Schweitzer Fachinformationen
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Norderney
»He, Marthe! Wo willst du denn hin? So schwer beladen, wie du bist.«
»He, Eske. Seh' ich so aus, als müsste man mir helfen? Als wäre ich eine alte Frau, der man den Einkauf trägt?« Marthe Dirkens kniff die Augen zusammen und setzte ein verkniffenes Gesicht auf.
Ihre Nachbarin schüttelte den Kopf. »Nicht doch.«
Marthe ließ die beiden Einkaufstaschen zu Boden sinken und richtete sich auf. Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Schon gut, Eske. Du hast ja recht. Ich bin alt. Da kann ich mich noch so gegen wehren und die Tatsachen gerne vom Tisch wischen, ich muss es einsehen, wenn die Knochen meckern. Die alten Knochen wohlgemerkt.«
»Ach, Marthe, wem sagst du das wohl? Ich komme gerade vom Fischerhaus. Heute war unser Rudelsingen. Du, wir Einheimischen werden auch immer älter. Nur gut, dass das Singen wieder modern wird. Jetzt traut sich der eine oder andere von den Zugezogenen auch mal zu uns. Aber wir Alten, also die, die immer schon hier waren, wir sind eine aussterbende Rasse.«
»Na, das will ich mal nicht glauben. Auch wenn vieles anders ist als zu der Zeit, als wir jung waren. Aber was willst du machen? Ich versuche, wenigstens ein bisschen mit der Zeit zu gehen.«
»Ja, das tust du, Marthe. Das wissen wir alle. Ich sage nur Lila. Der letzte Versuch. Mal in deinen Haaren und mal dein Brillengestell. Und dann deine Pension. Die auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Aber wenn sonst im Dachstübchen noch alles funktioniert, dann müssen wir zufrieden sein.«
Marthe runzelte die Stirn: »Steht das deiner Meinung nach in einem Zusammenhang, mein Dachstübchen und die Pension?«
»Nein, nein. So war das nicht gemeint. Ich jammere gerne den alten Zeiten hinterher. Warum kommst du denn nicht mal mit zum Fischerhaus? Zum Singen und für eine Teetied, da könnten wir dich gut gebrauchen.«
»Du, lass mal. Singen kann man das bei mir nicht nennen, mein Brummen wollt ihr nicht hören, und die Teetied - da wisst ihr doch, dass ich mein ganz besonderes Ritual habe, meinem seligen Mann zuliebe. Alte Gewohnheiten soll man nicht ändern. Ich bleib bei meinem Giftschrank.«
»Und den füllst du wohl gerade wieder auf?« Die Nachbarin ruckte mit dem Kinn zu den beiden Jutetaschen.
Marthe bückte sich und nahm die Einkaufsbeutel hoch. »Hörst du was klirren?« Eske zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte den Kopf, sie konnte ihr ansehen, dass damit die Neugierde nicht befriedigt war. »Wenn du willst, nimm eine der Taschen. Wir haben ja den gleichen Weg.«
»Bücher?«, fragte Eske mit spitzer Stimme. Es klang, als handelte es sich um etwas Unanständiges.
»Bücher«, murmelte Marthe und setzte sich in Bewegung. »Was ist daran so ungewöhnlich? Lesen hält fit im Kopf, solltest du auch mal versuchen.«
»Also .«, schnaufte Eske.
»Jetzt reg dich nicht künstlich auf. Ich hab nur einen Scherz gemacht.«
»Es ist auch nicht so, als würde ich keine Bücher lesen«, erwiderte diese. »Also letztens erst .«
»Du musst dich nicht rechtfertigen, Eske. Ich lese auch immer weniger. Es strengt mich an. Die Augen wollen nicht mehr so richtig. Aber ganz ohne, da würde mir etwas fehlen.«
Eske blieb stehen und spannte die Tasche auf. »Moment. Du liest immer weniger, schleppst aber zwei gefüllte Beutel Bücher nach Hause? Das soll mal einer verstehen.«
»Ach, eigentlich ist das ganz einfach.« Marthe war froh, als ihre Nachbarin stehen blieb. So fiel nicht auf, wie kurzatmig sie war. »Schau dir die Bücher mal an.«
Eske griff mit spitzen Fingern nach einem Buch. »Von Bücher Lübben sind die also nicht. Sondern aus der Bibliothek.«
»Stimmt. Und das hat seinen Grund. Niemand wird die Bücher lesen.«
»Niemand wird die Bücher lesen?« Eske stand mit offenem Mund da.
»Genau. Sie sind . na, wie soll ich das sagen? Sie sind quasi Dekoration.«
»Dekoration?«
»Ja, du Papagei. Dekoration. Oder, wie Daniela sagte: zum Aufpimpen.«
»Auf. was?« Eske winkte ab. »Ist ja auch egal. Ich glaube, ich habe es kapiert. Ist das eine neue Mode? In eurem Hostel?«
»Eske, jetzt mach nicht so ein Getue. Dass ihr alten Insulaner euch nicht daran gewöhnt, dass die Zeit weitergeht. Ein Hostel ist eine moderne und preiswertere Form des Übernachtens.«
»Aber die Bücher?« Sie schaute wieder in die Tasche. »Das ist doch altes Zeug, was du dir da ausgeliehen hast. Wer liest so etwas heutzutage noch? Schiller, Brecht, Raabe, Storm.«
»Und hier: Goethe, Fontane, Lessing und die Manns. Beide.«
»Alles, was Rang und Namen hat. Nur lesen tut es keiner.« Eske schaute Marthe herausfordernd an. »Warum denn nichts Modernes? Was von der Küste? Ein paar Krimis vielleicht? Die liegen doch bei Bücher Lübben in Stapeln. So etwas wollen die Gäste lesen und nicht diese Staubfänger hier.«
»Mag sein. Aber Daniela hat immer neue Ideen. Sie richtet ein Literaturzimmer ein. Für einen ganz besonderen Gast.«
»Jemand Prominentes? Bei euch?« Eske schaute ungläubig.
