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Hatte Paula Ney den Brief an ihre Eltern, an Mario und Elisabeth, wirklich selbst geschrieben? Die Schrift war ähnlich, und im Augenblick mussten sie davon ausgehen, dass Paula Ney den Brief geschrieben hatte, doch eine genauere Analyse sollte es endgültig beweisen. Genauere Analysen wurden an allem vorgenommen, was sie im Hotelzimmer gefunden hatten, aber Winter konnte nicht still in seinem Zimmer sitzen und warten, während andere die Vorarbeit leisteten. Und die Hintergrundarbeit. Die Analysen würden irgendwann vorliegen. Doch er musste vom ersten Moment an über die vier großen Fragen nachdenken, die sich immer stellten, sofort. Was genau ist passiert? Warum ist es passiert, und warum gerade so? Wer könnte den Mord auf gerade diese Weise ausgeführt haben? Und welche Motive steckten dahinter?
Winter stand im Hotelzimmer. Vor dem »Revy« rumorte das städtische Leben, es murmelte hinter den zugezogenen Vorhängen. Er ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite, das Licht blendete ihn und die Geräusche wurden plötzlich lauter, als hätte jemand an einem Zentralschalter im Rathaus den Ton lauter gedreht.
Nur noch die wenigen Tage des Septembers, und die Wärme, die am Wendekreis des Krebses hängen geblieben war, war plötzlich nordwärts gedrückt worden. Jetzt war die Sonne auf dem Weg hinunter ins Bild des Steinbocks, und die Hitze lag schwer und drückend über dem Norden. Verrostete Grillgeräte wurden wieder hervorgeholt, und an den schwarzen Abenden brannten Feuer in den Gärten, in der feuchten Dunkelheit roch es nach Ruß, und Winter dachte an ferne Länder, da unten zwischen den Wendekreisen von Krebs und Steinbock. Die Tropen. Eines Tages würde er dorthin reisen, Thiruvananthapuram, Cochin, Madurai, Georgetown, Singapur, Padang, Surabaya.
In den Tropen gab es keine Schatten. Ein Mensch warf keinen Schatten, der floss durch den Körper und verschwand unter den Fußsohlen.
Winter blinzelte in dem überraschend hellen Licht, das von draußen hereindrang, drehte sich zurück zum Zimmer und wartete, bis die Konturen wieder deutlicher erkennbar wurden.
Das Zimmer schimmerte golden. Rotgolden. Wenn er blinzelte, waren die Flecken an der Wand nicht zu sehen. Einige dieser Flecken gehörten zum Tapetenmuster, andere waren später hinzugekommen.
Er trat an das Bett hinten an der Längswand und schaute zur Tür, auf der ein blumenartiges Muster war. Es sah aus, als hätte jemand ein Glas Rotwein gegen die Tür geworfen. Wein? Warum denke ich an Wein? Es sieht aus wie Tinte. Schwarz wie die Schrift in Paulas Brief. Ihrem Abschiedsbrief.
Das Zimmer war fast unverändert seit damals, als er zum ersten Mal hier gewesen war. Die Stille hing darin wie eine Erinnerung. Wie das große Gemälde an der Wand. Es gab keine weiteren Spuren. Keine weiteren Flecken. Das einzig Rote hier drinnen war das rote Gold, genauso falsch wie das Zimmer, das Hotel, das Viertel, manchmal diese ganze verdammte Stadt. Aber jetzt war es still im Zimmer, als würde die Absperrung auch alle Geräusche der Stadt aussperren.
Und doch hing es zusammen, gehörte alles auf eine Weise zusammen, die er noch nicht durchschaut hatte, es war, als starrte man auf einen Haufen Puzzleteilchen und wusste, dass sie alle zusammenpassten, nur wusste man noch nicht, wie.
Die schreckliche Botschaft in dem Brief war Teil einer umfassenderen Nachricht. Er kannte den Inhalt jetzt auswendig, ihre Worte. Sie handelten von Liebe, einer großen Liebe. Oder vom Gegenteil. Nein. Ja. Nein. Hatte sie unter Drogen gestanden? Hatte er ihr diktiert? Was schreibt man als letzte Worte? Wusste sie, dass es ihre letzten Worte sein würden? Nein. Ja. Nein. Ja.
Er gab das Fragen und Antworten auf und konzentrierte sich auf das Zimmer. Was hat sich hier abgespielt, kurz davor? Paula war hierher gekommen, aber Winter wusste nicht, ob allein oder zu einer Verabredung. Dem Mann unten an der Rezeption war nichts aufgefallen. Sie hatte sich nicht angemeldet, und niemand erinnerte sich daran, dass sie allein am Empfangstresen gestanden hätte. Wenn sie überhaupt dort gestanden hatte. Hier kamen und gingen die Leute, Frauen, Männer, Frauen und Männer. Selten Kinder. Hier gab es kein Spielzimmer. Keine Kinderstimmen, und Winter glaubte nicht, dass es sie jemals gegeben hatte. Solche Erinnerungen gab es hier nicht.
