem Giftschrank holen könntest? Dann hätte ich nichts mehr zu meckern.«
Daniela seufzte. Whiskey oder Blei? Pest oder Cholera? Im Zweifel wohl beides. Das Leben war kein Ponyhof.
*
»Ich denke an dich.«
»Und ich an dich. Punkt Mitternacht.«
Martin setzte ein gespielt grimmiges Gesicht auf. »Nur dann?«
»Herr Ziegler, ich werde im Dienst sein und mich den Patienten widmen müssen.« Nun war es an Anne, ernst zu bleiben. Aber Martin sah, wie ihre Mundwinkel zuckten.
»Na dann, Frau Wagner«, griff er den Tonfall seiner Lebensgefährtin auf, »auf einen ruhigen Dienst. Vielleicht fällt zwischendurch doch ein kleiner Gedanke an mich ab.«
»Blödmann!« Anne streckte ihm die Zunge raus. »Du weißt doch, dass Silvesternächte immer Überraschungspakete sind. Nur ruhig, das sind sie selten.«
»Wem sagst du das.« Martin seufzte. »Meinen Nachtdienst habe ich mir zwar selbst eingebrockt. Zu wenig Chefqualitäten, würden jetzt manche wieder sagen. Stimmt ja auch. Aber meine Mannschaft hat es gefreut, dass ich bereit war, heute Nacht einzuspringen. Was hätte ich machen sollen? Den Mangel verwalten, bis auch die Letzten aus der Truppe keine Lust mehr haben?«
»Ist doch bei uns das Gleiche. Vor allem beim Pflegepersonal. Ich hoffe, dass wir ausreichend besetzt sind für das, was ihr uns heute Nacht reinspült.«
»Hey, hey, das klingt, als hätten wir Schuld, dass es zum Jahreswechsel bei euch turbulent wird. Aber wir füllen die Menschen weder mit Alkohol ab noch heizen wir Streit und Eifersucht an und erst recht tragen wir keine Schuld an den elendigen Verletzungen durch Feuerwerkskörper.«
»Puh, vor Letzterem graust es mir am meisten. Ich habe das Gefühl, die Leute besorgen sich Jahr für Jahr mehr von diesen illegalen Knallkörpern.« Anne zog ihre Wollmütze über den Kopf. »Für mich wird es jedenfalls Zeit. Ich habe versprochen, rechtzeitig zur Ablösung da zu sein. Blöd halt, dass Patriks Mutter ausgerechnet an Silvester Geburtstag hat.«
»Ich würde sagen, sehr praktisch für deinen Kollegen.«
Anne warf ihm einen schnellen Blick zu. »Du musst nicht so ironisch sein.«
»Na ja, normalerweise wäre er als Neuzugang an eurer Klinik doch definitiv mit der Silvesternacht dran gewesen.«
»Es ist ein runder Geburtstag. Habe ich dir doch erzählt.« Anne klang genervt. »Ich hinterfrage ja auch nicht dein heutiges Einspringen.«
»Das fiel mir leicht, weil du den Dienst im Krankenhaus zugesagt hattest.« Martin versuchte, gelassen zu wirken. In Wirklichkeit passte es ihm nicht, dass Anne dem Wunsch ihres Kollegen so schnell nachgegeben hatte. Das war kein Personalnotfall wie bei ihnen auf der Polizeiwache. Aber Schwamm drüber. Jetzt waren sie beide im Dienst, und das war besser, als den Jahreswechsel alleine auf der Couch zu verbringen.
»Wie dem auch sei, ich muss los.« Anne kam zu ihm, fasste seine Hände und hob ihr Gesicht zu ihm hoch. »Jetzt lass uns nicht in so einer miesen Stimmung auseinandergehen. Bekomme ich einen Kuss?«
Martin grinste. »Einen? Von mir aus alle Küsse dieser Welt und noch ganz etwas anderes.« Er deutete mit dem Kopf nach hinten.
»Martin! Bleib mal ernst.«
Er beugte sich zu ihr und küsste...
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