»Blödsinn. Davon war nie die Rede. Doch genug geschnackt.« Sie setzte sich wieder in Bewegung. »Wir sollten sehen, dass wir nach Hause kommen. Es wird Zeit für meinen Tee.«
*
Er hasste die Nordsee. Schon jetzt. Den Wind, die Wellen, das Wetter.
Trotz des leichten Nieselregens hatte Rainer Bothe die Überfahrt nach Norderney auf dem Deck des Fahrgastschiffes über sich ergehen lassen. Die zwei Handvoll Touristen, die sich mit ihm hinaus in das nasskalte Wetter gewagt hatten, standen mit »Ahs« und »Ohs« an der Reling, während er versuchte, den Griff seines Schirms gerade zu halten. Seine Haushälterin hatte recht behalten. Am Meer trug man Kapuze und keinen Knirps. Wie immer hatte er wenig Neigung verspürt, ihren Empfehlungen zu folgen. Deswegen ignorierte er die halb verstohlenen, halb belustigten Blicke der Mitreisenden. Sollten sie ihn für einen Sonderling halten. Na und? Daran hatte er sich längst gewöhnt. Das drückte nicht seine Stimmung.
Auch nicht das Reisen an sich. Hätte es ihn, wie in der Vergangenheit, nach Göttingen oder Paris verschlagen, wie gerne hätte er sein Bündel geschnürt und wäre, ohne zu zögern, aufgebrochen. Selbst gegen Düsseldorf würde er nichts sagen. Die Richtung, sie stimmte für ihn nicht. Es war, als säße er sprichwörtlich auf dem falschen Dampfer.
Sein Handgelenk schmerzte, und er wechselte den Schirm zur anderen Seite. Je näher sie der Insel kamen, umso voller wurde es an Deck. Smartphones wurden gezückt, und er glaubte, das satte Klicken herkömmlicher Fotoapparate zu hören, während unentwegt der Auslöseknopf der Handys bedient wurde. Das Schaulaufen der Insel mit ihren merkwürdig inhomogenen Gebäuden erschien ihm lächerlich.
Die polternde Gruppe von Menschen, die aus einer Kühltasche Kaltgetränke jeglicher Art hervorholte und sich mit tiefen Blicken zuprostete, widerte ihn an. Das Getrampel, das sie erzeugten, als sie sich die Eisentreppe hinaufschoben, beleidigte seine Ohren, ihr Freizeitlook seine Augen. Erwachsene mittleren Alters, die sich in ihrem Äußeren kein Jota von seinen Studenten unterschieden.
Rainer Bothe wünschte sich nur eines: dass es ihm gelänge, es so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, was ihn in diesen nassen Novembertagen auf die gottverdammte Insel führte. Dann würde er am Ziel seiner Wünsche sein. Nichts stünde länger seinen lang gehegten Träumen im Weg. Nur dieses eine Treffen. Über dessen Bedeutung nur er Bescheid wusste. Dass das so bleiben würde, dafür hatte er gesorgt.
Er lachte in sich hinein. Stellte sich die Gesichter vor, wenn der Coup gelänge. Die arroganten Schnösel an der Uni. Die ihn nicht ernst nahmen, ihn aber nicht loswurden. Sie alle würden Augen machen.
Kaum zu glauben, wie nah er seinem Ziel war. Wenn nur das Wetter anders wäre. Er streckte die Hand aus, um die Intensität des Niederschlags zu prüfen. Erstaunt stellte er fest, dass es aufgehört hatte zu regnen, obwohl der Himmel noch immer grau und tief hing und nahtlos mit dem Meer zu einer dunstigen Masse verlief.
Aber kein Regen mehr! Er drückte den Knopf an der Schirmhalterung und klappte das Gestell zusammen, schüttelte es kurz aus und hielt es in einem sicheren Winkel von Hose und Schuhen weg. Er legte den Kopf in den Nacken, als ein schriller Schrei ertönte. Möwen. Noch etwas, was er verabscheute. Er schirmte mit der Hand die Augen ab. Bevor er realisierte, was geschah, lief das ätzende Exkrement schon über seine Finger ins Gesicht. Bothe schrie auf. Die Menschen drehten sich zu ihm um und lachten.
»Möwenschiet bringt Glück«, rief ihm ein Fahrgast zu, der eine Flasche Bier auf ihn erhob. »Na denn man Prost!«
»Glück«, murmelte Rainer Bothe, während er in seinem Trenchcoat nach einem Taschentuch fingerte. »Glück ist etwas für die Dummen. Aber nichts für mich.«
Bonn
»Wer hat denn geklingelt?« Ruth Keiser richtete sich auf ihrer Yogamatte auf und zog das Shirt, das beim Herabschauenden Hund verrutscht war, herunter.
»Entspann dich, kein Besuch.« Oskar wedelte mit einigen Briefen. Unter den Arm hatte er ein Paket gequetscht. »Nur die Nachbarn. Sie haben unsere Post gestern angenommen. Die Druckerpatronen. Da steht unserem arbeitsintensiven Homeoffice-Sonntag nichts mehr im Weg. Perfekt getimt.«
Ruth verdrehte gespielt die Augen. »So habe ich mir unser Zusammenleben...
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