Schweitzer Fachinformationen
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Das Jahr 199. war fast zu Ende, als ich mich für gesund erklärte und nach New York zurückkehrte. Dort führte Dr. Martin Miller, plastischer Chirurg und gefragter Festgast, eine zweite Operation durch, um meine rekonstruierte Nase, meine schiefen Augenlider und meine Wangenknochen »anzupassen«, mein Handwerkszeug, wie man sagen könnte. Dr. Miller, der mit einem Model verheiratet war, stellte seine Rekonstruktionsfähigkeiten ansonsten wohlhabenden, attraktiven Menschen zur Verfügung, die noch attraktiver aussehen wollten - wollte aber mit der »groben Entstellung«, die ein Unfalltrauma einem Gesicht zufügt, sonst nichts zu tun haben. Doch er hatte bei so vielen meiner Freundinnen weggenommen und zugefügt und abgesaugt, dass er mir diesen Gefallen schließlich tat. Er arbeite nach Fotos, von denen ich natürlich jede Menge besaß, und werde sein Bestes tun, sagte er, um mich wieder so aussehen zu lassen, wie ich einmal war.
»Nach einem solchen Trauma, Charlotte«, warnte er, »kann die Restauration niemals Perfektion erreichen.«
»Ich war noch nie perfekt«, sagte ich.
Grace fuhr mit mir nach New York, damit ich meiner leeren Wohnung nicht allein gegenübertreten müsste. Ich lebte seit sieben Jahren im fünfundzwanzigsten Stock eines modernen Wohnblocks am Ende einer Sackgasse an der East 52nd Street und hatte Ausblick auf den East River, den unteren Teil von Roosevelt Island und auf Long Island City. Die Wohnung war in besserem Zustand, als ich erwartet hatte; Anastasia, meine alkoholsüchtige Putzfrau (wie ich entdeckt hatte, als der Wodka in meinem Kühlschrank zu festem Eis gefroren war), hatte sogar den Teppichboden shamponiert, weshalb alles viel gepflegter aussah als sonst. Die Türwärter hatten meine Post weitergeleitet, und Grace hatte meine Hypothek und alle Rechnungen von meinem Konto bezahlt, weshalb mich, abgesehen von meinem geschrumpften Konto, keine unliebsamen Überraschungen erwarteten. Grace blieb zwei Wochen und pflegte mich nach der zweiten Operation, bis der Verband abgenommen wurde und ich wieder klar sehen konnte. Am Tag vor ihrer Abreise fuhren wir mit dem Taxi zum Central Park und wanderten durch die schneidende Kälte. Ich trug meine neue Standarduniform: Kopftuch (jetzt im Winter aus Wolle), Sonnenbrille und Pfannkuchen-Make-up. Grace trug den schwarzen Nerzmantel, den Frank ihr im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte.
»Pass auf, dass niemand deinen Mantel vollsprüht«, sagte ich.
»Vollsprüht?«
»Mit Farbe. Du weißt schon, Tierschutz.«
Grace lachte. »Ich dachte schon, du meinst, jemand könnte mich anpissen.«
»Meine Güte. Glaubst du, dass so was in New York üblich ist?«
»Ich glaube noch viel Schlimmeres«, sagte sie freundlich.
Eine seltsame Folge von Wetterumschlägen hatte alle Bäume und Äste und Zweige mit Eis überzogen. Bei jedem Windstoß ertönte aus allen Richtungen ein klagendes Ächzen.
»Was wirst du machen, wenn ich weg bin?« fragte Grace.
»Endgültig gesund werden«, sagte ich und zog das Kopftuch fester um mein Gesicht. »Mich auf die Welt loslassen.«
»Und was dann?«
»Reicht das nicht? Wenn du dir überlegst, wo ich angefangen habe?«
»Ich meine, was wirst du machen? Wie wirst du leben?« Ihr Gesicht war vor Sorge verzogen.
»Hör auf«, sagte ich.
Wir blieben schweigend stehen. Grace schaute in den Himmel. Sie gehörte zu den Menschen, die ihre Gerissenheit dermaßen überschätzen, dass sie letztlich ihre schlimmsten Ängste in allen Einzelheiten preisgeben. Ich wusste, dass sie mein Leben für ruiniert hielt.
»Du kannst doch immer noch zurückkommen«, sagte sie. »Wenn dir danach ist.«
»Nach fünf Monaten in Rockford! Ich würde Krämpfe kriegen, wenn ich zurückginge.«
»Ach bitte«, sagte Grace, »erspar mir diese Nummer.«
Während ich mich von der zweiten Operation erholte, schaltete ich den Anrufbeantworter an, saß viel vor dem Fernseher und wurde eine inoffizielle Beobachterin des Schiffsverkehrs auf dem East River. Es war viel zu kalt für den Balkon, und deshalb sah ich mir diese langsame Parade vom weichen Polster meiner Ausziehcouch aus an; hellrote Schlepper und blauweiße Polizeiboote und lange Abfallbündel, die von Netzen unten gehalten wurden. Wenn ich irgendwo anrief, behauptete ich, noch immer in Rockford zu sein, und wenn Sirenen oder Nebelhörner vom Fluss her zu mir in den fünfundzwanzigsten Stock durchdringen konnten, drückte ich rasch auf den Knopf, der den Ton wegnahm.
