Schweitzer Fachinformationen
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Eine Hand liegt auf meinem Hintern - und zwar nicht meine eigene. Irgendein Perverser hat in dieser Sauna von U-Bahn seine Schweißfinger auf meiner linken Pobacke geparkt und hält sie gepackt wie ein Bergsteiger einen Felshöcker in der Wand. Da die drei Männer, die in dieser öffentlichen Londoner Transporthölle dicht gedrängt neben mir stehen, alle ziemlich suspekt wirken, kann ich nicht erkennen, welcher von ihnen der Grapscher ist.
Zum Glück trage ich heute eine bequeme, weite Hose und darüber einen Jersey-Rock, sodass mich eine ordentliche Schicht mühelos waschbarer Kunstfasern vor dem direkten Kontakt mit der grapschenden Hand schützt.
Und wie es das Glück noch dazu will, habe ich heute auch meine schicksten Schuhe an: glänzend schwarze Stilettos mit fünf Zentimeter hohen Absätzen, die ich zu Ehren meines Abschiedstags angezogen habe - meine befristete Stelle in einer wohltätigen Stiftung als Persönliche Assistentin des Chefs läuft heute aus. Die Schuhe sind perfekt dazu geeignet, sie in einen fleischigen Fußrücken zu rammen.
Der säuerlich riechende Geschäftsmann hinter mir, dessen warmer Atem meinen Nacken trifft, stößt ein schrilles Jaulen aus, als der Absatz sein Ziel findet, und die Hand verschwindet von meinem Allerwertesten. Volltreffer! Und gleich beim ersten Mal. Jahrelanger Übung in London habe ich einen scharfen Instinkt zu verdanken, wenn es darum geht, dubiose Typen zu erkennen, von Drogensüchtigen über freche Teenager bis zu verheirateten Geschäftsmännern mittleren Alters, denen es einen Kick verschafft, fremde Frauen zu betatschen.
«Das hat gesessen, Glückwunsch!», flüstert die große, schwitzende Frau, die in dem Gedränge gegen meine Brüste gedrückt wird, und wirft dem Po-Grapscher einen bösen Blick zu. «Die sollte man alle aus dem Zug werfen, vorzugsweise während der Fahrt.»
Wir lächeln uns an, und ich krame in meiner Handtasche nach dem Lippenbalsam. Der kalte Januarwind macht meine Haut immer spröde. Doch als meine Finger einen Briefumschlag streifen, ziehe ich sie schnell zurück. Keine Ahnung, warum ich diesen Brief noch immer mit mir herumtrage - zumal er schon zweimal im Mülleimer gelandet ist, weshalb das dicke, cremefarbene Papier von Tomatensoße- und Fettflecken übersät ist.
«Wenn ich daheim bin, schmeiße ich den verdammten Wisch endgültig weg», knurre ich lautlos in mich hinein. Und dann werde ich nicht noch einmal einen halben Kopfstand in der Mülltonne machen, um ihn wieder herauszufischen.
Wenn ich den Brief endlich los bin, kann ich zu meinem wunderbaren, sorgenfreien Leben im pulsierenden, lebendigen Herzen der Nation zurückkehren - wo wir tief unter der Erde zusammen mit Ratten und Grapschern in Blechwaggons durch das Arteriensystem der City flitzen. London mag dreckig sein, laut und absurd teuer, aber seit meiner Geburt in Ealing vor neunundzwanzig Jahren ist es mein Zuhause, und ich liebe es.
Citydreck und Rushhour-Lärm gibt es mehr als genug, wie ich feststellen muss, als ich blinzelnd aus dem U-Bahnhof King's Cross trete. In der Ferne heult die Sirene eines Polizeiwagens, und zwischen den über die Bürgersteige hastenden Fußgängermassen treiben Schwaden von Autoabgasen wie wabernder Nebel. Der kleine Strauß Gewächshausrosen, den mir die Mitarbeiter der Stiftung schenkten, sieht ziemlich mitgenommen aus, aber vielleicht heben die Blumen ja wieder die Köpfe, wenn ich sie bei Maura ins Wasser stelle. Ich werde sie wohl in ihrer Wohnung zurücklassen, denn Maura kann eine kleine Aufmerksamkeit gut gebrauchen.
Bei Harrys Geburt vor drei Monaten quoll ihre winzige Wohnung von Blumen über. Doch seitdem ist der berauschende Duft frischer Blüten einem ewigen Dunst von kaltem Babytee, schmutzigen Windeln und Gummi gewichen. Das Gummiaroma steigt aus dem Fahrradladen unter ihr auf, dessen Kundschaft überwiegend aus gertenschlanken Damen besteht - den reinsten Windhunden in ihren neonbunt gestreiften Lycra-Anzügen. Oder , wie Maura sie nennt. Dabei weiß ich, dass sie Harry heiß und innig liebt, sogar dann, wenn er so zielgerichtet kotzt, als wäre er direkt dem Exorzisten entsprungen.
«Komm rein», sagt Maura, macht die Haustür weit auf und streicht sich eine Strähne blondes Haar hinters Ohr. «Du brauchst die Schuhe nicht auszuziehen. Hier herrscht das absolute Chaos, da kommt es auf ein bisschen Dreck mehr auf dem Teppich auch nicht an.»
Ich schlüpfe trotzdem aus den Schuhen und folge ihr durch einen Hindernisparcours von Babykram, der sich in dem schmalen, dunklen Flur türmt. Das Wohnzimmer quillt genauso über, in der Ecke steht ein Kinderwagen und daneben ein verpacktes Reisebettchen. Maura muss ein Gebirge von Stoffwindeln auf den Boden räumen, damit ich mich setzen kann. Überall liegt so unendlich viel Zeug herum, dass ich in der Enge fast die Krise kriege, umso mehr, als mir dann auch noch ein Stapel Babykleidung auf den Schoß purzelt.
