Schweitzer Fachinformationen
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Kommissar Wilhelm Berger fror. Er war später als die meisten aus der Gefangenschaft heimgekehrt. Als er nach Hamburg zurückkam, war seine Stelle längst besetzt, und es hatte Monate gedauert, bis er wieder bei der Polizei arbeiten konnte. Das Gebäude am Karl-Muck-Platz war schlecht geheizt. Und dieser Winter war einer der kältesten seit Menschengedenken.
Es herrschte Frieden, und so, wie es aussah, gaben die Siegermächte allmählich einen Teil der Verantwortung für Deutschland an die Deutschen zurück. Die Bürgerschaftswahlen im Oktober 1946 hatten der SPD eine überwältigende Mehrheit gebracht. Dennoch hatte der neue Bürgermeister Max Brauer sich für eine Koalition mit den Freien Demokraten und den Kommunisten entschieden. In schweren Zeiten war es gut, wenn die Regierung eine breite Basis hatte.
Das neue Polizeipräsidium lag direkt gegenüber der Musikhalle. Das neunstöckige Gebäude hatte den Zweiten Weltkrieg ohne größere Beschädigungen überstanden. Die Unterbringung der Polizei in diesem Komplex war freilich ein Provisorium. Das Haus gehörte einer Versicherung, dem Deutschen Ring. Die Polizei war im neunten Stock untergebracht. Die dortigen Räumlichkeiten entsprachen nicht den Anforderungen an eine moderne Polizeibehörde, aber etwas Besseres war nicht zu haben. Sein Arbeitszimmer war kleiner als vor dem Krieg, und er musste es mit Pagels teilen. Pagels hatte dafür gesorgt, dass ein Foto des neuen Bürgermeisters die ansonsten kahlen Wände des Arbeitszimmers zierte.
Wilfried Pagels war der Einzige der Belegschaft, den Wilhelm Berger noch kannte. Ein kleiner, zäher Bursche, den sie 1939 als Ersatz für Fehlandt bekommen hatten. Ein Zyniker. Berger war es damals schwergefallen, sich an den neuen Mann zu gewöhnen, aber er hatte sehr rasch festgestellt, dass Pagels ein fähiger Kriminalist war. Außerdem war er jemand, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hielt, und wenn er mit irgendetwas nicht einverstanden war, dann machte er das sehr deutlich.
Bergers neuer Chef hieß Roeder. Er hatte zu Bergers Begrüßung eine Runde Kaffee spendiert, Muckefuck natürlich, etwas anderes gab es nicht. Er war deutlich jünger als er, aber im Gegensatz zu Berger war er inzwischen zum Oberkommissar befördert worden. Er wirkte etwas distanziert, aber wahrscheinlich war er kein schlechter Polizist. »Dann wünsche ich Ihnen jedenfalls, dass Sie sich rasch wieder eingewöhnen. Ich denke, wir werden gut zusammenarbeiten«, hatte er gesagt und sich anschließend in sein eigenes Zimmer zurückgezogen.
Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, zögerte Berger einen Moment lang. Dann fragte er: »War er in der Partei?«
»Später Mitläufer«, sagte Pagels. »Keine Probleme bei der Entnazifizierung. Aber die meisten anderen, die damals mit dabei waren, die sind entweder tot, oder sie mussten sich eine neue Arbeit suchen.«
»Was ist eigentlich aus Fehlandt geworden?«, wollte Berger wissen.
»Das weißt du nicht?«
»Ich habe keine Ahnung, Wilfried. Ich bin doch gerade erst wieder hier bei der Polizei gelandet. Das Letzte, was ich von Fehlandt gehört habe, war im Herbst 1939, da war er auf dem Wege der Besserung, jedenfalls hatte ich den Eindruck.«
Pagels zündete sich eine Zigarette an. Er sagte: »Auf dem Wege der Besserung - das ist eine Übertreibung. Es ist richtig, er fing wieder an, halbwegs normal zu funktionieren. Aber wer von der Gestapo gefoltert worden ist, der ist hinterher nie wieder vollkommen gesund geworden.«
»Das war eine verdammte Sauerei, was die Schweine mit ihm gemacht haben«, stellte Berger fest.
