Schweitzer Fachinformationen
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Winter trat über die Schwelle, obwohl es eigentlich nie eine Schwelle gegeben hatte. Das Polizeipräsidium sollte im Takt mit der neuen Zeit modernisiert werden. In den vergangenen zwei Jahren hatte sich viel verändert. Sein Parkplatz war in einem Loch verschwunden. Er empfand es wie ein Verbrechen. Der Platz war das Zuhause seines Mercedes gewesen. Es schneite, Schnee bedeckte den Krater, aber das war ja nun egal.
Auf dem Weg nach oben betrachtete er sein Gesicht im Fahrstuhlspiegel. In dem gnadenlosen Licht wirkte es gealtert, das drohende Alter war schon eingeritzt. Aber noch war es nur eine Drohung, noch war alles, wie es sein sollte. Wer zweiundfünfzig ist, hat das Gesicht, das er verdient. Er sah die Liftwände im Spiegel, Wände wie in einer Zelle, wie eine Vorahnung dessen, was ihn erwartete. Der Spiegel schien neu zu sein. Beim Abmontieren des alten war er dabei gewesen. Ein Festgenommener hatte sich daran verletzt, oder es zumindest versucht. Doch diesen Spiegel hatte ein anderer ausgesucht, jemand, der eitel war, vielleicht Halders.
Die Wände oben im Dezernat waren dieselben, nur der Name seiner Abteilung hatte sich geändert: Dezernat für Schwerstverbrechen. Die Wände waren von unbestimmbarer Farbe, die ihre Inspiration aus Kaufhäusern und Folterkammern bezog. Himmel, wie er diese Nicht-Farbe hasste. Sie hatte zu seinem Entschluss beigetragen, den ganzen Mist hinzuschmeißen. Alle anderen Anlässe hatte er auf dem Grund eines Swimmingpools in Nueva Andalucia zurückgelassen.
Aber dies war die Zukunft, für die er sich selbst entschieden hatte. Dies waren seine Wände, seine Gruppe. Seine Jäger. Winter klopfte an die offene Tür zum Konferenzraum. Die Köpfe am Tisch wandten sich ihm zu. Die meisten kannte er, zum Glück.
»Der verlorene Sohn«, sagte Fredrik Halders, erhob sich, kam auf ihn zu und umarmte ihn. Dass Halders jemanden umarmte, und überdies einen Mann - das musste mit dem Umbau des Gebäudes zusammenhängen, an manchen Stellen lockerte sich etwas, Hartes konnte weich werden.
»Wenn er verloren wäre, würde er ja nicht vor dir stehen«, sagte Aneta Djanali. Sie hatte sich ebenfalls erhoben.
»Willkommen beim KGB«, sagte Halders und trat einen Schritt zurück. »Oder sind wir beim GRU? Das ganze Haus soll einen neuen Namen kriegen. Rate mal, welchen!«
»Lubjanka?«, fragte Winter.
»Genau!« Halders trat einen weiteren Schritt von Winter zurück. »Ich hab schon befürchtet, du wärst noch fetter geworden, Erik.«
Robert Krol war der erste Zeuge. Nur wenige Stunden nach der Entdeckung erzählte er Erik Winter von seinem üblichen Vormittagsspaziergang auf einem der Pfade zum Wasser hinunter, und was er auf halber Höhe bei den Häusern bemerkt hatte.
Vor einer Stunde, erzählte er, habe es wieder angefangen zu schneien, die gleichen dicken Flocken wie erst kürzlich. Das hatte ihm nicht gefallen. War der Boden über Silvester schneefrei gewesen, dann konnte er es auch bleiben, bald würde es ja ohnehin Frühling werden, oder? Der Boden hatte keine Sehnsucht, jetzt noch weiß zu werden, da es auch im Dezember keinen Schnee gegeben hatte. Die Kinder würden sich vielleicht freuen, aber man lebte in Göteborg, hier sind die Kinder an schneefreien Boden gewöhnt. Wer Weiß sehen wollte, konnte ja in die Berge fahren. Er wollte kein Weiß sehen. Seine Farben waren Grün und Blau. Auf dem Spielplatz, wo sich der Fahrradweg und die Amundöviksschleife kreuzten und wo er wohnte, liefen Kinder herum. Einige waren schon halb oben im Kletterturm, der wie die Brücke auf einem Handelsschiff aussah. So kam es ihm jedenfalls vor. Das passte auch hierher, an die Bucht mit dem Meer dahinter.
Der Weg, auf dem er ging, war mit Schneematsch bedeckt, mäandernde Autoreifenspuren, als wäre hier jemand mit einigen Promille im Blut entlanggefahren. Er war froh, dass er seine Gummistiefel angezogen hatte, jedes andere Schuhwerk wäre verdorben worden. Es schneite weiter, die Flocken wurden kleiner und härter; das bedeutete, dass es kälter geworden war. Er spürte den Wind durch die Jacke. Während seines Spaziergangs war die Temperatur stark gefallen. Die gefrorenen Reifenspuren auf der Straße sahen aus wie Wellen, die mitten in der Bewegung zu Eis erstarrt waren.
Aus Sandras Briefkasten, so ein altmodischer grüner ohne Schloss, ragten einige Zeitungen. Sie waren traurig durchnässt, eingeschneit. Er hatte sie schon auf dem Weg zur Amundöbrücke gesehen. Er ging zum Briefkasten, versuchte, die Zeitungen hineinzudrücken. Es gelang ihm nicht, denn sie waren in der Kälte zu knisterndem Eis erstarrt. Im Briefkasten lagen noch eine Zeitung und Post. Drei Zeitungen, drei Tage. Sandra und die Kinder könnten plötzlich verreist sein, vielleicht waren sie zu Jovan gefahren. War der inzwischen nicht in eine eigene Wohnung gezogen, nachdem er lange im Hotel gelebt hatte? Hatte sie ihm nicht bei einer ihrer Begegnungen erzählt, wann immer das gewesen sein mochte, Jovan wohne nun in Stockholm? Sie hatte nicht froh ausgesehen, aber wer konnte in ihrer Situation froh sein? Er erinnerte sich glasklar an alles, an das, was kürzlich passiert war, was vor einem halben Jahrhundert passiert war. Er hatte ein gutes Gedächtnis.