Der Mörder war hierher gekommen. Paula Ney hatte ihre letzten Worte auf das Briefpapier des Hotels geschrieben. Ein Relikt. Hatte der Mörder gewusst, dass es auf dem Hotelzimmer Briefpapier gab? Oder war der Brief das Ergebnis einer spontanen Idee? Paula hatte das Zimmer nicht mehr verlassen, nachdem sie es betreten hatte. Dessen war sich Winter ganz sicher. Hatte sie erst Stunden später, Stunden, nachdem sie es betreten hatte, den Brief geschrieben? Winter sah sich wieder um. Warum dies Zimmer? Warum dieses Hotel? Zimmer Nummer 10. Plötzlich musste er an Ellen Börge denken. Sie hatte eine Nacht hier gewohnt. In welchem Zimmer? Es musste in den Akten stehen. Winter sah die Akte vor sich, unten im Archiv, ein Archivexemplar, das nicht digitalisiert worden war, denn der Inhalt bezog sich auf einen Fall von vor 1995. Erst danach war das moderne Zeitalter angebrochen. Die Unterlagen über Ellen Börge trugen den Stempel »Kein Fahndungsergebnis. Fall wird niedergelegt«. Seit Winter die Papiere zuletzt in der Hand gehalten hatte, waren viele Jahre vergangen. Hatte in der Akte etwas über eine Voruntersuchung gestanden? Technisch gesehen konnte es keine Voruntersuchung gegeben haben. Winter erinnerte sich nicht mehr an alle Einzelheiten in der Akte. Plötzlich wollte er es wissen, so schnell wie möglich. Er holte das Handy aus der Brusttasche seines Leinenhemdes.
Janne Möllerström, der Kriminalinspektor der Registratur, meldete sich.
»Die Unterlagen über den Fall der vermissten Ellen Börge«, sagte Winter, »ich hab dir gestern davon erzählt.«
Ellen war lange, bevor Möllerström im Dezernat angefangen hatte, vermisst worden. Winter hatte ihm den Fall kurz geschildert.
»Mein Kurzzeitgedächtnis funktioniert noch ganz gut«, sagte Möllerström jetzt.
»Vierundzwanzig Stunden? Nennst du das eine kurze Zeit?«
»Haha.«
»Hast du die Unterlagen gefunden?«
»Ja, der Fall einer Vermissten, dokumentiert für die Nachwelt.«
»Ein Detail«, sagte Winter und starrte auf die nackte Wand oberhalb des Bettes. Keine Bilder. Aus der Nähe betrachtet, verschwamm das Tapetenmuster vor seinen Augen. »Kannst du herausfinden, in welchem Zimmer Ellen Börge im Hotel ›Revy‹ übernachtet hat?« Winter versuchte trotzdem das Tapetenmuster zu erkennen. »Ich stehe gerade im Ney-Zimmer.«
Winter schaute zum Fenster. Das Licht dort draußen war immer noch stark. Er hatte ein vages Gefühl von Déjà-vu, ein Gefühl des Unbehagens, wie eine beginnende Übelkeit. Es hing mit der Hausfassade auf der anderen Straßenseite zusammen. Den Kupferdächern. »Müsste irgendwo ganz am Anfang stehen«, sagte er.
»Wenn es überhaupt irgendwo steht.«
»Mensch, ich war doch selbst dabei.«
»Na dann.«
»Ruf mich sofort an, wenn du was gefunden hast.«
Winter drückte auf Aus und blieb mit dem Handy in der Hand stehen. Auf der anderen Straßenseite glitt das Sonnenlicht über die grünen Kupferdächer. Bis dorthin waren es nicht mehr als dreißig Meter. Plötzlich blitzte etwas auf wie ein kräftiger Scheinwerfer, als sich die Windfahne auf dem linken Dachfirst infolge eines Windstoßes drehte und ein Sonnenstrahl darauf fiel.
Winter wusste, dass es ein Hahn war, einer mit einem roten Kamm. Er hatte früher schon einmal hier gestanden, in einer anderen Zeit, einem anderen Leben. Einem jüngeren, unsichereren, offeneren Leben. Unfertig, noch unfertiger als jetzt.
Wieder meldete sich das Unbehagen in der Magengrube, als wollte es ihn an etwas erinnern.
In der Sekunde, als das Handy klingelte, spürte er das Vibrieren.
»Zimmer Nummer zehn«, sagte Möllerström. »Stand schon auf Seite zwei.«
»Ja.«
»Du scheinst nicht überrascht zu sein.«
»Ich hab gerade eben etwas wieder erkannt.« Winter sah zu, wie der Hahn herumschwang, eine Vierteldrehung machte und der Scheinwerfer erlosch. »Aber vielen Dank für die schnelle Information, Janne.« Winter drückte auf Aus und blieb mitten im Zimmer stehen.
Ein Zufall?
Natürlich.
Wie viele Zimmer hatte dieses stinkende Rattenloch?
Mehr als jemand wusste.
War Nummer 10 für allein anreisende Frauen ohne Begleitung? Der Eskortservice war sonst eine Spezialität des »Revy«. In seiner Karriere war er öfter hier gewesen. Prostitution, Rauschgift, Körperverletzung. Das »Revy« war wie ein alter angezählter Boxer, der sich bei neun immer wieder aufrappelte. Die Bude war stehen geblieben, als das gesamte Nordstan und die umliegenden Viertel von der Abrissbirne zermalmt wurden. Hatte man das Hotel aus nostalgischen Erwägungen verschont? Waren die Stadtplaner alte Kunden gewesen? In zwei Fällen verhielt es sich tatsächlich so, ein Stadtarchitekt und ein ehemaliges Gemeinderatsmitglied. Sozialdemokrat. Sie haben anderes abreißen lassen, abwechselnd Schönes und Hässliches, aber das »Revy« durfte stehen bleiben. Der Stadtarchitekt genehmigte Neubauten auf den Grundstücken, wo der Gemeinderat hatte sprengen lassen. Vielleicht hatten sie ihre Pläne im Bordell geschmiedet, die zwei alten Gangster. Hin und wieder begegnete Winter dem Sozi in der Stadt, er ging jetzt am Stock und dachte vermutlich immer noch mit seinem Schwanz. Er hatte so einiges auf dem Kerbholz, schien aber stets guter Laune zu sein.
Das »Revy« war stehen geblieben, bis...
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