»Ja, Wilhelm, das war es.«
Das klang wie ein Vorwurf. Berger begriff, dass Pagels noch immer der Meinung war, dass er an Fehlandts Verhaftung nicht ganz unschuldig gewesen sei. »Und was macht er heute?«
»Er ist tot. Du weißt ja, dass sie ihn ins Archiv abgeschoben hatten. Und als die Bombenangriffe auf Hamburg im Ernst losgingen, da hat er sich freiwillig als Feuerwache gemeldet. Das habe ich selbst nicht miterlebt, ich war ja zu der Zeit längst bei der Luftwaffe, aber die anderen haben es mir berichtet. Bei jedem Angriff hat er auf dem Dach gestanden, mit ein paar Eimern voll Sand. Auch am 25. Juli 1943, als die Innenstadt abgebrannt ist. Es war von vornherein klar, dass die Lage für das Stadthaus aussichtslos war. Alles ringsumher brannte. Und Fehlandt, der stand als Letzter noch auf dem Dach, als einsamer Held, und er hat versucht, die Brandbomben, die er mit dem Sand nicht löschen konnte, herunterzuwerfen. Er war verloren. Am Ende war er selbst eine brennende Fackel. Das gesamte Stadthaus ist niedergebrannt. Alle Unterlagen vernichtet. Aus. Ende.«
»Es ging ihm um das Archiv«, mutmaßte Wilhelm Berger. »Er hat versucht, das Archiv zu retten.«
Pagels nickte. »Er hat geglaubt, er könnte nachweisen, dass der Anschlag auf den Gauleiter damals von Karl Kaufmann selbst inszeniert war. - Ich habe die Unterlagen gesehen, Wilhelm. Es waren Indizien, die er hatte, mehr nicht. Da hätte man ansetzen können, aber nach allem, was inzwischen passiert ist, würde das sowieso keiner mehr tun. Er ist umsonst gestorben. Wie so viele andere.«
»Und Kaufmann? Ich nehme an, den haben sie aufgehängt?«
Pagels lachte. »Sie haben ihn nicht einmal angeklagt, Wilhelm!«
»Was?«
»Wundert dich das? Er war doch immer beliebt bei den Hamburgern. Zum Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg war er nur als Zeuge geladen. Er hat bei der Gelegenheit ausgesagt, dass er von der Reichskristallnacht gar nichts gewusst hat. Als man ihn schließlich ins Bild gesetzt hat, habe er, wie er sagt, den Unsinn bei sich in Hamburg sofort unterbunden. Im Krieg hat er dafür gesorgt, dass die armen, ausgebombten Hamburger neue Wohnungen gekriegt haben, indem er die Evakuierung der Juden beschleunigt hat. So hat er es genannt. Natürlich hatte er keine Ahnung, was dann mit den Juden passiert ist. Und Extra-Lebensmittelrationen nach den Bombennächten hat er auch durchgesetzt. Und schließlich hat er dafür gesorgt, dass Hamburg am Ende des Krieges kampflos übergeben wurde. Kurzum: Er war ein Wohltäter der Hamburger.«
»Das war er nicht«, widersprach Berger erregt. »Er war der oberste Nazi der Stadt, und alle Verbrechen, die die Nazis begangen haben, die gehen letzten Endes auf sein Konto.«
»Sagen wir so: Diejenigen, denen er genützt hat, die sind ihm heute noch dankbar. Und diejenigen, die die Nazis umgebracht haben, die beschweren sich nicht mehr. - Aber eigentlich wundere ich mich über dein hartes Urteil, Wilhelm. Bist du nicht auch ein Nutznießer deiner Beziehungen zum Gauleiter?«
»Wie kommst du darauf?« Wilhelm Berger war fassungslos. Er sah zu, wie Pagels einen Rauchring in die Luft blies. Schließlich sagte er: »Ich habe keine besonderen Beziehungen zu Karl Kaufmann. Mein Vater hat vor 1933 die Nazis finanziell unterstützt. Als sie schließlich an die Macht kamen, war mein alter Herr schon tot. Ich habe mit dem Gauleiter nichts zu tun gehabt.« Aber während er dies sagte, wurde ihm schlagartig bewusst, dass diese Darstellung seinem Wunschdenken entsprach. Wenn Karl Kaufmann nicht gewesen wäre, hätte er schon im Herbst 1933 den Polizeidienst quittieren müssen. Wenn Karl Kaufmann nicht gewesen wäre, hätte seine Tochter Susanne nicht nach Amerika auswandern können. Und wenn Karl Kaufmann nicht gewesen wäre, hätten Dagmar und Horst 1939 überhaupt gar nicht erst den Versuch unternehmen können, Deutschland zu verlassen.
Pagels lächelte. »Für einen Mann ohne Beziehungen bist du erstaunlich gut durchgekommen«, sagte er.
»Was meinst du damit?«
»Ich habe mich schon gewundert, als Fehlandt verhaftet worden ist, und als die Gestapo ihn gefoltert hat, dass du auf freiem Fuß geblieben bist. Fehlandt hat mir hinterher gesagt, dass du ursprünglich den Kommunisten in deinem Keller versteckt hattest. Aber vielleicht hast du ja einfach nur Glück gehabt.«
»Es geht nicht«, sagte Ernst Buchholz. Es war schon der zweite Morgen, an dem er vor Tau und Tag mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war, um einen passenden Platz für die Leiche zu finden. Ursprünglich hatten sie beabsichtigt, den Sack mit dem Toten knapp unterhalb von Elmshorn in die Krückau zu werfen. Aber sie hatten nicht bedacht, dass der Nebenfluss der Elbe gezeitenabhängig war und bei Niedrigwasser beinahe trockenfiel, sodass man den Sack sofort gefunden hätte.
»Was war in Lieth?«, fragte seine Partnerin. In Lieth gab es eine große Tongrube; dort musste es zahlreiche Möglichkeiten geben, eine Leiche loszuwerden.
Ernst setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Sie haben einen Hund«, sagte er....
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