In den vergangenen drei Tagen war er jeden Vormittag hier vorbeigekommen, und die ganze Zeit hatte Sandras V70 vor dem Haus gestanden. Sie fuhr ihn nie in die Garage, wenn sie allein mit den Kindern war. Er vermutete, dass sie sich nicht traute, Frauen trauten sich selten, Autos in die Garage zu fahren. Ihnen fiel es schwer, Abstände richtig einzuschätzen. Woran mochte das liegen? Das Auto war schon eine ganze Weile nicht mehr bewegt worden. Es war von altem und neuem Schnee bedeckt. Innerhalb von drei Tagen musste sie doch irgendetwas in der Stadt einkaufen? Allein mit drei kleinen Kindern kam man von hier ohne Auto nicht weg. Er sah sich um. Betrat das Grundstück, ging zur Tür und klingelte. Drinnen hüpfte der Klingelton wie ein Echo, vor und zurück. Es klang, als wäre das Haus größer, als es wirklich war. Als wäre es aus Stein erbaut und nicht aus Holz. Er klingelte noch einmal. Niemand öffnete, drinnen keine Schritte. Der Klingelknopf fühlte sich kalt an, als könnte der Finger festfrieren. Er sah sich wieder um. Drinnen erstarben die Signale. Er meinte, einen Schrei zu hören. Ein Säugling, der im Haus schrie. Er rief: »Hallo, Sandra, hallo! Seid ihr da?« Sie hatten nie Kinder bekommen, er und Irma. Zu ihr ging er dann nach Haus, so schnell es sein Knie zuließ, er wusste, dass sie immer zu Hause auf ihn warten würde. Es hatte aufgehört zu schneien, und es war kalt, verflixt kalt.
»Ruf die Polizei!«, rief er laut, als er im Vorraum stand, eingehüllt in die Kälte des Nordwindes, den er mit hereingebracht hatte. Er rief noch einmal.
Die Zentrale dirigierte einen Wagen nach Amundövik. Niemand wusste etwas, außer dass in einem Haus offenbar ein Säugling eingesperrt war. Polizeiinspektor Vedran Ivankovic suchte sich zwischen neuen Schneewehen und einigen Tretschlitten, die an einer Pforte abgestellt waren, einen Weg zu der angegebenen Adresse.
»Hier ist es wie auf dem Land«, sagte seine Kollegin Paula Nykvist und zeigte auf die altmodischen Tretschlitten. »Richtig idyllisch.«
»Wir sind auf dem Land«, sagte Ivankovic. »In einem kleinen Dorf auf dem Land.«
»Da steht jemand.« Nykvist deutete mit dem Kopf auf einen älteren Mann, der vor dem Haus auf und ab trippelte. Er hatte einen grauen Bart und trug eine Wollmütze. »Er sieht aus wie ein alter Seebär.«
Sie parkten das Auto und stiegen aus.
»Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte Krol, als er auf sie zukam. Er zog ein Bein etwas nach. »Das Kind schreit. In diesem Haus gibt es ein Baby, es schreit, aber niemand öffnet.«
Nykvist nickte. Sie ging auf das Haus zu. Es wirkte groß und gleichzeitig klein. Es war die hellste Zeit am Tag, doch das Haus schien im Dunkeln zu liegen, wie in ständiger Dunkelheit. Eine böse Dunkelheit, dachte sie, ich habe so eine Situation schon mehrere Mal erlebt, ich erkenne das Böse, bevor ich ihm ins Gesicht schaue.
»Die Tür ist abgeschlossen«, sagte Krol hinter ihr. »Niemand öffnet. Ich habe mehrmals geklingelt.«
Auch jetzt öffnete niemand auf ihr Klingeln.
Sie warteten darauf, dass die Signale im Haus verstummten.
»Ich höre das Baby!«, sagte Nykvist.
Sie hatte Angst. Sie hatte keine Angst. Sie hatte Angst. Sie .
»Das Auto ist seit drei Tagen nicht bewegt worden«, hörte sie den Seebär sagen. »Niemand hat die Post aus dem Briefkasten genommen.«
Wieder hörte sie das Baby schreien. Das Schreien scheint jetzt schwächer zu werden, dachte Nykvist. Es klingt, als käme es von dort. Sie ging zu einem Fenster einige Meter links von der Haustür. Von drinnen hörte sie das Kind. Sie wischte ein Guckloch in die zugefrorene Scheibe, spähte hinein, sah ein Gitterbett, etwas, das sich einige Meter tiefer im Zimmer bewegte. Das Zimmer musste direkt links von der Diele liegen.
»Wir gehen rein!«, rief sie Ivankovic zu.
Er brauchte fünfzehn Sekunden, um das Schloss zu öffnen. Das war eine sehr lange Zeit.
Sie betraten das Haus, Ivankovic als Erster, gefolgt von Nykvist. Sie ging sofort zu dem Kind, hob es aus dem Bett, alles war nass und heiß und kalt zugleich, alles war schlimmer, als es jemals gewesen war.
Ivankovic nahm den Geruch wahr, der sich aus den Türen tiefer im Flur auf ihn zu stürzen schien. Er kannte den Geruch, ein Gestank, aber er wollte es nicht wissen. Jetzt...
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