Warum bat ich meine Bekannten nicht, mir Aufläufe und Lebensmittel zu bringen und es sich bei mir auf der Ausziehcouch gemütlich zu machen? Weil ich schwach war. Ja, natürlich, gerade dann brauchen wir andere am meisten, das sagte ich mir, als das Schweigen in meinen Ohren dröhnte. Aber man darf solchen Gefühlen nicht nachgeben. Denn wenn sie einen einmal so gesehen haben, wenn sie die stumpfen, leblosen Haare gemustert und die rauhe Stimme gehört, wenn sie die Hilflosigkeit und das verzweifelte Bedürfnis nach Liebe erlebt haben, werden sie den Geruch - den Geruch der Schwäche! - nie vergessen, und noch lange, nachdem man wieder zu Kräften gekommen ist und man selbst diese Vorführung der Ohnmacht vergessen hat, werden sie einen anschauen und das alles noch immer sehen.
An einem späten Nachmittag hörte ich, während ich zusah, wie die frühe Dunkelheit sich über Long Island City senkte, dass sich der Anrufbeantworter einschaltete. Der Anrufer war Anthony Halliday, der Detektiv. Den hatte ich total vergessen.
»Sie haben vor einigen Monaten bei mir zurückgerufen«, sagte er. »Und seither habe ich immer wieder Mitteilungen für Sie hinterlassen.«
Ich konnte mich vage erinnern, dass jemand mir erzählt hatte, dieser Detektiv halte sich in einer psychiatrischen Klinik auf, doch die Erinnerungen an meine Genesungszeit in Rockford waren bereits so blass und vage geworden, dass ich mir doch nicht sicher war. Er hörte sich durchaus normal an. Ich wartete eine halbe Stunde und rief dann zurück.
»Anthony Halliday«, sagte er.
»Charlotte Swenson«, hielt ich dagegen.
»Charlotte Swenson.« Das schien ihn zu freuen. »Sind Sie wieder in New York?«
»Noch nicht.«
»Ich habe gehört, Sie hatten einen schlimmen Autounfall?«
»Ja«, sagte ich, dann zögerte ich, ich wollte nicht ins Detail gehen. »Worum geht es also?«
»Vor einigen Monaten ist ein Mann verschwunden«, erklärte der Detektiv. »Er wurde Z genannt, und soviel ich weiß, haben Sie ihn gekannt.«
»Ich weiß, wer er war.«
In der kleinen und schnellebigen Barszene, in der ich seit Jahren einen Teil meiner Zeit verbrachte, war Z in den Monaten vor meinem Unfall zu einer Art festem Bestandteil geworden. Er war einer der Menschen, die man sich bei Tageslicht nicht vorstellen konnte und eigentlich auch nicht wollte.
»Was soll das heißen?« fragte ich. »Dass er verschwunden ist.«
»Seit August hat ihn niemand mehr gesehen.«
»Meinen die Leute, dass ihm etwas passiert ist?«
»Die Leute sind in diesem Fall ich«, sagte er. »Die Polizei hat sich bisher nicht wirklich eingeschaltet.«
»Und warum suchen Sie ihn?«
»He«, sagte er und lachte. »Ich stelle hier die Fragen.«
»Gut, aber wo bleibt der Spaß für mich?«
Flirtete ich hier mit diesem Detektiv, mit Anthony Halliday? Ich hatte so lange nicht mehr geflirtet, dass ich nicht einmal das sicher wusste.
»Ich würde Sie gern treffen, wenn Sie wieder in New York sind«, sagte er. »Wann wird das sein?«
»In einigen Wochen.«
»Ich melde mich in drei Wochen«, sagte er. »Passen Sie solange auf sich auf. Und werden Sie gesund.«
»Sie auch«, sagte ich.
Er schwieg für einen verwirrten Moment. Dann legte er ohne ein Abschiedswort auf.
Erst Ende Januar verabredete ich mich endlich mit Oscar, meinem Agenten, zum Mittagessen. Mein Gesicht war nach der zweiten Operation seit ungefähr einem Monat »geheilt« oder »zur Ruhe gekommen«, wie ich das sah. Aber ich hatte meine Begegnung mit der Welt aus dem schlichten Grund aufgeschoben, dass ich noch immer nicht wusste, wie ich aussah. Ich starrte eine volle Stunde durch den Ring aus kalkweißem Licht, der meinen Badezimmerspiegel umgab; ich hielt alte Bilder von mir neben mein Spiegelbild und versuchte, beides zu vergleichen. Aber dabei stellte ich nur fest, dass ich jetzt nicht wusste, wie ich aussah, und dass ich es nie gewusst hatte. Die alten Bilder waren keine Hilfe; wie alle guten Bilder verbargen sie die Wahrheit. Ich hatte nie ein schlechtes aufbewahrt - das war eine meiner fotografischen Grundregeln. Erstens: lass dich erst dann fotografieren, wenn du soweit bist, sonst wird das Ergebnis mit großer Sicherheit scheußlich ausfallen. Zweitens: behalte nie schlechte Bilder von dir, weder aus sentimentalen noch aus anderen Gründen. Schlechte Bilder zeigen dich in genau dem Licht, in dem du nie im Leben gesehen werden möchtest, und sie werden nicht nur gefunden werden, wenn du sie aufbewahrst, sondern das auch noch unweigerlich von dem einzigen Menschen auf der Welt, der dich wirklich nicht in diesem Zustand sehen soll.
Und jetzt machte ich eine neue Entdeckung: nur schlechte Bilder können zeigen, wie man wirklich aussieht. Ich hätte einen Mord begehen können, um eins aufzutreiben.
Schließlich resignierte ich und verabredete mich mit Oscar.
Wir trafen uns im Raw Feed, einem Restaurant im West-20-Bereich, dessen Türsteher Jess DeSoto war, ein geschwätziges...
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