«Und wie war deine Abschiedsfeier?», fragt Maura und reibt sich die Augen. Ohne meine Antwort abzuwarten, versetzt sie den Windeln einen Tritt. «Zum Kotzen, das Zeug! Die Welt retten durch Vermeiden von Wegwerfwindeln, schön und gut, aber wo ist die Öko-Gutmenschen-Brigade morgens um drei, wenn ich mit geschlossenen Augen Scheiße vom Baumwollfrottee schrubbe?» Sie unterdrückt ein Gähnen und verzieht das Gesicht, als Harry im kleinen Babyzimmer nebenan zu weinen beginnt. «Paul!» Sie streckt den Kopf aus der Tür und ruft zur Einbauküche hinüber: «Harry weint, und du bist dran.» Als Paul die Töpfe mit einem aggressiv wirkenden Klirren in die Spüle fallen lässt und ins Babyzimmer stapft, murmelt sie: «Zu nichts zu gebrauchen. Ich war die ganze Nacht auf und hab immer wieder gestillt. Da kann er sich wenigstens tagsüber nützlich machen.» Sie schließt die Augen und atmet tief durch. «Na ja, genug von meinem häuslichen Glück. Wie war der große Abschied? Hast du geweint?»
«Wohl kaum! Ich war ja nur ein Jahr da, und es war Zeit weiterzuziehen.» Ich denke an die bescheidene Abschiedsfeier zurück. Es gab Tee und Kuchen, und die Leute haben mich unbeholfen umarmt. «Ich werde die Kollegen vermissen, aber traurig bin ich nicht.»
«Nein, wirklich nicht», erwidert Maura mit verwunderter Miene. «Ich persönlich fände so viele Jobwechsel und Abschiede furchtbar, aber du kannst halt einfach total gut Lebwohl sagen.»
Sie hat recht. Wenn es Noten fürs Abschiednehmen und neu Anfangen gäbe, bekäme ich eine Eins plus. Die Vorzüge eines Neubeginns werden von all jenen Menschen unterschätzt, die lieber Wurzeln schlagen und - oh Graus - sich endgültig einrichten wollen. Hypothek aufs Haus, Ehe, Kinder und sonntagmittags Essen bei den Eltern. Schön und gut, wenn man es wirklich so will, aber Job und Beziehung in Bewegung zu halten, macht das Leben viel weniger kompliziert. Insbesondere wenn man, so wie ich, überhaupt keine Familienbande hat.
Maura quetscht sich neben mich aufs Sofa und legt die Hand auf meine. «Aber kommst du ohne Job klar? Ich weiß, dass du diese befristeten Stellen magst, aber mir kommt das ganz schön stressig vor.»
Sie sieht so besorgt aus, dass mein Herz plötzlich erschreckt zu klopfen beginnt. Aber gleich darauf habe ich mich wieder im Griff.
«Natürlich komme ich klar», beruhige ich sie lächelnd. «Ich wusste von Anfang an, dass der Job bei der Stiftung eine Mutterschaftsvertretung war. Deswegen braucht man sich nicht ins Hemd zu machen, und davon sollten wir uns schon gar nicht den Abend verderben lassen. Ich habe vor, das Ende meines Vertrags und den Beginn meiner Freiheit zu feiern. Wer weiß, was als Nächstes kommt? Das gehört mit zum Spiel.»
«Ah ja, wir wollten ausgehen.» Maura steht rasch auf und klappt die Tür eines überquellenden Schranks mit einem Fußtritt zu. «Tut mir so leid, Annie. Ich weiß, dass wir beide heute Abend einen draufmachen wollten, aber Paul ist plötzlich eingefallen, dass er zu einem Event in seine Firma muss.» Sie hebt die Stimme: «Und das ist wirklich lästig und rücksichtslos und unfair, wo ich doch derzeit so selten rauskomme.»
«Ach, jetzt hör doch endlich auf, Maura», ruft Paul aus dem Schlafzimmer, und sofort fängt Harry wieder an zu plärren.
«Tut mir leid, Annie», sagt Maura, als sie mein enttäuschtes Gesicht sieht. «Ich würde wirklich gern ausgehen. Aber bleib doch hier. Dann lassen wir was zu essen kommen und sehen stattdessen fern.» Sie unterdrückt ein Gähnen. «Allerdings bin ich im Moment keine sonderlich anregende Gesellschaft, weil Harry nachts nicht durchschläft. Meine Mum glaubt, dass er zahnt. Eine furchtbare Vorstellung, dass ein einziges, kleines Zähnchen schon so ein Chaos anrichtet. Er hat ja noch neunzehn von der Sorte vor sich, die nur darauf warten, sich zwischen Mitternacht und Tagesanbruch durchs Zahnfleisch zu bohren. Ich versetze Paul regelmäßig einen Tritt, damit er auch mal aufsteht und seinen Teil übernimmt, aber er liegt einfach nur da und tut so, als wäre er tot.» Sie beugt sich zu mir vor und spricht mit gesenkter Stimme. «Ich vermisse mein früheres Leben entsetzlich.»
«Dein Leben vor Harry?»
«Nein, das Leben vor dieser verdammten Ehe», antwortet Maura, hebt einen von Pauls Strümpfen vom Boden auf und macht wütend einen festen Knoten hinein. «Du kannst so froh sein, Annie.»
Ich nicke mitfühlend und bemühe mich, nicht selbstgefällig zu lächeln, denn ich weiß, dass ich froh sein kann. Ich habe mein eigenes Leben. Okay, im Moment habe ich zwar keinen Job, aber irgendwas wird sich bestimmt...
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